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Kirchliches

Grußwort im Dilemma

Grußwort als theologischer Ortsdezernent
zur Kreissynode des Ev. Kirchenkreises Herford
am 19.03.2022 (hier als Video online)

Hohe Synode, liebe Schwestern und Brüder in und um Herford,

gleich zu Beginne einmal tue ich das, was so ein Grußwort der Wortbedeutung nach tut: Ich grüße Sie herzlich von Präses Kurschus und dem juristischen Ortsdezernenten Thomas Heinrich.

Normalerweise würde ich in meinem Grußwort fortfahren und sagen, wie sehr ich mich freue, heute zu Ihnen sprechen zu können.

Ich gestehe: Heute am 19. März 2022 ist mir gar nicht so sehr danach zumute. Vor genau einem Jahr lag die Corona-Inzidenz bei 96. Heute bei 1735. Also 20mal so viel. Und ab morgen gilt ein Infektionsschutzgesetz, mit dem der Bund so gut wie alle Vorsichtsmaßnahmen komplett aufhebt. Wie wird das werden?

Und vor allem: Seit drei Wochen ist Krieg. Heute morgen hat die EU-Kommission angesichts der anhaltenden Kämpfe in der Ukraine vor einer Hungersnot gewarnt und von „apokalyptischen Zuständen“ gesprochen. Wie wird das werden?

Alles kein Grund zur Freude. Wir haben das ja gerade auch in der Morgenandacht gehört. Mir geht es da ähnlich:

Meine friedensethischen Überzeugungen sind mir aus der Hand geschlagen bzw. gebombt worden: Wandel durch Handel, Wandel durch Annäherung, Frieden schaffen nur ohne Waffen. Das geht gerade in Mariupol und in Charkiw und in Kiew unter. Der Ukraine helfen keine Pflugscharen. Ich bin aber auch nicht bereit, zu akzeptieren, dass Gewalt und Gegengewalt die einzige Lösung sind. Ich verstehe und unterstütze, dass die Bundeswehr mehr Geld braucht und robuster ausgestattet werden muss. Aber ich könnte auch nicht jubelnd aufspringen und die 100 Milliarden Sondervermögen des Bundes für militärische Aufrüstung beklatschen.

Ich befinde mich in einem Dilemma. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Und ich vermute, das geht manchen von Ihnen ähnlich.

Vielleicht bleibt mir aktuell nur noch ein Sprachmodus. Das Gebet. Unsere Gebete machen –mehr als alle klugen theologische Abhandlungen – deutlich, welche Hoffnung wir auf Gott setzen, was wir von ihm erwarten und ihm zutrauen. In unseren Klagen wie in unseren Bitten und Fürbitten trauen wir Gott etwas zu, deshalb wird nicht nur geklagt, sondern auch um ein Ende der Not gebetet. Ich lasse Gott da nicht raus!

Mit der Klage wagen wir mit Gott zu ringen. Indem das Elend Gott geklagt wird, gibt es einen Adressaten angesichts des Leides, das nicht stoisch, gelassen oder stumm hingenommen werden muss. Ich will das Leid in der Ukraine nicht hinnehmen, sondern beklagen. Genauso wenig wie die Tode durch Corona. Wir wissen: Ein Verstummen in der Not ist problematisch, manchmal verschärft es psychische Krisen oder es bricht als Suche nach Sündenböcken aus uns Menschen heraus. Das kann problematische Folgen haben, in der Pandemie etwa durch Verschwörungsmythen und auch einen neuen Antisemitismus in Teilen der sog. „Querdenker-Szene“. Im Ukraine-Krieg etwa dadurch, dass nun alle Russen als Bösewichter angesehen werden. Das ist natürlich falsch und Unsinn. Wir hören an vielen Stellen derzeit von Streitigkeiten zwischen Ukrainern und Russlanddeutschen, auch hier in Westfalen. Meine Bitte an Sie: zeigen Sie ihren russlanddeutschen Gemeindegliedern, dass sie zu uns gehören – und dass Sie differenzieren können zwischen ihnen und Putins Elite. „Die Russen“ gibt es nicht.

In den biblischen Klagen findet sich fast immer am Ende ein gleichsam vorweggenommenes Lob Gottes. Die Losung für den heutigen Tag ist so ein Fall: In Jona 2,7 steht:

Du hast mein Leben aus dem Verderben geführt, HERR, mein Gott!

Das ist das Gebet, das Jona zu Gott spricht, als er mitten im Bauch des großen Fisches steckt. Und das mit den Worten beginnt „Ich rief zu dem Herrn in meiner Angst.“

Wenn wir während des Krieges und der Corona-Zeit Gott anrufen in unserer Angst, dann können wir trotz und gerade in dieser Zeit Gott danken, etwa dafür, wie Menschen durch den Gebrauch der Vernunft Gegenmittel (also Impfstoffe) gegen die Pandemie entwickelt haben. Wir dürfen Gott loben für die Hilfsbereitschaft von Menschen in Deutschland und anderswo, die ukrainische Flüchtlinge aufnehmen, Geld spenden, für den Frieden demonstrieren. Vielen Dank an Sie im Kirchenkreis Herford, dass Sie das bereits tun. Gestern habe ich mit Landrat Müller telefoniert, der mir berichtet hat, dass er dazu in gutem Kontakt mit dem Kirchenkreis steht.

Hohe Synode, liebe Schwestern und Brüder in und um Herford,

Sie haben wie immer ein volles und hochinteressantes Programm auf der Kreissynode. Gestern war ich bei der Kreissynode im benachbarten Kirchenkreis Vlotho, deshalb konnte ich den Vortrag von Frau Pohl-Patalong nicht live miterleben. Ich bin aber froh, dass ich das online nachschauen kann, denn das Thema ist ja so wichtig: Wie können wir die Kirche heute so gestalten, dass wir in 20 Jahren immer noch Gestaltungsmöglichkeiten haben?

Die entsprechenden Themen stehen bei Ihnen auf der Tagesordnung:

Personalplanungsräume für den Pfarrdienst / Interprofessionelle Pastoral-Teams / Verantwortlicher Umgang mit Finanzen / Ein gutes Verhältnis von Kirche und Diakonie / Ein hilfreich arbeitende Verwaltung / Ein funktionierendes IT-System / Strukturen für eine Kirchenmusik zum Lobe Gottes

Kirchenmusik. Ich muss und will zum Schluss auf diesen Punkt noch besonders zu sprechen kommen. Superintendent Reinmuth hat gestern abend im Zusammenhang mit dem Bericht zur Einrichtung des Kreiskantorats darauf hingewiesen, dass die Kirchenleitung am Donnerstag eine Entscheidung in der Standortfrage der Hochschule für Kirchenmusik getroffen hat. Die beiden Standorte der Hochschule sollen an einem Standort auf dem Campus der Evangelischen Hochschule in Bochum zusammengeführt werden. Zeitliches Ziel ist 2025.

Die Kirchenleitung hat es sich nicht leicht gemacht mit dem Entschluss, weil viele Faktoren eine Rolle gespielt haben. Keine der zur Wahl stehenden Varianten ist ohne Nachteile zu haben. Ich bin froh, dass die Variante mit dem größten Nachteil nicht beschlossen wurde: Die komplette und ersatzlose Schließung beider Standorte stand bis zuletzt ernsthaft zur Diskussion. Und deshalb bin ich froh darüber, dass die Kirchenleitung so beschlossen hat, wie sie es getan hat. Denn ich kann mir Kirche ohne Kirchenmusik und die Ausbildung von Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusikern nicht vorstellen.

Aber jede Medaille hat zwei Seiten: Auf der anderen Seite dieser Standortentscheidung stehen die Kosten, die sie mit sie bringt – die aber auch bei der Fortführung der beiden bisherigen Standorte entstanden wären. Und auf der anderen Seite steht auch der Verlust für den Kirchenkreis Herford und die Region Ostwestfalen. Das sehe ich deutlich und das hat die Kirchenleitung gesehen – das war ja einer der Gründe, warum es mit der Entscheidung so lange gedauert hat. Superintendent Reinmuth hat gestern davon gesprochen, dass er das bitter findet. Und ich vermute, dass das vielen von Ihnen ähnlich geht. Wir haben für den heutigen Vormittag vereinbart, dass eine Aussprache zu dem Thema im Zusammenhang mit seinem Superintendentenbericht erfolgen soll. Ich werde auch dabei sein.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche gute Beratungen und über allem Gottes Segen.

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Humoriges Persönliches

#bänketesten

Endlich enthüllt:
das Bankgeheimnis

Aus der Printausgabe – UK 05 / 2022

Gerd-Matthias Hoeffchen | 28. Januar 2022

Ob in Kirchen, am Wanderweg oder auf Friedhöfen: Die Bank hat es dem Menschen angetan. #bänketesten!

Plötzlich war die Idee da. „Bänke! Die werden total unterschätzt.“ Es war in den ersten Monaten des Lockdowns. Vicco von Bülow, im Beruf Landeskirchenrat der Evangelischen Kirche von Westfalen, daheim Vater von Kindern, die beschäftigt werden wollten, war viel unterwegs. Spazieren. Wandern. „Rausgehen war gut“, erzählt von Bülow. Frische Luft, austoben, keine Viren – „mit den Kindern haben wir die Umgebung noch mal ganz neu entdeckt“.

Und irgendwann passierte es. Verschnaufpause. Eine Bank im Wald. „Hey, hier sitzt man echt gut!“, meldete sich der Jüngste lautstark zu Wort, „dafür gebe ich sieben von zehn Punkten.“ Alle grinsten. Die Idee des „Bänke testen“ war geboren.

„Seitdem haben wir bei unseren Touren ganz anders auf Bänke geachtet“, erzählt Vicco von Bülow. Irgendwann postete der Familienvater dann auch auf Instagram ein Foto von sich auf so einer Bank – und war perplex, wieviele Rückmeldungen es gab. „,Tolle Bank. Wo steht die? Was machst du da?‘ Da merkte ich, dass Bänke offenbar etwas auslösen.“

Und so veröffentlichte Vicco von Bülow in der Folgezeit weitere Fotos von Bänken. Und gebrauchte dabei einen Kniff, der in den sozialen Medien des Internet große Wirkung zeigt: In der Bildzeile zu jedem Foto setzte er das Doppelkreuz #. Und gleich dahinter das Wort „bänketesten“. Die Kombination mit dem # („hashtag“ auf englisch) sorgt dafür, dass fortan alle Beiträge auf einer gemeinsamen Seite zusammengeführt werden – egal, wer sie veröffentlicht oder wo das geschieht. Hauptsache, der Text enthält das Wort #bänketesten.

Eine Aktion war geboren. Und viele machen seitdem mit.

Zum Beispiel Burkhard Leich. „Ich fand die Idee witzig.“ Der Diplompädagoge aus Herford ist viel mit dem Fahrrad unterwegs, und er fotografiert leidenschaftlich gerne. „Als ich von der Aktion hörte, dachte ich mir: Klar, da bin ich dabei.“ Was ihm daran so gefällt? „Die Sache hat eine Leichtigkeit. Eine Unbeschwertheit.“

Es muss eben nicht immer alles einen ganz tiefen Sinn haben. Manchmal dürfen Dinge einfach auch nur Spaß machen. Und so finden sich unter dem hashtag #bänketesten seit Anfang 2021 immer mehr Fotos von Bänken. Vor Kirchen. In Kirchen. In Parks. Auf Friedhöfen. Fußgängerzonen. Oder auch vom Urlaub an der Nordsee. Bänke stehen halt an vielen Orten herum.

Aber: Bänke sind nicht nur fast überall verfügbar. Sie sind – bei näherer Betrachtung – auch faszinierend.

Zum Beispiel für Politikerinnen und Politiker. Als die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel den US-Präsidenten Barack Obama empfing, musste eines der offiziellen Pressefotos sein: die beiden auf einer Bank im Grünen. Ähnlich kürzlich noch Friedrich Merz und Markus Söder. Die Bank strahlt Ruhe aus, steht für: Kraft tanken; sie symbolisiert Nähe und Bodenständigkeit. Anders als ihre aufgehübschten Geschwister Sofa und Couch geizt die Bank mit Komfort und bietet stattdessen klare Kante und Konzentration auf das Wesentliche: Halt geben. Neue Kräfte verleihen.

Wohl nicht von ungefähr spricht man auch von einer „sicheren Bank“. Das kann übertragen gemeint sein (so kann etwa ein zuverlässiger Fußballspieler als „sichere Bank“ bezeichnet werden). Aber auch ein Finanzinstitut kann eine „sichere Bank“ sein. Tatsächlich haben beide, Sitzmöbel und Geldhaus, nicht nur den gleichen Namen (Tipp fürs Teekesselchen-Spiel!), sondern die gleiche Wortherkunft: „Bank“ meinte ursprünglich den Sitz und auch den Tisch, über den das Geld gewechselt wurde.

Eine ganz sichere Bank gibt es auch in der Kirche. Mag mancherorts das alte Holzgestühl auch durch flexiblere Einzelsitze ersetzt worden sein: Ganz überwiegend gehört die Kirchenbank zum Gotteshaus fast genauso dazu wie das Amen in der Kirche.

Allerdings war das nicht immer so. Im Grunde sorgte erst die Reformation dafür, dass sich die Bank in der Kirche durchsetzte: Als die Protestanten plötzlich die Wortverkündung in den Mittelpunkt des Gottesdienstes stellten, die Ansprachen nicht mehr in Latein hielten, sondern in der üblichen Landessprache, da musste die Gemeinde mit einem Mal zuhören. Und zwar zum Teil recht lange. So kamen die Bänke in die Kirche. In der römisch-katholischen Messe dagegen standen und knieten die Menschen dagegen noch recht lange. Bis auch hier die Bank sich durchsetzte – praktischerweise mit einem extra Niederkniebrett. Das gibt es bis heute.

Die Bank: eine echte Erfolgsgeschichte. Die Menschen lieben sie. Sie brauchen sie. Egal, wo man hinkommt: Die Bank ist meist schon da.

Also: Nicht auf die lange Bank schieben! Sondern mitmachen! Schauen Sie demnächst genauer hin, wenn Sie an einer Bank vorbeikommen.

Machen Sie vielleicht sogar ein Foto davon, wenn sie Ihnen gefällt. Und posten Sie sie auf Instagram oder Facebook mit dem hashtag #bänketesten.

Und wenn Sie das nicht wollen oder können: Schicken Sie Ihr Foto an uns, die UK-Redaktion, gemeinsam mit ein paar kurzen Angaben zu sich und der Bank. Wir werden die Fotos dann gern für Sie im Internet veröffentlichen.

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Wissenschaftliches

Kirchliche Zeitgeschichte _evangelisch

Eine Rezension.

Siegfried Hermle / Harry Oelke (Hg.), Kirchliche Zeitgeschichte _evangelisch.
Bd. 1: Protestantismus und Weimarer Republik (1918-1932) (CuZ 5), Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2019.
Bd 2.: Protestantismus und Nationalsozialismus (1933-1945) (CuZ 7), Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2020.
Bd. 3: Protestantismus in der Nachkriegszeit (1945-1961) (CuZ 9), Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2021.

Kirchliche Zeitgeschichte hat sich spätestens seit den 1990er Jahren unter diesem Begriff als zentrale Epoche der Kirchengeschichtsforschung etabliert. Sie bezeichnet die bis in unsere Gegenwart reichende Geschichtsperiode, für die es noch lebende Zeitzeug:innen gibt. Deshalb ist ihre Kenntnis vielfach besonders erhellend für die Gegenwart der Kirche.

Die von der Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte herausgegebenen drei Bände zur „Kirchlichen Zeitgeschichte_evangelisch“ bündeln handbuchartig die vorliegenden vielfältigen Einzelstudien. Sie beginnen mit der evangelischen Kirche in der Weimarer Republik, behandeln „die äußerst ambivalente Haltung des Protestantismus in der Zeit der NS-Herrschaft“ und die Kirchengeschichte der Nachkriegszeit bis 1961.  Ein vierter Band bis zum Jahr 1991 soll die Darstellung abrunden, dann auch hoffentlich mit einem ausführlicheren Blick über die Bundesrepublik hinaus auf die Kirchliche Zeitgeschichte in der DDR. Die Konzentration auf die evangelische Kirche wird im Titel vorgegeben, die Beschränkung auf die evangelischen Kirchen in Deutschland wird nur in den jeweiligen Kapiteln zu den ökumenischen Beziehungen durchbrochen.

Wer sich über die Geschichte der Kirche(n) im 20. Jahrhundert informieren, wer gut lesbare und fachlich fundierte Beiträge lesen, wer schnell bestimmte Themen in kompetenter Darstellung nachschlagen will – der wird hier fündig.

17 durchweg im Fachgebiet ausgewiesene Autor:innen behandeln die wichtigsten Themen der jeweiligen Zeit. An einzelnen Punkten werden persönliche Schwerpunkte gesetzt, insgesamt aber dominiert das Bestreben, den erzielten Forschungsstand möglichst objektiv wiederzugeben. Das Leitinteresse ist dabei die gesellschaftliche Vernetzung des Protestantismus. Zumeist wird diese Vernetzung eher institutionengeschichtlich als biographisch aufgezeigt, eher kirchenpolitisch als theologiegeschichtlich.

Für die „Gesamtschau“, also den einleitenden Überblicksartikel, zeichnet in allen drei Bänden der Münchener Kirchenhistoriker Harry Oelke in souveräner Weise verantwortlich. Lesenswert sind die Beiträge zu „Protestantismus und Politik“ von Claudia Lepp (der Leiterin der Forschungsstelle der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte) und zu „Kirchlicher Ordnung und Strukturen“ von Karl-Heinz Fix (Mitarbeiter an der Forschungsstelle). Fix zeigt auf, wie die scheinbar trockene Materie des rechtlich-organisatorischen Rahmens für das Verständnis der Kirche in Zeitgeschichte und Gegenwart fruchtbar gemacht werden kann. Die theologischen Signaturen der jeweiligen Phasen werden von unterschiedlichen Autoren nachgezeichnet: für die Weimarer Republik ist dies der Münchener Systematische Theologe Reiner Anselm, für die Zeit des Nationalsozialismus Alf Christophersen (Universität Wuppertal) und für die Nachkriegszeit der Münsteraner Professor für Theologische Ethik Arnulf von Scheliha.

Weitere westfälische Autor:innen komplettieren das Bild: Antje Roggenkamp, Praktische Theologin und Religionspädagogin (Münster), verschafft einen Überblick zum Bereich „Bildung“ in der Weimarer Republik und der Nachkriegszeit. Der ursprünglich westfälische Kirchen- und Religionsgeschichtler Andreas Müller (Kiel) schreibt kundig über die ökumenischen Aspekte des Protestantismus in den Jahren 1933-45.

Für die Geschichte der Diakonie ist Nobert Friedrich (Vorstand der Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth) einschlägig qualifiziert – von ihm stammen deshalb auch die entsprechenden Beiträge der drei Bände. Gleiches gilt für Siegfried Hermle, den jüngst emeritierten Kölner Kirchenhistoriker, der das Verhältnis von „Christen und Juden“ in diesen Jahrzehnten darstellt und in seinen durchaus problematischen Teilen auch bewertet.

Weitere Abschnitte behandeln die Themenbereiche „Gesellschaftliche Herausforderungen“, „Protestantische Milieus und Gruppen“ sowie „Kultur“.

Die drei Bände sind jeweils mit einem Literaturverzeichnis und einem Personenregister versehen; wünschenswert wären darüber hinaus Sach- und Ortsregister gewesen. Vielleicht könnte dies mit dem zu erwartenden vierten Band für das Gesamtwerk nachgeholt werden, um die Übersichtlichkeit und Nutzbarkeit des inhaltlich überzeugenden Handbuchs noch weiter zu verbessern. Die Lektüre lohnt aber auch jetzt schon.

Erschienen in: Kirchliches Amtsblatt der Evangelischen Kirche von Westfalen Nr. 1/2022 vom 31. Januar 2022, S. 5-6.

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Kirchliches

Mütend

Predigt am 26. Dezember 2021 (2. Weihnachtsfeiertag) in der Ev.-Luth. Kirchengemeinde Martini-Gadderbaum in Bielefeld
(hier nachzuhören)

Liebe Gemeinde,

seit 1977 legt die Gesellschaft für Deutsche Sprache das „Wort des Jahres“ vor. Und wenn man sich diese Worte so im Rückblick anschaut, dann sind sie oft ein Spiegel der Geschichte dieser Jahre. Ein paar Beispiele aus den letzten 20 Jahren:
1999: Millenium – das neue Jahrtausend weckt Hoffnungen und Befürchtungen.
2005: Bundeskanzlerin – zum ersten Mal steht eine Frau der Bundesregierung vor.
2006: Fanmeile – bei der Fußballweltmeisterschaft ist die Welt zu Gast bei Freunden.
2008: Finanzkrise – der Zusammenbruch einer Immobilienbank stürzt die Finanzwirtschaft der ganzen Welt ins Chaos.
2015: Flüchtlinge – die Bundeskanzlerin sagt „Wir schaffen das!“
2020: Coronapandemie – das Virus ist da.

Und dann in diesem Jahr? Erinnern Sie sich, welches Wort Anfang Dezember gekürt wurde?
2021 war es –  Wellenbrecher
Die Begründung: „Das Wort steht für alle Maßnahmen, die getroffen wurden und werden, um die vierte Corona-Welle zu brechen.“

Tja, das war wohl nix. Entweder haben wir die vierte Welle gar nicht gebrochen. Oder die vierte Welle war gar nichts gegenüber der fünften, die mit der Omikron-Variante bevorsteht. Inzwischen wird ja schon ganz offen darüber gemunkelt, dass im Januar wieder ein ernsthafter Lockdown über unsere Gesellschaft verhängt wird. Mit Schulschließungen und allem, was dazu gehört.

Wissen Sie, was mein Wort des Jahres ist? „Mütend“. Das bin ich nämlich: „müde“ und „wütend“ zugleich – eben „mütend“. Müde bin ich von dem ganzen Hin und Her, dem Auf und Ab, den Hoffnungen und Enttäuschungen. Das strengt an. Und wütend bin ich. Auf dieses blöde Virus, das unsere Welt überzogen hat und einfach nicht gehen will. Und wütend auf die, die meinen, dass man dem Virus ohne medizinische Vernunft begegnen kann. Die das Impfen verweigern und damit nicht nur sich, sondern auch andere gefährden. All das macht mich „mütend“. Dieses Mütendsein ist schon eine eigentümliche Erfahrung. Aber ich glaube, ich bin nicht der einzige, der sie gemacht hat.

Nicht der einzige hier im Raum, nicht der einzige in unserer Gesellschaft, aber auch nicht in der Geschichte. Und auch nicht in der Bibel. Im heutigen Predigttext sind auch Menschen mütend. 

Jesaja 7,10-14
10Und der Herr redete abermals zu Ahas und sprach: 
11Fordere dir ein Zeichen vom Herrn, deinem Gott, es sei drunten in der Tiefe oder droben in der Höhe! 
12Aber Ahas sprach: Ich will’s nicht fordern, damit ich den Herrn nicht versuche.
13Da sprach Jesaja: Wohlan, so hört, ihr vom Hause David: Ist’s euch zu wenig, dass ihr Menschen müde macht? Müsst ihr auch meinen Gott müde machen? 
14Darum wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel.

Ahas war König von Juda einige Jahre vor dem Jahr 700 v. Chr. Der Dialog zwischen ihm und dem Propheten Jesaja findet statt in einer Situation, in der er festsaß in seiner Stadt Jerusalem. Belagert wird seine Stadt von zwei feindlichen Heeren. Es ist nur noch eine Frage der Zeit und er würde alles verlieren, seine Macht, sein Reich, sein Leben. Wer sollte ihm jetzt noch helfen? Vielleicht die mächtigen Assyrer. Die sind stark, die könnte er um Hilfe bitten, die würden kommen und ihn retten. Gut, er müsste den assyrischen Göttern opfern, seinen Tribut zahlen. Aber der Entschluss stand für ihn fest. Wenn es keinen anderen Weg gibt, gibt es keinen anderen Weg.

Nervig, dass da dieser Jesaja kommt. Der meint, die beiden Feinde vor der Stadt wären nur rauchende Scheite, die bald von verglühen würden. Keine Ahnung vom Militär, dieser Prophet. Und jetzt steht er schon wieder vor ihm und hat angeblich eine Botschaft von Gott für ihn: „Es wird dieses Mal gut ausgehen. Es wird Euch nichts passieren. Und damit Du das auch glauben kannst, König Ahas, darum gebe ich Dir ein Zeichen. Du darfst Dir eins wünschen. Aus der Tiefe oder aus der Höhe, ich hole Dir auch die Sterne vom Himmel.“

Aber Ahas will nicht. Er sagt, er will Gott nicht auf die Probe stellen. Aber eigentlich ist er auch einfach nur müde. Müde vom Regierungsgeschäft. Müde von den Feinden vor der Stadt. Wütend auf sie und auf das Gemecker der Leute auf den Straßen seiner Stadt. Er wimmelt Jesaja ab.

Und da lässt der Prophet Ahas seinen ganzen Frust spüren: „Ist’s euch zu wenig, dass ihr Menschen müde macht? Müsst ihr auch meinen Gott müde machen?“ Jesaja ist mütend. Unverbesserlich ist er, dieser Ahas. Wie sehr man auch auf ihn einredet. Selbst wenn man freundlich zu ihm ist, wenn man ihm alles möglich machen will, ihm die tollsten Zeichen anbietet, bleibt er verschlossen und verbohrt. Wut steigt in ihm auf und gleichzeitig diese Müdigkeit. Und nicht nur bei ihm. Das ganze Volk hat dieser König mütend gemacht. Jesaja wirft ihm das vor. Und noch mehr: „Willst Du auch Gott mütend machen?“ fragt er ihn. Willst Du, dass Gott so genervt ist von Deinem Unglauben, dass Gott selbst müde von Deinen Ausreden wird? Und dass er dann richtig wütend auf Dich wird? Dich bestraft und uns, das Volk Israel, gleich mit?

Das ist für mich ein neuer Gedanke beim Nachdenken über den Text geworden. Gott selbst kann auch müde werden, vielleicht sogar mütend. So wie ich. Haben Sie das schonmal gedacht?

Siehe, der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht“, heißt es ja eigentlich in Psalm 121,3.

Aber Gott hat doch viel mehr um die Ohren als unsereins. Eine ganze Welt, einen ganzen Kosmos. Pflanzen und Tiere, Erde und Meer, und obendrauf noch uns Menschen alle. Die Guten. Und die Bösen. Die seinen Rat überhören, kein Zeichen von ihm wollen. Und manchmal macht ihn das vielleicht müde. Das alles Viele. Und das alles Böse macht ihn wütend dazu. Wenn Gott Mensch geworden ist, dann kennt er vielleicht auch so ganz menschliche Gefühle wie das Mütend-Sein.

Aber Jesaja gibt mir Hoffnung, dass es nicht dabei bleibt.
Wenn wir nicht mehr rauskommen aus unserem Mütend-Sein – Gott rappelt sich auf. Wenn wir nicht mehr wollen – Gott will. Und nimmt uns mit. Ahas wollte kein Zeichen von Gott. Aber Gott hat ihm von sich aus ein Zeichen gegeben, erzählt Jesaja: „Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel.

Eine schwangere Jungfrau mit einem Sohn, dessen Name „Immanuel“ heißt, dass Gott bei uns ist. Den Satz kennen Sie, nicht wahr?

Der steht in der Evangeliums-Lesung für den heutigen Tag (Matthäus 1,18-25). Der Evangelist Matthäus ist offensichtlich als gläubiger Jude aufgewachsen. Und deshalb kannte er natürlich den Propheten Jesaja. Und wusste, dass dieses Prophetenorakel ganz bekannt war. Obwohl, oder vielleicht auch weil niemand so genau wusste, wer denn dieser Sohn sein sollte, von dem Jesaja da orakelt hatte. Vielleicht der Junge, der als zufälligerweise nächstes in Jerusalem geboren werden würde? Oder das Kind der Frau von Jesaja selbst? Dazu würde ja der sprechende Name Immanuel passen, denn Jesaja hatte seinen anderen Kindern auch sprechende Namen gegeben. Oder sollte die Frau des Königs Ahab einen Sohn bekommen, ihn Immanuel nennen und so ihren Mann davon überzeugen, dass Gott weiterhin auf seiner Seite steht? Die meisten Bibelausleger heutzutage denken, dass das die historisch wahrscheinlichste Variante ist.

Matthäus denkt: Jesus von Nazareth ist der Immanuel. Dass Gott seinen Sohn auf die Erde schickt, ist das deutlichste Zeichen, dass er weiterhin auf unserer Seite stehen will. Und weil Matthäus davon überzeugt war, dass der Gott des Jesaja und das Ahas auch sein Gott war, dass dieser Gott auch der Vater Jesu war, erschien ihm das ganz einleuchtend.

Und wahrscheinlich hat Matthäus auch kein Problem damit gehabt, dass in seiner griechischen Bibelübersetzung (der Septuaginta) die Mutter des Immanuel eine Jungfrau war. Das war eben nur ein besonderes Zeichen für die wirklich wunderbare, also ganz göttliche Herkunft des Kindes – und deshalb war Maria, die Mutter Jesu, auch eine Jungfrau.

Uns heute kommt das nicht mehr so leicht über die Lippen: „Eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären.“ Das halten wir biologisch für ziemlich unmöglich. Und deshalb freuen wir uns, wenn wir entdecken, dass im hebräischen Urtext gar nicht „Jungfrau“, sondern „junge Frau“ steht. Das kommt unserem naturwissenschaftlichen Weltbild entgegen. Eine junge Frau wird schwanger, und ihr Kind wird zum Zeichen dafür, dass Gott mit uns ist.

Ein Kind als Zeichen dafür, dass Gott mit uns ist. Das steht im Zentrum des Wunders von Weihnachten.

Weihnachten ist ja ein Fest der Zeichen, das unsere Augen auf das Wunder der Geburt Gottes im Menschen lenken sollen. Geschenke, liebevoll ausgewählt und verpackt, Zeichen der Liebe. Wunderbare gedeckte Festtafeln, bereit für gute Gespräche und Begegnungen. Engel am Weihnachtsbaum, die die Botschaft vom Frieden auf Erden in unsere Wohnzimmer bringen. Aber bevor das jetzt zu kitschig wird – es gibt neben diesen Zeichen natürlich auch andere. Geschenke, die offenbaren, dass der andere gerade nichts mit uns anzufangen weißt. Tante Milla, die sich lauthals am Tisch darüber aufreget, dass die geklöppelte Weihnachtsdecke ihrer Mutter nicht aufliegt, das Besteck falsch angeordnet ist und die Kinder offensichtlich nicht gelernt haben, dass man Kartoffeln nicht mit einem Messer schneidet. Und auch wenn Sie keine Tante Milla zu Besuch hatten, dann wissen Sie, dass man sich auch innerhalb der Familie mit immer den gleichen Streitereien, Schubladen und Witzigkeiten mütend machen kann.

Auch 2021 brauchen wir das Weihnachtswunder, um uns aus unserem Mütendsein zu befreien. Wir brauchen den Glauben, der Mut macht, mit dem Wunder zu rechnen. Wir brauchen die Gabe, uns vorstellen zu können, dass etwas Außergewöhnliches geschehen kann, etwas, das außerhalb unserer jetzt machbaren Möglichkeiten seht.

Das Immanuel-Zeichen macht uns inmitten der vielen anderen Zeichen deutlich: Gott ist mit uns. Auch 2021. Vielleicht gerade jetzt.

Wo Gott in einem Menschenkind geboren wird, da wird etwas heil.
Heil werden, nicht müde werden, das Wunder zu erwarten. Auch wenn das Kind nicht mehr göttlich aussieht, wenn es anfängt zu quengeln, Blödsinn macht und beginnt, die falschen Spiele der Erwachsenen mitzuspielen. Auch wenn das Mütendsein in der Gesellschaft sich immer weiter ausbreitet, so dass es manchmal wirklich um Verzweifeln ist.

Heil werden, nicht müde werden, das Wunder zu erwarten, dass Gott sich im Menschen in diese allzu menschliche Welt begibt. Dass es heilsame Begegnungen gibt mit anderen Menschen, auch mit den Tante Millas dieser Welt. Und dass uns in dem einen oder anderen Menschen Gott begegnet.

Am besten wäre es, „Immanuel“ wäre das Wort des Jahres 2021.
Immanuel. Gott ist mit uns. Hier in Martini-Gadderbaum. Und heute am 2. Weihnachtsfeiertag.

So sei es.
Amen.

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Humoriges Kirchliches

Die spinnen, die Römer!

„Die spinnen, die Römer!“

Den Satz wollte ich immer schon mal in einer Andacht unterbringen. Gut, dass ich kein Ökumene-Dezernent bin.

Und der Satz ist ja auch gar nicht anti-ökumenisch, weil er gar nicht auf die römisch-katholische Kirche bezogen ist. Sondern – Sie werden es alle erkannt haben – „Die spinnen, die Römer“ ist natürlich ein Zitat aus den Asterix-Comics. Meistens sagt ihn Asterix‘ dicker Freund Obelix (nein, der ist natürlich gar nicht dick!), aber er ist auch darüber hinaus irgendwie zum geflügelten Wort geworden.

Ich bin seit meiner Jugend ein großer Fan der Gallier, die von den Franzosen Goscinny und Uderzo erfunden wurden – und seit meinem ersten Heft „Die Trabantenstadt“ freue ich auf jedes neue Heft. Nach einem kleinen Hänger zwischendurch gilt das besonders, seitdem Jean-Yves Ferri und Didier Conrad das Ruder übernommen bzw. die Feder in die Hand genommen haben.

So auch Ende Oktober dieses Jahres. Da erschien Band 39: „Asterix und der Greif“. Asterix, Obelix, Miraculix und Idefix machen sich auf nach Asien ins Barbaricum zum Volk der Sarmaten, um den sagenumwobenen Greifen zu finden. Sie haben sich aber nicht alleine auf den Weg gemacht. Mit auf dem Weg nach Osten sind auch die Römer, die ja bekanntlich spinnen. Während die Gallier auf ihrem dreispännigen Schlitten nur leichtes Gepäck dabei haben, sind die römischen Legionäre unter ihrem Zenturio Brudercus so wohl organisiert, wie es international bekannte Institutionen wie die Armee Roms nun einmal sind. Angekommen im Barbaricum, schlagen sie erst einmal ihr Lager auf – auch um den Barbaren zu zeigen, was römische Architektur ist. Und dann schreit Brudercus: „An die Arbeit! Ich will ein Provisorium, das Bestand hat!

Ja, habe ich mir da gedacht: Das kenne ich. Ein Provisorium, das Bestand hat. Das gibt’s auch heute noch. Ist das nicht auch die Kirche, der ich angehöre, für die ich arbeite, für die wir arbeiten? Ist das nicht ein Thema der Bibel von ihren Anfängen an? Abraham verlässt sein Vaterhaus und zieht ins Unbekannte. Das Volk Gottes wohnt in provisorischen Zelten. Gott selbst wohnt mit seinen Geboten in einem Zelt, das mit dem Volk zieht. Der spätere Tempelbau ist sehr umstritten. Die Propheten kritisieren, wenn das Volk sich darauf ausruht, sesshaft zu werden. Dennoch: Sie bauen ihre Häuser, ihre Straßen, ihre Brunnen, ihre Märkte. Sie bauen ihre Stadt und suchen dieser Stadt Bestes. Sie richten sich ein.

Jesus macht sich ebenfalls auf ins Provisorium. Er verlässt die Zimmerwerkstatt seines Vaters und wird Wanderprediger. Die Füchse wissen, wo sie sich abends schlafen legen, er weiß es nicht. Seine wandernde Existenz ist Ausdruck seiner Haltung. Sein Leben ist Bewegung, Aufbruch. Nach seinem Tod brechen die Jünger auf und erzählen in Jerusalem, in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde von ihm. Paulus und andere Apostel gründen christliche Gemeinden in Galatien, in Korinth, in Rom. Am Anfang wurden diese frühen Christen „Anhänger des Wegs“ genannt.

Aber der Mensch braucht Wurzeln. Er braucht Heimat. Er will wissen, wohin er gehört. Je weitläufiger die Welt wird, desto mehr sehnt er sich nach Heimat. Sehnsucht nach Ankommen, Bleiben. Auch die urchristlichen Gemeinden treffen sich in Häusern, bauen bald besondere Häuser für ihre Gottesdienste. Basiliken und Kathedralen entstehen – wunderschöne Architektur zum Lobe Gottes.

Nur, feste Häuser schaffen ein Problem. Sie lehren das Festhalten. Hecken, Zäune, geschlossene Fensterläden. Geschützte Räume verlangen nach Recht. „Wenn wir irgendwelche Besitztümer hätten“, sagt der heilige Franziskus, „wären uns Waffen nötig“. Feste Häuser werden zu Lagern. Man will unter sich sein. Milieugebundene Stadtteile entstehen. Im Lager entsteht eine Lagermentalität. Die Schriftgelehrten und Hohepriester bilden ein Lager. Man definiert sich über Zugehörigkeit zum Lager. Wir erleben das in diesen Tagen auf andere Weise. Filterbubbles entstehen nicht nur im Internet. In der Kohlenstoffwelt gibt es ebenso nicht nur Lagerdenken, sondern ganz reale Lager. Auch in der Kirche. Die Politischen stehen gegen die Frommen, die Pop-Freunde gegen die Klassik-Liebhaber, die ländlichen Regionen gegen die städtischen Gebiete, die Lutheraner gegen die Unierten. Und alles natürlich auch wieder andersrum.

Jesu Existenz ist das Heraustreten, wie das lateinische Wort „Existenz“ zu übersetzen ist. Ex-sistere. Herausstellen, sich herausbewegen. Jesus brach den Lagergedanken auf. Er ist die ganze Zeit seines Wirkens aus den Gewohnheiten herausgetreten. Er gab auf, sein Recht zu behaupten. Er verzichtete auf Besitz. Er setzte die Beziehung zu Gott höher als zu Mutter und Geschwistern. Er hat Menschen nie festlegt. Er gab dem Zachäus Raum zur Veränderung und der Ehebrecherin einen neuen Anfang. Die ihn verurteilten und draußen vor den Toren der Stadt töteten, wussten gar nicht, dass der Ort außerhalb der Stadtmauer genau seinem Wesen entsprach. Sie wollten ihn behandeln wie ein Tier-Opfer im Tempel, das seinen Dienst getan hat und draußen vor dem Tor durch Verbrennen entsorgt wird.

„Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ (Hebräer 13,12-14)

Hinausgehen ist eine menschliche Lebensaufgabe von Beginn an. Der erste Schock, wenn ich den warmen Mutterleib verlassen und selbst anfangen muss zu atmen, um nicht zu sterben. Der erste Tag im Kindergarten ohne Mutter oder Vater. Das Elternhaus verlassen. Der erlernte Beruf reicht nicht für ein ganzes Leben. Neues lernen. Die Kinder verlassen das Haus und richten sich in der eigenen Existenz ein. Die eigene Lebensplanung wird fragwürdig: Nun bin ich Schritt für Schritt die Karriereleiter hochgestiegen, aber lehnt die Leiter überhaupt an der richtigen Wand? Die Melancholie des alten Menschen: „Wie viele Frühlinge werde ich noch sehen?“ Muss ich meine vertraute Wohnung verlassen, um mich in einem Pflegeheim versorgen zu lassen? Für viele Ältere ist diese Frage in Corona-Zeiten nicht mehr bloß kokett gestellt. Wird es ein Beatmungsgerät für mich geben, wenn das Virus mich erwischt? Wir haben hier keine bleibende Stadt. Alle Sicherungsmaßnahmen taugen nicht.

Aber Häuser sind nicht als solche sinnlos, Städte sind nicht grundsätzlich falsch.

Denn die zukünftige Stadt, die suchen wir. Jeder und jede für das je eigene Leben. Und für unsere Kirche wir alle am besten gemeinsam. Nicht gegeneinander, in Abgrenzung zu den anderen Filterblasen. Sondern miteinander auf dem Weg zu einer Einheit in versöhnter Verschiedenheit.

Als Fromme erkennen wir an, wie aktiv die Politischen Gottes Auftrag zur Weltgestaltung erfüllen; als Politische, wie innig die Frommen aus der Quelle unseres Glaubens leben. Als Pop-Freunde lernen wir die Schönheit der Gregorianik und Barock zu schätzen und als Klassik-Liebhaber die Energie von Jazz, Rock und Pop. Als Landbewohner nehmen wir Ernst, wie in den Städten viele gemeinsame Probleme zuerst bewältigt werden müssen; als Stadtbewohner, wie auf dem Land vieles Gute noch bewahrt ist, was anderswo schon aufgegeben wurde. Als Lutheraner, Reformierte und Unierte, wie in unseren unterschiedlichen Ausformungen die Vielfalt der reformatorischen Bewegung in ihrem ganzen Reichtum lebendig sein kann.

„Ein Provisorium, das Bestand hat“ – diesem Paradox werden wir auch in der Kirche nicht entkommen. Aber wir brauchen auch nicht daran verzweifeln. Wir können es fröhlich gestalten. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe. Um es mit einem Römer, dem Zenturio Brudercus, zu sagen: „An die Arbeit!“

Amen.

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Persönliches

Adelswelten

„Also die Familie von Bülow ist eine der zahlreichsten Adelsfamilien in Europa. Wir haben erstmal ein paar Jahrhunderte Zeit gehabt, uns zu vermehren. Haben das auch ganz gut hingekriegt.“

2011 hat mich die Journalistin Heike Mund für ihr Feature „Adelswelten – Eine Klasse für sich. Adel verpflichtet“ innerhalb der WDR-Sendereihe „Tiefenblick“ interviewt. Der Satz ist ein Zitat aus der Sendung.

In der Mediathek ist die Sendung nicht mehr verfügbar, aber das Manuskript ist noch nachlesbar, z.B. hier.

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Kirchliches Musikalisches

Gott ist groß

Predigt zum 125+1. Jubiläum des Chorverbands in der Evangelischen Kirche von Westfalen,
St. Reinoldi-Kirche Dortmund, 25.09.2021

(hier geht’s zum Video des Festgottesdienstes, die Predigt gibt’s ab 33:40)

Liebe Gemeinde, hier und heute in der Dortmunder Reinoldi-Kirche oder später an den Bildschirmen!

„Gott ist groß! Kein Mensch kann ihn so sehn! Gott ist groß! Ihn als Ganzes verstehn? Denn Gott ist groß, denn Gott ist groß! Größer als jeder Geist das wohl jemals begreift!“

So haben wir den Text von Benedikt Preiß in der Vertonung von Matthias Nagel gerade gehört. Eine ganz frische Verbindung von Theologie und Kirchenmusik. Aber keine völlig neue Erfahrung. „Gott ist groß! Kein Mensch kann ihn so sehn!“ –  das ist eine Erfahrung, die schon viele Menschen vorher gemacht haben. Eine dieser Erfahrungen ist in der Bibel, im Alten Testament niedergeschrieben.

Die Mose-Geschichten erzählen von einem Mann mit einer besonderen Beziehung zu Gott. Im 2. Buch Mose steht, dass Gott sich mit ihm unterhalten hat, wie wenn ein Mann sich mit einem Freund unterhält. Und wohl deshalb hat Mose dann eine ganz unerhörte Bitte an Gott gehabt:
18 „Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“ 19Und Gott sprach: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will ausrufen den Namen des Herrn vor dir: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. 20Und er sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. 21Und der Herr sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. 22Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. 23Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen.

Liebe Chorverbandsjubiläumsgemeinde,

Mose wollte Gottes Herrlichkeit sehen – wollen Sie das auch? Will ich das auch? Manchmal wünsche ich mir, Gott nicht nur zu sehen, sondern auch vorzeigen zu können. Seit Jahren treten immer mehr Menschen aus der Kirche aus, als in die Kirche ein. Und wenn wir den Studien Glauben schenken können, wird das auch weiter so bleiben. Manchmal wünsche ich mir dann, Gott sehen zu können. Und ihn auch anderen zeigen zu können, ihn und seine Herrlichkeit. Manchmal wünsche ich mir, die Überzeugungsarbeit für die Kirche, die ich ja doch leisten müsste, auf einen beweisbaren und vorzeigbaren Gott abschieben zu können. Wenn ich mich nicht groß genug fühle, dann würde ich gerne den großen Gott mit all seiner Herrlichkeit sichtbar an meiner Seite wissen.

Und doch bin ich mir nicht sicher, ob ich wirklich Gottes Herrlichkeit sehen wollte. Schon ein direkter Blick in die Sonne blendet und schädigt die Augen. Nicht umsonst gibt es selbst für Sonnenfinsternisse diese kleidsamen Sofi-Brillen.

Wieviel mehr müsste ein direkter Blick in Gottes Herrlichkeit blenden und die Augen schädigen! Schon die unmittelbare Konfrontation mit der Wahrheit ist oft kaum auszuhalten. Wieviel mehr die unmittelbare Konfrontation mit Gottes Größe! Und dafür gibt es keine Sofi-Brille.

In der Erzählung der Begegnung von Mose und Gott hat Gott in andere Weise Rücksicht genommen auf den Zusammenhang ihrer Beziehung. Eben ohne Sofi-Brille.

Zunächst einmal: Gott weist Mose einen Ort zu. Erst das macht ihre Begegnung möglich. Kein besonderer, heiliger Ort, sondern ein ganz normaler Fels. Gott begegnet dem Menschen nicht nur im Tempel oder in der Kirche. Dort auch – und besonders, wenn es eine so wunderbare Kirche wie St. Reinoldi ist. Aber vor allem begegnet Gott dem Menschen an ganz normalen Orten. Und zu ganz normalen Zeiten. So kann auch der Alltag unserer normalen Beschäftigungen zum Ort der Gottesbegegnung werden.

Und dann ist da noch eine zweite Art und Weise, wie Gott den Zusammenhang seiner Beziehung zu Mose beachtet.
Mose bekommt Gott nicht von vorn zu sehen. Da hält Gott seine schützende Hand davor. Mose bekommt Gott nur von hinten zu sehen. Selbst Mose, selbst diesem Menschen mit der so intensiven Gottesbeziehung, ist eine direkte Gotteserkenntnis nicht möglich. Erst im Hinterherblicken erkennt er Gott.

Vielleicht ist es Ihnen schon mal ähnlich ergangen: Erst in der Rückschau wurde deutlich: Hier ist Gott gewesen. In dem Moment, in dem ich im Auto gerade noch an einem Unfall vorbeigekommen bin, denke ich an vieles, wohl kaum aber an Gott. Erst später wird klar, wessen schützende Hand hier im Spiel war. Wie oft erkenne ich Gottes Präsenz nicht im Präsens, sondern in der Vergangenheit.

Wo haben Sie hier ähnliche Erfahrungen gemacht? Wo haben Sie die Spuren von Gottes Gegenwart rückblickend im eigenen Leben erkannt?

Auch die Geschichte des Chorverbands in der Evangelischen Kirche von Westfalen kann so eine Möglichkeit sein, Gottes Spuren rückblickend zu erkennen. Auch wenn böse Zungen behaupten „Westfalia non cantat“ – Westfalen singe nicht –, gibt es hier natürlich schon lange Musik und auch Kirchenmusik. Von der Reformation bis heute war und ist evangelischer Glaube ohne Gesang nicht denkbar.

Martin Luther hat einmal gesagt: „Die Musica ist eine schöne und herrliche Gabe Gottes.“ Und in seinem Weihnachtslied „Vom Himmel hoch“ heißt es: „Davon ich singen und sagen will…“ Davon ich singen und sagen will – in der Reihenfolge: Musik als erstes Medium der Verkündigung! Schon in der Reformation wurde fleißig zum Lobe Gottes gesungen.

Etwa seit dem 17. Jahrhundert gibt es Chöre im heutigen Sinne. Und 1895 fand die Gründungsversammlung des westfälischen Chorverbands statt. Ganz im Sinne dessen, was die neutestamentlichen „Einsetzungsworte der Kirchenmusik“ in Kolosser 3,16 uns aufgetragen haben: „Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in eurem Herzen“.

Und so können wir heute dankbar auf 125 Jahre +1 Chorgeschichte, Chorverbandsgeschichte in Westfalen zurückblicken. Und in diesen 125+1 Jahren Gottes Spuren suchen und finden. Ein Grund, Gott dankbar in unseren Herzen singen!

„Denn Gott ist groß, denn Gott ist groß! Größer als jeder Geist das wohl jemals begreift!“ Sie merken: Ich bin nach dem Umweg über die Kirchengeschichte wieder in der Gegenwart angekommen, beim heute uraufgeführten Gloria:

„Gott ist groß! Kein Mensch kann ihn so sehn! Gott ist groß! Ihn als Ganzes verstehn?“ Diese Frage müssen wir wohl weiterhin aushalten. Das gilt nämlich nicht nur für Mose und die Menschen des Alten Testaments. Das gilt auch für Christinnen und Christen: „Niemand hat Gott je gesehen“, heißt es zu Beginn des Johannes-Evangeliums. Die Gemeinde des Neuen Bundes ist hier kaum weiter als die Gemeinde des Alten Bundes. Im 13. Kapitel des 1. Korintherbriefs schreibt Paulus: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“

Auf dieses „dann aber“ warten Christen wie Juden weiterhin. Sie warten darauf, wir warten darauf, dass Gott diese Welt und ihre Erkenntnis zu ihrem Ziel, nein, zu seinem Ziel führen wird. Wir warten auf den Tag, an dem wir alle Gott von Angesicht zu Angesicht sehen können. Bis dahin müssen wir akzeptieren, dass wir Gott nicht direkt sehen können, dass wir ihn nicht sichern, nicht vereinnahmen können. Dazu ist er zu groß.

Aber bis dahin können wir Gott loben mit allen Stimmen, die wir haben, mit allen Instrumenten, die wir spielen können, mit allen Taten der Liebe, die wir tun können. Bis dahin haben wir Gottes Zusage, sein Versprechen in seinem Namen: „Ich bin gnädig, wem ich gnädig bin, und ich erbarme mich, wessen ich mich erbarme.“ Auf diese Gnade, auf dieses Erbarmen hoffe ich.

Amen.

Predigtlied: „Wind kannst Du nicht sehen“ (Text: Markus Jenny, Melodie Erhard Wikfeldt;  EG 568, 1-5)

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Kirchliches

Das Ü-Ei und das Senfkorn

Predigt am 12.09.2021 zur Wiedereröffnung des Gemeindezentrums Auferstehungskirche in Arnsberg

Liebe Gemeinde,

oh happy day – was für ein toller Tag!

Wie lange haben Sie Ihre Auferstehungskirche während des Umbaus nicht nutzen können. Das war schon eine Durststrecke. Aber immer mit dem Ziel vor Augen: Wenn die Kirche fertig ist und die Gemeinderäume mit im Haus sind, ja dann… Und dann, als sie fertig war und die ganzen Mühen vorbei waren, konnten Sie das nicht mal richtig feiern – Corona.

Aber jetzt: Oh happy day!
Ich bin heute aus Bielefeld zu Ihnen nach Arnsberg gekommen, um diesen happy day mit Ihnen zu feiern. Und ich habe Ihnen etwas mitgebracht. Erkennen Sie es? Das Innere eines Ü-Eis. Das eigentlich Besondere an dieser Süßigkeit.

Nun können Sie ja fragen: Warum kommt der von Bülow aus dem Bielefelder Landeskirchenamt hierher? Wegen so eines kleinen gelben Dings?

Ich will Ihnen erzählen warum. Das hängt mit dem zusammen, was in dem kleinen gelben Dings drin ist. Ein Zettel. Darauf steht: „Wenn Gott nicht das Haus baut, so arbeiten umsonst, die daran bauen.“ Psalm 127,1. Wir haben das vorhin gemeinsam gebetet. Der Psalm des heutigen 15. Sonntags nach Trinitatis. Was könnte passender sein für diesen Happy Sunday?

Es gibt übrigens einen Zwilling für dieses Ü-Ei mit dem Psalm-Spruch. Das liegt im Fundament des Hauses meiner Familie in Bielefeld. Während der Bauzeit haben mir meine Eltern einen Zettel mit diesem Vers mitgebracht und weil wir gerade nichts anderes da hatten, haben wir Psalm 127,1 mit einer gelben Ü-Ei-Hülle im Fundament versenkt. Seit 10 Jahren wohnen wir also auf diesem Fundament und es sollen noch viele Jahre werden. Das kleine gelbe Dings symbolisiert meinen Wunsch, dass auch Ihr Haus, diese Kirche nämlich, ein gutes Fundament hat und sie sich viele, viele Jahre darauf verlassen können.

Das Ü-Ei steht aber auch symbolisch für ein noch kleineres gelbes Dings. Im für heute vorgeschlagenen Predigttext aus Lukas 17 (5f.) kommt es in einem ganz kurzen Dialog zwischen Jesus und seinen Jüngern vor:

5Und die Apostel sprachen zu dem Herrn: Stärke uns den Glauben! 6Der Herr aber sprach: Wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn, würdet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Reiß dich aus und verpflanze dich ins Meer!, und er würde euch gehorsam sein.

Senfkörner sind sehr klein. Wir kennen sie alle aus den Gläsern mit Essiggurken. Die kleinen gelben Punkte, die da herumschwimmen, sind Senfkörner.

Maulbeerbäume sind in unseren Breiten nicht ganz so bekannt. Sie sind auf jeden Fall Bäume – so habe ich nachgelesen – die sehr tiefe Wurzeln treiben und auch noch voller Dornen sind. Sechs bis fünfzehn Meter werden sie hoch. Ein äußert unangenehmes Gewächs, um es auszureißen – zur damaligen Zeit galt dies sogar als unmöglich.

In anderen Fassungen dieses Jesus-Worts versetzt der senfkorngroße Glaube keine Maulbeerbäume, sondern Berge. Aber egal ob Baum oder Berg – eigentlich geht es ja um den Glauben.

Wie stark ist eigentlich Ihr Glaube? Können Sie das sagen? Beispielsweise auf einer Skala von 1-10? Wo würden Sie sich einordnen?
Im unteren Bereich? 1-3, na das wäre ziemlich schwach, ein bisschen mehr würde ich Ihnen zutrauen.
Sagen, wir im mittleren Bereich, da sollten wir eigentlich hinkommen, oder? Mindestens so 4-6; mit ein wenig Frömmigkeit schafft man das.
Vielleicht geht noch mehr? 7,8,9 oder gar 10? Ein bisschen Luft nach oben muss ja bleiben. Und überhaupt: wenn wir schon 8 oder 9 hätten, wo stünde dann Martin Luther, oder Dietrich Bonhoeffer, oder Mutter Theresa…?
Als Landeskirchenrat sollte ich doch mindestens auf eine 7 kommen, oder?

Ehrlich gesagt, wenn ich mich an diesem Spruch messe, dann muss ich ehrlich sagen: Ich habe gar keinen Glauben. Null. Nicht mal so groß wie ein Senfkorn. Niemals hat sich bei mir ein Berg auch nur einen Zentimeter bewegt. Ich habe auch nie versucht, zu einem Maulbeerbaum zu sagen: „Reiß dich aus und versetze dich ins Meer.“ Echt jetzt, Jesus? Ich glaube einfach nicht daran, dass der Baum mir gehorchen würde. Und wenn ich mich tatsächlich vor einen Baum stellen und zu ihm so sprechen würde – mit dem ehrlichen Glauben, dass er tut, was ich ihm befehle – , dann wäre ich wohl ein Fall für die Psychiatrie.

Und dann hätte ich auch die Bibel nicht genau genug verstanden.
Schließlich wird mehrfach im Alten Testament, zum Beispiel beim Propheten Jesaja (Jes 40,3-5. 49,11. 54,10) davon gesprochen, dass das Bewegen der Berge allein Gottes Sache ist. Am Ende der Zeiten.
Und der Apostel Paulus schreibt an die Gemeinde in Korinth (1. Kor 13,2), dass selbst ein Berge versetzender Glaube nichtig ist, wenn die Liebe fehlt. Das gilt dann auch für den Glauben, der Maulbeerbäume versetzen soll.

Irgendwie klingt die Antwort Jesu so übertrieben, ja falsch. Vielleicht liegt das daran, dass schon die Frage der Jünger irgendwie falsch ist. Vielleicht kann man die Stärke des Glaubens gar nicht an einer Skala von 1 bis 10 ablesen. Glauben ist nicht skalierbar. Ein „stärkerer“ Glaube wäre wie: Mehr Urlaubstage für einen Mann, der am Sinn seiner Arbeit zweifelt. Naheliegend, irgendwie wünschenswert und doch nur eine Ausflucht. Weil die Dosis nicht zählt. Weil solche Erfahrungen die Vorstellung von gradueller Steigerung ad absurdum führen. Es gibt nicht ein bisschen tot.  Versuchsweise retten. Im Ansatz gewiss. Ein Stück weit sicher. Alles nicht möglich.

Der Soziologe Armin Nassehi versteht den Glauben als Umgang mit dem Unbestimmten. Und er sagt: Dieser Umgang mit dem Unbestimmten ist nicht organisierbar. Die Kirche macht einen Fehler, wenn sie das versucht. Vielleicht hat er Jesus ganz gut verstanden. Mit seiner absurden Antwort vom Maulbeerbaum, der ins Meer fliegt, macht er deutlich, wie absurd es ist, die Stärkung des Glaubens organisieren zu wollen.

Vorhin habe ich gesagt, dass auf der Glaubensskala von 1 bis 10 Martin Luther wohl zu denen gehören würde, die ganz oben stehen. Aber wenn man genauer hinsieht, ist Luther eben nicht der Glaubensheld, von dem wir heute einfach nur zu lernen brauchen, wie man Maulbeerbäume ausreißt. In einem Brief an einen Freund (Nikolaus von Amsdorf) schreibt er am 1. November 1527, dass ihm ganz und gar nicht heldenhaft zumute ist: „Draußen sind Kämpfe, inwendig Schrecken, und zwar herbe; auswendig Streit – inwendig Furcht.“ Das war die Zeit, in der in Wittenberg die Pest wütete. Familie Luther öffnete ihr Haus für Freunde und Schüler, pflegte Kranke, musste Frauen und Kinder zu Grabe tragen.

In seiner Schrift „Ob man vorm Sterben fliehen möge“ hat Luther begründet, warum er das getan hat. Hören Sie genau zu, das ist zwar von 1527, klingt aber erstaunlich modern: „Wenn Gott tödliche Seuchen schickt, will ich Gott bitten, gnädig zu sein und der Seuche zu wehren. Dann will ich das Haus räuchern und lüften, Arznei geben und nehmen, Ort meiden, wo man mich nicht braucht damit ich nicht andere vergifte und anstecke und ihnen durch meine Nachlässigkeit eine Ursache zum Tode werden. Wenn mein Nächster mich aber braucht, so will ich weder Ort noch Person meiden, sondern frei zu ihm gehen und helfen. Siehe, das ist ein gottesfürchtiger Glaube, der nicht tollkühn und dumm und dreist ist und Gott nicht versucht.“

Da ist alles drin, woran wir heute denken, wenn die Pest unserer Tage, das Corona-Virus, unsere Gegenwart bestimmt: Viel Lüften. Abstand halten. Homeoffice. Seelsorge in Altenheimen. Impfen, ja Impfen – denn, so Luther: „Gott hat die Arznei geschaffen und die Vernunft gegeben, dem Leib vorzustehen und ihn zu pflegen, daß er gesund sei und lebe. Impfen also aus lutherischer Sicht ein vernünftiges Verhalten, ein vernünftiger Gottesdienst. Erstaunlich modern, dieser Reformator.

„Ein gottesfürchtiger Glaube, der nicht tollkühn und dumm und dreist ist und Gott nicht versucht“  – könnte das ein senfkorngroßer Glauben sein? Der zwar nicht Maulbeerbäume entwurzelt oder Berge versetzt, der aber Stück für Stück in Liebe zu den Menschen dazu beiträgt, dass unsere Gesellschaft nicht mehr in den Corona-Lockdown zurückmuss.

Ein Glaube, der Gott nicht versucht, sondern Gott vertraut – ein solcher Glaube, der versetzt zwar vielleicht keine Berge, aber er ist ein Glaube in Liebe. Und damit ist er doch nicht so nichtig, doch keine Null. Immerhin. Ein Senfkorn.

Wenn Sie denken, es wird alles zu schwierig, unser Glauben ist zu klein, unsere Gemeinde wird zu klein,– dann denken Sie an das kleine Senfkorn. Immerhin.

Und in Ihrem besonderen Senfkorn steht der Verweis auf Ps 127,1. Gott hat das Haus gebaut, Gott hat dieses Haus gebaut. Es ist nicht umsonst, dass Menschen daran gebaut haben. Und wenn sie auch keine Maulbeerbäume oder Berge versetzt haben, so doch zumindest einiges an Baumaterial. Sie hier in Arnsberg haben ja seit der Erbauung irgendwie ständig an Ihrer Kirche herumgebaut. Wenn ich es richtig verstanden habe, war etwa alle 50 Jahre ein Umbau daran (Bau 1822-24, Umbauten 1891, 1951/52, 2001, 2019-21). Sie werden weiter daran bauen. Das kann ich mir eigentlich gar nicht anders vorstellen. Und zwar nicht nur äußerlich. Sondern auch innerlich. Sie werden hier in diesem Gebäude Gemeinde er-bauen, auf-bauen, auf-er-bauen. Gemeindeaufbau mit dem gleichen Senfkorn-Glauben wie beim Kirchenumbau. Wenn der Herr nicht die Gemeinde baut, so arbeiten umsonst, die daran bauen. Weil der Herr aber diese Gemeinde baut, so wird die Arbeit derer, die daran arbeiten, nicht umsonst sein. Das ist die Verheißung dieses Tages.

Oh happy day!

Amen.

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Humoriges Persönliches

Zum zehnten Todestag von Loriot

Es funktioniert immer. Garantiert. Immer, wenn ich einen Vortrag halte an einem Ort, wo ich vorher noch nicht war. Ich beginne mit dem Satz:
„Vielen Dank, dass Sie mich eingeladen haben. Mein Name ist Vicco von Bülow.“
Und dann:
„Und um die erste Frage zu beantworten…“
Pause. Verblüffte Gesichter: Welche Frage denn? Weiter im Text:
„Ja, aber nur entfernt.“
Gelächter im Publikum.

Es funktioniert immer. Auch 10 Jahre nach Loriots Tod am 22. August 2011. Aber auch heute ist er noch im Bewusstsein vieler Menschen präsent. Erst jüngst hat die Literaturfachzeitschrift „text und kritik“ ihm ein Sonderheft[1] gewidmet. Und die Süddeutsche Zeitung hat gleich ein SZ-extra[2] daraus gemacht. Denn Loriot sei „unvergesslich“. Und tatsächlich: Noch 2018 kannten 92 Prozent der deutschen Bevölkerung Loriot, und zwar sowohl in West wie in Ost.[3]

„Sind Sie mit Loriot verwandt?“[4] Diese Frage kenne nicht nur ich, sondern jede(r), der den Nachnamen von Bülow trägt. Bei mir kommt noch der gleiche Vorname hinzu: „Vicco“ kommt vom skandinavischen „Viggo“ (der Krieger), nicht vom lateinischen Viktor (der Sieger). Aber ich bin nicht nach ihm benannt worden, der Name ist seit dem 15. Jahrhundert in unserer Familie heimisch. Die erste Erwähnung der Bülowschen Familie datiert auf das Jahr 1229,[5] die letzten gemeinsamen Vorfahren von Loriot und mir haben um 1400 gelebt – kirchengeschichtlich gesehen also vorreformatorisch, was eine eher weitläufige Verwandtschaft ergibt. Aber wir haben uns, wie alle Mitglieder unserer weitläufigen Familie, miteinander verwandt gefühlt. Und auf einigen der alle zwei Jahre stattfindenden Familientage haben wir uns persönlich getroffen. Unter den bis zu 200 Bülows war dann auch er, ein netter, freundlicher älterer Herr, offen und gesprächsbereit, völlig unprätentiös und überhaupt nicht eitel.

Auf einem dieser Familientage hat er mir er als Theologen ein besonderes Geschenk gemacht: ein Knollennasenmännchen mit Beffchen und Heiligenschein. Ein Unikat. Ein ganz besonderes Andenken, das ich aber aus Urheberrechtsgründen nicht öffentlich zeigen kann. Seine Knollennasenmännchen waren und sind unverwechselbar. Seine TV-Sketche sind Klassiker schon zu Lebzeiten gewesen, die beiden Herren in der Badewanne, Weihnachten mit Hoppenstedts oder der Lottogewinner Erwin Lindemann (dessen Tochter mit dem Papst eine Herrenboutique in Wuppertal eröffnen wollte). Seine Filme „Ödipussi“ und „Pappa ante portas“ haben gezeigt, dass er auch das große Format „konnte“. Er beherrschte diese verschiedenen Formate meisterlich. Aber seine eigentliche Stärke war die Beobachtung. Sein scharfer Blick für menschliche Charakterzüge verband sich mit einem milden Tadel für diese Schwächen. Zumindest war die Milde sein Mittel, damit seine kritischen Anmerkungen zu der Gesellschaft seiner Zeit von möglichst vielen Mitgliedern dieser Gesellschaft auch wahrgenommen wurde.[6]

Wie so viele in Deutschland und auch in der evangelischen Kirche habe ich seine Sketche, Zeichnungen, Filme, Inszenierungen mit großem Vergnügen gesehen; viele Formulierungen haben sich auch bei mir in den alltäglichen Sprachgebrauch eingeschlichen, zum Beispiel das schlichte „Ach, was?!“. Sein feiner Sinn für die menschlichen Stärken und Schwächen hat vermutlich nicht nur mich dabei immer wieder wie in einen Spiegel schauen lassen.[7] Dass er – anders als so manche(r) andere Comedian – schlechte Witze über Gott und die Kirche unterlassen hat, verstärkt aus meiner Sicht nur das Niveau seines Humors, der nicht nur seiner familiären Herkunft wegen vornehm genannt werden kann. Andere haben seine Grundhaltung auch zutreffend als „gelassen, heiter, verzweifelt“[8] bezeichnet. Von seinen Kollegen wurde er als „Komikklassiker“ (Robert Gernhardt)[9] oder als „beliebtester deutscher Komiker“ (Otto Waalkes)[10] bezeichnet.

Mit 87 Jahren ist er 2011 in einem biblischen Alter gestorben. In Psalm 90,10 heißt es „Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre.“ In seinen letzten Lebensjahren hatte er sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und trat nicht mehr aktiv als Humorist in Erscheinung. Zwei Jahre nach seinem Tod wurden über 400 unveröffentlichte Zeichnungen von Loriot in einer großen „Spätlese“ veröffentlicht. Die als „Nachtschattengewächse“ im Schlussteil des Werks bezeichneten Bilder entstanden in schlaflosen Nächten und sind anders als der Rest, nämlich kubistisch, dadaistisch, verquer und weniger offensichtlich komisch.

Fünf Jahre vor seinem Tod wurde er in einem Streiflicht der „Süddeutschen Zeitung“ dahingehend zitiert, dass er ab und an mit Frau und Freunden über Friedhöfe marschiere und nach einer geeigneten letzten Ruhestätte Ausschau halte. Solches abschiedliche Leben war keineswegs makaber, sondern zeigte die fröhliche Gelassenheit, mit der er dem Tod ins Auge blickte. „Ich glaube“, hat Loriot damals gesagt, „dass der liebe Gott lachen kann“.[11] Auch wenn wir darüber trauern, dass wir nicht mehr mit dem lebenden Loriot lachen können, so können wir uns doch darüber freuen, dass er mit dem lebendigen Gott lachen kann.


[1] Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur IV/21, Nr. 230: Loriot.
[2] SZ-extra „Kultur und Zeitvertreib“ vom 12. Mai 2021.
[3] Vgl. Max Wellinghaus, Loriot. Kleine Anekdoten aus dem Leben eines großen Humoristen, München 2. Aufl. 2018, S. 7.
[4] „‘Sind Sie mit Loriot verwandt?‘ – diesen Satz kennt jede(r) Bülow hierzulande. Die Frage kann immer mit gutem Gewissen bejaht werden.“ Angelika v. Bülow, „Alle Diemirs sind verwandt“, in: Daniel Keel (Hg.), Loriot und die Künste. Eine Chronik unerhörter Begebenheiten aus dem Leben des Vicco von Bülow zu seinem 80. Geburtstag, Zürich 2003, S. 28-30, Zitat S. 28.
[5] Vgl. Daniel Faustmann, unter Mitarbeit von Henning und Detlev Werner von Bülow, Vierzehn Kugeln auf blauem Schild. Die Bülows in der Geschichte, hg. durch den von Bülow’schen Familienverband. Schwerin 2014.
[6] „Das geladene Publikum lacht. Die Ehrengäste aus Politik, Wirtschaft und Kultur lachen. Jeder einzelne glaubt von sich, nicht gemeint zu sein. Wenn sie sich da mal nicht irren.“ Eckhardt Pabst, „Das Bild hängt schief!“ Loriots TV-Sketche als Modernisierungskritik, in: text und kritik (Anm. 1), S. 34-52, Zitat S. 50.
[7] „Er hält unserem Gesprächsverhalten auf komische, überzogene, ja groteske, niemals pädagogisierende Weise den Spiegel vor und zeigt uns das Absurde daran.“ Ulla Fix, Was ist das „Loriot’sche“ an Loriot? Eine Betrachtung seiner „Ehe-Szenen“ aus der Perspektive der kommunikativen Ethik, in: text und kritik (Anm. 1), S. 86-95, Zitat S. 95.
[8] Reinhard Baumgart, Gelassen, heiter, verzweifelt, in: text und kritik (Anm. 1), S. 59-69.
[9] Robert Gernhardt, Klassiker!, in: Daniel Keel (Anm. 4), S. 52-54, Zitat S. 53.
[10] Otto Waalkes, Zum Quietschen schön. Interview mit Susanne Hermannski, in: SZ-extra (Anm. 2).
[11] Vgl. Loriots Antwort im Interview mit Franziska Sperr / Jan Weiler, „Altern ist eine Zumutung“. Ein Gespräch, in: Daniel Keel (Anm. 4), S. 154-177, Zitat S. 172: „Was kommt nach dem Tod? Der Himmel, hoffe ich. Ich habe mir meinen Kinderglauben an den lieben Gott bewahrt. – Wissen Sie, was auf Ihrem Grabstein stehen soll? Zweckmäßig wäre es, wenn der Name darauf stünde.

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Kirchliches

Vielfalt trotz Lockdown

Am Donnerstag, den 11. August 2021, veröffentlichte die Evangelische Kirche von Westfalen die Ergebnisse einer Umfrage zu den Gottesdiensten an den Weihnachtstagen 2020 mit dem Titel „Vielfalt trotz Lockdown“.

In meinem Vorwort (vom 2. Juli 2021) dazu habe ich den Kontext der Umfrage erläutert:

„Die Risikobewertung des RKI wurde angepasst. Das RKI schätzt nunmehr die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland insgesamt als sehr hoch ein.“ (täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit 2019 (COVID-19), 15. Dezember 2020 -aktualisierter Stand für Deutschland)
So fasste das Robert-Koch-Institut die aktuelle Lage am 15. Dezember 2020 in der Corona-Pandemie zusammen und präzisierte: „Aktuell ist weiterhin eine hohe Anzahl an Übertragungen in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Daher wird dringend appelliert, dass sich die gesamte Bevölkerung noch stärker als bisher für den Infektionsschutz engagiert. Seit dem 4. Dezember 2020 ist ein starker Anstieg der Fallzahlen zu beobachten. Die Inzidenz der letzten 7 Tage liegt deutschlandweit bei 174 Fällen pro 100.000 Einwohner.“ In Nordrhein-Westfalen betrug die 7-Tage-Inzidenz für an das RKI übermittelte COVID-19-Fälle 172.
In dieser Situation veröffentlichte die Evangelische Kirche von Westfalen „schweren Herzens“ ein Corona-Update, in dem eine von landeskirchlichem Corona-Stab und der Konferenz der Superintendentinnen und Superintendenten ausführlich diskutierte „dringende Empfehlung“ veröffentlicht wurde. Im Kern enthielt das Update diese beiden Punkte:
„Die Evangelische Kirche von Westfalen hält es angesichts der gegenwärtigen und deutlich veränderten Lage – trotz der bisher bewährten Schutzkonzepte – für ein Gebot der Vernunft, auf Versammlungen von Menschen möglichst zu verzichten, um Menschen nicht zu gefährden. Darin erkennen wir – im Respekt vor den Entscheidungen anderer Landeskirchen und Bistümer – zu diesem Weihnachtsfest unseren Auftrag, der Liebe Gottes zu den Menschen zu entsprechen. Deshalb empfehlen wir den Kirchengemeinden in der EKvW dringend, ab sofort und über die Weihnachtsfeiertage – voraussichtlich – bis zum 10. Januar 2021 auf alle Präsenzgottesdienste und andere kirchliche Versammlungen (in Gebäuden
und unter freiem Himmel) zu verzichten.“
Dies wurde gleichzeitig auch von Präses Dr. h. c. Annette Kurschus im WDR-Regionalfernsehen bekannt gegeben und erläutert.

Diese Empfehlung erregte naturgemäß einiges Aufsehen. Viele Rückmeldungen aus den westfälischen Kirchengemeinden zeigten: Die weitaus meisten Gemeinden verstanden die Empfehlung als konstruktive Hilfestellung in einer schwierigen Entscheidungssituation. Der Paderborner Theologieprofessor Harald Schroeter-Wittke äußerte öffentlich: „Ich bin stolz auf meine westfälische Kirche! Das ist nicht nur gesellschaftlich, sondern auch theologisch weitsichtig!“ (zitiert nach: Reinhard Mawick, „Stolz auf meine westfälische Kirche!“ Notizen um das Pro und Contra von Präsenzgottesdiensten am 24. Dezember, in: zeitzeichen vom 22. Dezember 2020).
Aber es gab auch Kritik an diesem Vorgehen, sowohl innerhalb wie außerhalb der EKvW. Mancher vermisste die Abstimmung der Landeskirche mit den eigenen Gemeinden oder mit anderen Kirchen, manche sah die eigenen, bisher bewährten Schutzkonzepte als ausreichend zur Infektionsvermeidung an.

Zweifellos handelte es sich um einen umstrittenen Entschluss. Denn es war klar, dass sich viele Menschen gerade in diesem Pandemie-Jahr besonders nach den Weihnachtsgottesdiensten und nach Gemeinschaft sehnten. Die Botschaft vom rettenden Kommen Gottes in unsere Welt blieb gerade dann wichtig. Deshalb wurde zum Beispiel bis zuletzt diskutiert, ob zumindest Freiluft-Gottesdienste empfohlen werden könnten. Die Entscheidung dagegen und somit ein vollständiges Umdenken und Umplanen war durch die Dynamik des Pandemiegeschehens motiviert. Der RKI-Appell lautete, Kontakte soweit wie möglich zu reduzieren oder ganz zu vermeiden. In dieser Situation das genaue Gegenteil zu tun und Menschen zu versammeln, schien der Evangelischen Kirche von Westfalen nicht angemessen. Das schloss die schmerzhafte Empfehlung ein, auf physische Versammlungen zum Gottesdienst zu verzichten.
Gleichzeitig war klar: Weil das Feiern von Gottesdiensten aufgrund der Religionsfreiheit in Deutschland nicht untersagt worden war, bestand weiterhin die Möglichkeit dazu. Landeskirchliche Verbote sieht das westfälische Kirchenrecht zu Präsenzgottesdiensten im Blick auf die diesbezügliche Eigenverantwortung der Kirchengemeinden nicht vor. Deshalb stand es Gemeinden frei, in der Weihnachtszeit 2020 verantwortlich zu einem Präsenzgottesdienst einzuladen.
Die Kirchengemeinden wurden ausdrücklich dazu ermuntert, statt der traditionellen Präsenzgottesdienste kreative andere Verkündigungsformate zu nutzen: digital übertragene Gottesdienste, Verteilmaterial für Weihnachtsandachten im häuslichen Kontext (ein dazu geplantes Magazin ließ sich leider landeskirchlich nicht realisieren), offene Kirchen als Orte der Stille und des Gebets sowie manches mehr. Die evangelische Kirche hat nicht geschwiegen, sie hat andere Formen der Kommunikation des Evangeliums praktiziert. Gottesdienste wurden nicht abgesagt, sie wurden anders gefeiert.
Wie genau diese Feier anders war, das wollte der Corona-Stab der EKvW Anfang 2021 wissen und befragte deshalb die evangelischen Kirchengemeinden in Westfalen mit einementsprechenden Fragebogen. Dieser Fragebogen wurde von Dr. Peter Jacobebbinghaus ausgewertet. Die im Fragebogen enthaltenen Antworten auf offene Fragen hat Pfarrer Carsten Haeske interpretiert. Beiden sei herzlich dafür gedankt

Wir hoffen, dass diese Broschüre dazu beitragen kann, zum besseren Verstehen der kirchlichen Lage beizutragen und so etwas Licht in „das Dunkel des gelebten Augenblicks“ (Ernst Bloch) zu bringen.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der ausgewerteten Umfrage liegt die 7-Tage-Inzidenz in Nordrhein-Westfalen bei 5,6. Angesichts steigender Impfquoten und bei weiterer Einhaltung von notwendigen Vorsichtsmaßnahmen erscheint die Hoffnung auf einen guten Sommer mit Präsenzgottesdiensten und Gemeindegesang als begründet. Aber ob angesichts von hoch ansteckenden Virus-Mutationen und in der kälteren Jahreszeit Weihnachtsgottesdienste 2021 anders als im Vorjahr wirklich wieder ohne Bedenken präsentisch gefeiert werden können, ist derzeit nicht mit Sicherheit zu sagen. Dass die Gemeinden, die positive Erfahrungen mit digitalen Gottesdiensten gemacht haben, dies auch zukünftig fortsetzen werden, ist dagegen nicht nur zu erwarten, sondern auch zu erhoffen. Denn die digitalen Gottesdienste gehören spätestens seit Weihnachten 2020 zur erfreulich selbstverständlichen Vielfalt von Gottesdienstformaten nicht nur in der Evangelischen Kirche von Westfalen.“

Die Broschüre kann auf der Download-Seite der EKvW als pdf-Datei heruntergeladen und in Papierform kostenlos im Kirchenshop Westfalen bestellt werden.