In den letzten Jahren habe ich mich als Kirchenmusikdezernent der Evangelischen Kirche von Westfalen sehr für die Zusammenführung der beiden Standorte unserer Hochschule für Kirchenmusik von Herford und Witte nach Bochum eingesetzt.
Nun hat die westfälische Kirchenleitung endlich den entsprechenden Beschluss gefasst. In zwei Radio-Interviews habe ich mich dazu geäußert:
Am 30. August wurde ich in WDR 3 Tonart interviewt, das Interview ist in der Mediathek verfügbar.
Auf Antenne Thüringen und LandesWelle Thüringen lief am 31. August ein Beitrag, den der Internationale Audiodienst Frankfurt (iad) produziert hat. Auch er ist online nachzuhören.
Grundlage war die Pressemitteilung der Evangelischen Kirche von Westfalen:
Westfälische Kirchenleitung beschließt Neubau der Hochschule für Kirchenmusik
Projekt mit großer Strahlkraft
Jetzt ist es sicher: Bochum wird neuer Standort der Hochschule für Kirchenmusik. Auf ihrer Sitzung am 24. August beschloss die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW), in Bochum den Hochschulneubau zu errichten.Darin werden die beiden Studienzweige der klassischen Kirchenmusik, die seit vielen Jahren in Herford gelehrt wird, und der kirchlichen Popularmusik, die Studierende bislang in Witten lernen können, in einer gemeinsamen kirchlichen Musikhochschule zusammengeführt.
Schon im vergangenen Jahr hatte sich die Kirchenleitung grundsätzlich für das Hochschulprojekt ausgesprochen und sich auf Bochum als möglichen Standort festgelegt. Anfang dieses Jahres gab sie die professionelle Projektplanung in Auftrag, verbunden mit der Aufgabe, unter realistischen Bedingungen die Einhaltung der Budgetvorgaben von maximal 14,2 Millionen Euro zu prüfen. Nachdem jetzt Planung und Prüfergebnis vorlagen, machte die Kirchenleitung mit ihrer Entscheidung den Weg für den Neubau frei.
Die neue Hochschule für Kirchenmusik wird in Bochum auf dem Campus der Evangelischen Hochschule entstehen. Auf drei Etagen bietet sie in Räumen mit anspruchsvoller Akustik und ansprechender Gestaltung Studienmöglichkeiten für jeweils rund 40 Studierende. Erstmals sollen junge Frauen und Männer zum Wintersemester 2026/27 ihr Studium am neuen Hochschulstandort aufnehmen können.
Dass in Bochum künftig klassische und populare Kirchenmusik gemeinsam gelehrt wird, ist einzigartig in der deutschen Kirchenmusiklandschaft. Hochschulrektor Jochen Kaiser verspricht sich davon eine gegenseitige künstlerische Inspiration beider Studienrichtungen. Er hatte im Frühjahr das Amt als Hochschulrektor übernommen mit dem Ziel, die bisher parallellaufenden Kirchenmusik-Studienfächer räumlich und konzeptionell zusammenzuführen (zum Interview mit Jochen Kaiser).
Mit der Entscheidung für den Hochschulneubau und das künftige Konzept setzt die Kirchenleitung ein Zeichen für die besondere Bedeutung der Kirchenmusik in Westfalen. „Diese neue Hochschule wird ein Projekt mit kultureller Strahlkraft sein – und das weit über Westfalen hinaus“, zeigt sich die Präses der EKvW, Annette Kurschus, überzeugt. Gerade in Zeiten knapper werdender Finanzmittel beschreibt die Kirchenleitung damit nicht zuletzt eines der kirchlichen Handlungsfelder, denen sie für die Zukunft Priorität einräumt.
Immer mal wieder gab und gibt es Anfragen dazu. Am 14. November 2022 hat der Bayrische Rundfunk für seine Sendung „Theologik“ ein spannendes Interview mit mir geführt. Die Sendung ist als Podcast auch nach der Ausstrahlung verfügbar (etwa ab der 20. Minute komme ich dazu). Es ging, natürlich, um Nicole („Ein bisschen Frieden“) und den biblischen Schalom, es ging um Karat („Über sieben Brücken musst du gehn“) und Psalm 23, es ging um Tiefgang und Oberflächlichkeit, um Familienbilder und Gesellschaftsentwürfe. Ganz im Sinne dessen, was ich in der Einleitung zum Buch 2014 geschrieben habe:
Wie eine Blume am Winterbeginn / so wie ein Feuer im eisigen Wind, wie eine Puppe, die keiner mehr mag, / fühl ich mich am manchem Tag. Dann seh ich die Wolken, die über uns sind, / und höre die Schreie der Vögel im Wind. Ich singe aus Angst vor dem Dunkel mein Lied / und hoffe, dass nichts geschieht. So beginnt Nicoles legendärer Schlager aus dem Jahr 1982: Ein bisschen Frieden. Damals gewann sie als 17jährige im adretten Kleid mit ihrer weißen Gitarre das, was heute „ESC“ heißt und damals Grand Prix Eurovision de la Chanson, der Große Preis des europäischen Schlagers. 32 Jahre später, also nach einer Generation, fragen wir: Wie ist das mit dem „und“ zwischen Schlager und Kirche? Passt das dahin? Oder gerade nicht? Und warum? Anders als Nicole hoffen wir aber nicht, „dass nichts geschieht“. Sondern wir hoffen, dass etwas geschieht. Und damit meinen wir nicht nur die Frage, ob Schlagersänger in einer Kirche auftreten dürfen. Das hat Nicole schon getan, die 2009 erstmals auf eine Kirchentournee ging. Und im vergangenen Jahr 2013 gab es in Minden und darüber hinaus etwas Unruhe, als Heino in der St. Marien-Kirche auftrat. Aber uns geht es nicht um Kirchgebäude als besonders coole Location für weltliche Schlagermusiker. Sondern wir wollen tiefer ansetzen. Für die meisten Pfarrer und Pfarrerinnen, für die meisten hauptberuflichen Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker wird das etwas sein, was sie nicht regelmäßig tun. Denn sie gehören einem Milieu an, dass sich musikalisch oft durch den Satz charakterisieren lässt: „Ich höre alles außer Schlager“. Aber wenn der Schlager zu den populärsten Musikformen gehört, wie die Albumcharts im Januar 2014 zeigen, die von Helene Fischer („Farbenspiel“, Platz 1) angeführt werden, Andrea Berg folgt bald danach („Atlantis“, Platz 4) – und wenn das auch viele Gemeindeglieder so empfinden und also unsere Kirchengemeinden zu einem großen Anteil aus Schlagerhörern bestehen – warum sollten wir uns kategorisch davon distanzieren? Eine Beschäftigung mit dem Schlager ist bisher in der Kirche zumeist unterblieben, wenn es doch geschah, dann meistens in abgrenzender Form. Wir wollen das ändern – und vielleicht gibt es als Ergebnis dieser Beschäftigung so etwas wie „ein bisschen Frieden“ zwischen Kirche und Schlager. Aber was ist das eigentlich, ein Schlager? Ich gebe offen zu, mich damit erst im letzten Jahr wirklich intensiver beschäftigt zu haben. Denn auch ich gehöre dem Milieu an, das von sich behauptet: „Ich höre alles, außer Schlager“. Aber was höre ich denn nicht? Was ist ein Schlager? Wie fast immer, wenn man einfache Fragen stellt, sind die Antworten gar nicht so einfach. Es sind kluge Abhandlungen darüber verfasst worden, was denn wann als Schlager verstanden worden ist. Das variiert nämlich sehr, je nachdem, ob man sich im 19., im 20. oder im 21. Jahrhundert befindet, je nachdem ob man musikalisch, soziologisch, psychologisch, ökonomisch oder gar theologisch denkt. Möglicherweise war der erste Schlager „An der schönen blauen Donau“ 1867. Damals ist der Begriff „Schlager“ vor allem für solche Musikstücke verwendet worden, in denen den Zuhörern in sprachlichen Anspielungen eine gewisse frivol-erotische Doppeldeutigkeit schlagartig bewusst wurde. In den 1920er Jahren differenzierte man zwischen „Gassenhauern“ und „Schlagern“ – manche haben damals den Gassenhauer als kulturell höherwertig verstanden, weil er aus dem Volk heraus entstand und diesem nicht übergestülpt werde. So schrieb ein entsprechender Kritiker 1924: „Die massenpsychologische Wirkung des Schlagers beruht auf dem Gesetz des geringsten Aufwandes musikalischer Energie. Wiederholung der gleichen akustischen Einwirkung wirkt energiesparend und ist lustbetont [und das ist dann natürlich negativ zu bewerten]; je primitiver musikalisch empfunden wird, desto sicherer die Wirkung.“ Wenn heutzutage Schlagermusik und Volksmusik oft in eins gesetzt werden, dann irritiert ein Blick in die 1940er Jahre, als innerhalb der nationalsozialistischen Ideologie der Schlager zum Inbegriff aller sogenannten volksfremden Musik wurde, deren Urheber selbstverständlich im Judentum lokalisiert wurden. Seit den 1950er Jahren wird der Begriff „Schlager“ als eine „Kurzform leicht eingängiger Tanz- und Unterhaltungsmusik“ oder als Bezeichnung für „einfache liedartige Melodien, die leicht zu behalten sind“ bezeichnet. Vielleicht lassen sich diese Formulierungen als Arbeitsdefinition verwenden. Wobei der Begriff weiterhin schwer zu umgrenzen und damit an den Rändern durchaus unscharf bleibt. So konnte das „Fach“magazin „Prisma“ in einem Artikel über „Andreas Gabalier und die Rückkehr des Schlager“ im August 2013 titeln: „Rock’n’Roll in Lederhosen“. Ja, was denn nun: Schlager oder Rock’n’Roll? Oder hat vielleicht doch die Deutsche Bahn recht, als sie in ihrem Kundenmagazin im Dezember 2013 anlässlich eines Artikels über Helene Fischer titelte: „Schlager wird Pop“? Eine grundlegende Kritik am Schlager kam von Theodor Adorno. Er sah den Schlager als Teil der Kulturindustrie und wies auf den zunehmenden Warencharakter der Kultur hin. Besonders bei der Musik beeinflusse die Industrie in ihrer Rolle als Vermittler zwischen Werk und Konsument das Subjekt stark. Musik mutiere zum Massenprodukt des Amüsements. Popular music war Adorno ein besonderer Dorn im Auge. Sie führe zu einer Regression des Hörens. Der Rezipient sei gar nicht mehr in der Lage, Werke zu beurteilen, denn, so schreibt Adorno, „die Bekanntheit des Schlagers setzt sich an Stelle des ihm zugesprochenen Wertes“. Der Hörer setze das Wiedererkennen eines Stückes an Stelle des Wertens. Er sei also gar nicht mehr fähig aus seiner von „standardisierten Musikwerken“ umzingelten Situation herauszubrechen und die Musik objektiv zu betrachten. Der Einfluss der Medien und der Industrie mache den Bürger unmündig. Adorno formulierte seine Kritik in einer Zeit eines musikalischen Umbruchs, nämlich des Einbruchs der internationalen Pop- und Rockmusik in die deutsche und damit deutschsprachige Musikszene. Die Deutschsprachigkeit scheint ein ganz wichtiges Kriterium des Schlagers zu sein. Während 1962 noch fast alle Hits in Deutschland auf Deutsch gesungen wurden, waren es zum Ende dieses bewegten Jahrzehnts nur noch 5-10%. Und lange Jahre blieb das auch so, vielleicht kurz unterbrochen von der Neuen Deutschen Welle in den frühen 80ern. Mit einem Blick auf die heutigen Charts und auf die Beliebtheit mancher traditioneller Schlagersender kann man fragen: Sind wir wieder auf dem Weg in die 50er? Oder ist der Schlagerhype nur gehypt? Tatsächlich ist es ja so, dass auf den sogenannten Schlagersendern viel Englisches gespielt wird und manches, was eindeutig nicht aus dem Bereich des Schlagers kommt, der Generation Ü40 aber dennoch in ähnlicher Weise vertraut ist. Was hat das Ganze nun mit der Kirche zu tun? Das hat in ähnlicher Weise schon 2002 die EKD-Kulturdenkschrift „Räume der Begegnung“ gefragt. Und sie hat damals als eines der Ziele der Begegnung von Kirche und Kultur das „Ernstnehmen des Trivialen“ propagiert. In ihrer Analyse des Trivial-Populären haben die Autoren der Denkschrift Adorno widersprochen: „Die kulturindustriellen Produktionsformen, die der Gewinnmaximierung dienen, mindern weder automatisch die Qualität eines Produkts noch bestimmen sie die Werte, die es vermittelt.“ Die Denkschrift vermeidet es klug, das Religiöse und das Triviale zu identifizieren – oder auf unserer Thema übertragen: den Schlager und die Kirche. Sie stehen zu einer Beziehung zueinander, aber sie sind nicht eins. Wieso sollte sich die evangelische Kirche mit etwas so Trivialem wie dem Schlager beschäftigen? Ich zitiere die EKD-Denkschrift auch deshalb, weil sie mein eigenes Interesse trifft: „Es liegt in der Technik, Komplexität in emotionale Eindeutigkeit zu übersetzen. Oder anders gesagt: Das Triviale ist einer von mehreren Wegen, der protestantischen Verkopfung zu ent-gehen.“ Von anderen lernen, heißt es also wieder einmal. Oder haben wir das schon längst getan? Hat nicht mit dem sogenannten Neuen Geistlichen Lied der Schlager schon Einzug in die Kirche gehalten? „Danke für diesen guten Morgen“ (EG 334) hat nicht umsonst nicht nur in der Kirche, sondern auch auf Schlager-CDs seinen Platz gefunden, bis hin zu der Sammlung von Partykrachern eines Mickie Krause. Und als wir im Landeskirchenamt 2012 im „Jahr der Kirchenmusik“ alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach ihrem Lieblingslied im Gesangbuch gefragt haben, kam ein kirchlicher Schlager auf Platz 1: „Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer“ (EG RWL 663). Ist das ein Grund zum Spotten oder heißt das nur, dass die Menschen im LKA gar nicht so abgehoben von der kirchlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit sind, wie manchmal vermutet wird? Jedenfalls erscheint es notwendig, dass in der Kirche Berührungsängste und Vorurteile gegenüber dem Schlager abgebaut werden. Wenn wir populäre Musik wie Jazz, Rock und Pop als ernstzunehmenden Teil der Kirchenmusikszene ansehen, wie weit gilt das dann auch für den Schlager? Eines ist allerdings klar, bei allen Formen von klassischer und populärer Kirchenmusik: Wir müssen auf Qualität achten und in der Aus-, Fort- und Weiterbildung auch selbst dafür sorgen. Gegebenenfalls auch beim Schlager. In seiner Autobiographie berichtet Marcel Reich-Ranicki von einem Erlebnis aus seiner Schulzeit, das diese Hochschätzung der Qualität auch außerhalb der Hochkultur anschaulich macht: „Als die Schüler, die ein Instrument beherrschten, etwas zum besten geben sollten und einer – und zwar ein Jude – im Unterschied zu den anderen, die mit klassischen Stücken aufwarteten, einen miserablen Schlager klimperte, befürchteten wir, [unser Lehrer] Steineck werde ihn streng zu-rechtweisen. Doch was vorgefallen war, hatte ihn nicht empört, sondern nur betrübt. Er sagte ganz leise: ‚Dies war schlechte Musik. Aber auch schlechte Musik kann man anständig spielen.‘“
Liebe Gemeinde, hier und heute in der Dortmunder Reinoldi-Kirche oder später an den Bildschirmen!
„Gott ist groß! Kein Mensch kann ihn so sehn! Gott ist groß! Ihn als Ganzes verstehn? Denn Gott ist groß, denn Gott ist groß! Größer als jeder Geist das wohl jemals begreift!“
So haben wir den Text von Benedikt Preiß in der Vertonung von Matthias Nagel gerade gehört. Eine ganz frische Verbindung von Theologie und Kirchenmusik. Aber keine völlig neue Erfahrung. „Gott ist groß! Kein Mensch kann ihn so sehn!“ – das ist eine Erfahrung, die schon viele Menschen vorher gemacht haben. Eine dieser Erfahrungen ist in der Bibel, im Alten Testament niedergeschrieben.
Die Mose-Geschichten erzählen von einem Mann mit einer besonderen Beziehung zu Gott. Im 2. Buch Mose steht, dass Gott sich mit ihm unterhalten hat, wie wenn ein Mann sich mit einem Freund unterhält. Und wohl deshalb hat Mose dann eine ganz unerhörte Bitte an Gott gehabt: 18 „Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“19Und Gott sprach: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will ausrufen den Namen des Herrn vor dir: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. 20Und er sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. 21Und der Herr sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. 22Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. 23Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen.
Liebe Chorverbandsjubiläumsgemeinde,
Mose wollte Gottes Herrlichkeit sehen – wollen Sie das auch? Will ich das auch? Manchmal wünsche ich mir, Gott nicht nur zu sehen, sondern auch vorzeigen zu können. Seit Jahren treten immer mehr Menschen aus der Kirche aus, als in die Kirche ein. Und wenn wir den Studien Glauben schenken können, wird das auch weiter so bleiben. Manchmal wünsche ich mir dann, Gott sehen zu können. Und ihn auch anderen zeigen zu können, ihn und seine Herrlichkeit. Manchmal wünsche ich mir, die Überzeugungsarbeit für die Kirche, die ich ja doch leisten müsste, auf einen beweisbaren und vorzeigbaren Gott abschieben zu können. Wenn ich mich nicht groß genug fühle, dann würde ich gerne den großen Gott mit all seiner Herrlichkeit sichtbar an meiner Seite wissen.
Und doch bin ich mir nicht sicher, ob ich wirklich Gottes Herrlichkeit sehen wollte. Schon ein direkter Blick in die Sonne blendet und schädigt die Augen. Nicht umsonst gibt es selbst für Sonnenfinsternisse diese kleidsamen Sofi-Brillen.
Wieviel mehr müsste ein direkter Blick in Gottes Herrlichkeit blenden und die Augen schädigen! Schon die unmittelbare Konfrontation mit der Wahrheit ist oft kaum auszuhalten. Wieviel mehr die unmittelbare Konfrontation mit Gottes Größe! Und dafür gibt es keine Sofi-Brille.
In der Erzählung der Begegnung von Mose und Gott hat Gott in andere Weise Rücksicht genommen auf den Zusammenhang ihrer Beziehung. Eben ohne Sofi-Brille.
Zunächst einmal: Gott weist Mose einen Ort zu. Erst das macht ihre Begegnung möglich. Kein besonderer, heiliger Ort, sondern ein ganz normaler Fels. Gott begegnet dem Menschen nicht nur im Tempel oder in der Kirche. Dort auch – und besonders, wenn es eine so wunderbare Kirche wie St. Reinoldi ist. Aber vor allem begegnet Gott dem Menschen an ganz normalen Orten. Und zu ganz normalen Zeiten. So kann auch der Alltag unserer normalen Beschäftigungen zum Ort der Gottesbegegnung werden.
Und dann ist da noch eine zweite Art und Weise, wie Gott den Zusammenhang seiner Beziehung zu Mose beachtet. Mose bekommt Gott nicht von vorn zu sehen. Da hält Gott seine schützende Hand davor. Mose bekommt Gott nur von hinten zu sehen. Selbst Mose, selbst diesem Menschen mit der so intensiven Gottesbeziehung, ist eine direkte Gotteserkenntnis nicht möglich. Erst im Hinterherblicken erkennt er Gott.
Vielleicht ist es Ihnen schon mal ähnlich ergangen: Erst in der Rückschau wurde deutlich: Hier ist Gott gewesen. In dem Moment, in dem ich im Auto gerade noch an einem Unfall vorbeigekommen bin, denke ich an vieles, wohl kaum aber an Gott. Erst später wird klar, wessen schützende Hand hier im Spiel war. Wie oft erkenne ich Gottes Präsenz nicht im Präsens, sondern in der Vergangenheit.
Wo haben Sie hier ähnliche Erfahrungen gemacht? Wo haben Sie die Spuren von Gottes Gegenwart rückblickend im eigenen Leben erkannt?
Auch die Geschichte des Chorverbands in der Evangelischen Kirche von Westfalen kann so eine Möglichkeit sein, Gottes Spuren rückblickend zu erkennen. Auch wenn böse Zungen behaupten „Westfalia non cantat“ – Westfalen singe nicht –, gibt es hier natürlich schon lange Musik und auch Kirchenmusik. Von der Reformation bis heute war und ist evangelischer Glaube ohne Gesang nicht denkbar.
Martin Luther hat einmal gesagt: „Die Musica ist eine schöne und herrliche Gabe Gottes.“ Und in seinem Weihnachtslied „Vom Himmel hoch“ heißt es: „Davon ich singen und sagen will…“ Davon ich singen und sagen will – in der Reihenfolge: Musik als erstes Medium der Verkündigung! Schon in der Reformation wurde fleißig zum Lobe Gottes gesungen.
Etwa seit dem 17. Jahrhundert gibt es Chöre im heutigen Sinne. Und 1895 fand die Gründungsversammlung des westfälischen Chorverbands statt. Ganz im Sinne dessen, was die neutestamentlichen „Einsetzungsworte der Kirchenmusik“ in Kolosser 3,16 uns aufgetragen haben: „Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in eurem Herzen“.
Und so können wir heute dankbar auf 125 Jahre +1 Chorgeschichte, Chorverbandsgeschichte in Westfalen zurückblicken. Und in diesen 125+1 Jahren Gottes Spuren suchen und finden. Ein Grund, Gott dankbar in unseren Herzen singen!
„Denn Gott ist groß, denn Gott ist groß! Größer als jeder Geist das wohl jemals begreift!“ Sie merken: Ich bin nach dem Umweg über die Kirchengeschichte wieder in der Gegenwart angekommen, beim heute uraufgeführten Gloria:
„Gott ist groß! Kein Mensch kann ihn so sehn! Gott ist groß! Ihn als Ganzes verstehn?“ Diese Frage müssen wir wohl weiterhin aushalten. Das gilt nämlich nicht nur für Mose und die Menschen des Alten Testaments. Das gilt auch für Christinnen und Christen: „Niemand hat Gott je gesehen“, heißt es zu Beginn des Johannes-Evangeliums. Die Gemeinde des Neuen Bundes ist hier kaum weiter als die Gemeinde des Alten Bundes. Im 13. Kapitel des 1. Korintherbriefs schreibt Paulus: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“
Auf dieses „dann aber“ warten Christen wie Juden weiterhin. Sie warten darauf, wir warten darauf, dass Gott diese Welt und ihre Erkenntnis zu ihrem Ziel, nein, zu seinem Ziel führen wird. Wir warten auf den Tag, an dem wir alle Gott von Angesicht zu Angesicht sehen können. Bis dahin müssen wir akzeptieren, dass wir Gott nicht direkt sehen können, dass wir ihn nicht sichern, nicht vereinnahmen können. Dazu ist er zu groß.
Aber bis dahin können wir Gott loben mit allen Stimmen, die wir haben, mit allen Instrumenten, die wir spielen können, mit allen Taten der Liebe, die wir tun können. Bis dahin haben wir Gottes Zusage, sein Versprechen in seinem Namen: „Ich bin gnädig, wem ich gnädig bin, und ich erbarme mich, wessen ich mich erbarme.“ Auf diese Gnade, auf dieses Erbarmen hoffe ich.
Am Anfang war … Blitz und Donner. Als Martin Luther im Jahr 1505 auf dem Weg nach Erfurt den Ort Stotternheim passierte, brach ein gewaltiges Gewitter los. Die Geschichte erzählt, dass ein Blitz dicht neben Luther einschlug. In Todesangst soll er gerufen haben: „Hilf heilige Anna, ich will ein Mönch werden.“ Die Reformation ist eine Geschichte der Befreiung aus der Angst. Ein Schritt auf dem Weg in die Freiheit. Luther selbst hat von sich als „Madensack“ gesprochen. Aber: Wenn man die Wirkung betrachtet, steht Martin Luther im Mittelpunkt der Reformation. Deshalb ist eine Martin Luther-Suite mehr als angebracht. Lucas Schmid hat sie komponiert, seinerzeit noch Musiker bei der NDR-Bigband. .
Martin Luther hat einmal gesagt: „Die Musica ist eine schöne und herrliche Gabe Gottes.“ Jazz kannte er nicht. Aber wir werden heute hören, wie a jazz reformation klingt und ich werde ein paar Gedanken zur Verbindung von Musik, von Jazz und von Reformation mit Ihnen teilen. Auch der Komponist des heutigen Abends hat sich Gedanken zu dieser Verbindung gemacht. Lucas Schmid sagt: Eine Brücke zu schlagen und die reformatorische Musik in das schöpferische, junge Idiom des Jazz zu transportieren, empfand ich als aufregendes Unterfangen. Wie viele Musikgattungen, so ist auch der Jazz aus einem „Schmelztiegelprozeß“ entstanden. Eine der Schmelztiegelbestandteile ist der Gospel, ein Kirchenlied. Eine andere die Improvisation, in der Kirchenmusik von Organisten über mehrere Jahrhunderte praktiziert. Wohl in höchster Vollendung beherrschte Johann Sebastian Bach die Improvisation, seine Bearbeitungen der Luther Choräle für Orgel sind allgemeines Kulturgut. Den raumfüllenden Klangeindruck einer Orgel auf eine Bigband zu übertragen, lag auf der Hand. Dieses große Ensemble verfügt ebenfalls über eine Fülle von Klangfarben, zudem ist es mit wunderbaren Improvisatoren besetzt. Die Musik von Luther läßt bei der Bearbeitung viel Ausdrucksfreiheit zu. Diese findet man im Jazz wieder, erweitert durch die Soloimprovisation. Als Musiker der NDR Bigband war mir die Möglichkeit gegeben, die auf Partitur geschriebene – stumme – Musik in Klang umzusetzen. Das aufregende Unterfangen kulminiert mit der aufregenden Erfahrung der Aufführung.
1. STOTTERNHEIM 1505 Komp./Arr. : Lucas M. Schmid
„Hilf heilige Anna, ich will ein Mönch werden.“ Dieser Satz bestimmt das erste Motiv. Die Zielnote, also die höchste Note, erklingt bei „Mönch“. Luther hielt Wort, er wurde Mönch und nicht Rechtsgelehrter, trotz der Empörung seines Vaters und der Familie. Am Ende von „Stotternheim 1505“ hört man einen langen tiefen Ton, der das Einstimmen der Mönche beim Chorsingen und damit den Eintritt ins Augustinerkloster andeutet.
Dass Luther in einen Orden in der Tradition des spätantiken Kirchenvaters Augustinus eintrat, hat die weitere theologische Entwicklung mitbestimmt. Martin Luther hat sein Leben als Teil einer religiösen Leistungsgesellschaft gedeutet. Durch eine besondere Intensität religiöser Leistung sollte das Anrecht auf ein gnädiges göttliches Urteil im Endgericht verstärkt werden. Wir wissen, dass Luther als Mönch in Erfurt so viele Sunden bei sich aufzuspüren suchte und beichtete, dass es seinem Beichtvater Johann von Staupitz zur Last wurde. Ja, er zweifelte, ob es sich wirklich um Sünden handele. Solche Erfahrungen machen heute nur noch Menschen in bestimmten religiösen Milieus, sie sind kein für heutige Mehrheitsfrömmigkeit charakteristisches Verhalten. Uns ist auch das übersteigerte spätmittelalterliche und frühreformatorische Bild von Gott als einem Gerichtsherrn, der wie ein absolutistischer Monarch unumschränkt herrscht, tief problematisch geworden. Es entspricht in seiner Einseitigkeit weder dem, was Jesus von Nazareth über seinen Vater lehrt, noch dem, was viele Passagen des Alten Testaments über den Gott Israels verkünden. Bedeutsam bis heute ist aber, dass Martin Luther sehr selbstkritisch im Blick auf seinen eigenen Lebensweg formuliert hat, dass sein Ringen um das Heil letzten Endes von purem Egoismus geprägt war. Er erkannte nämlich, dass es ihm insbesondere beim Beichten nicht um Gott, sondern um ihn selbst und seine persönliche Rettung ging. Mit seiner Vorstellung, eine vor Gottes Richterstuhl akzeptable religiöse Leistung erbringen zu können, stellte er sich selbst Gott als eine gleichwertige Größe gegenüber. Gerade eben so, als ob vor einem imaginären Dritten zwei auf derselben Stufe stehende Parteien über ihre Anspruche gegeneinander verhandeln wurden. Als Mönch in der Tradition Augustins wusste Luther aber, dass der Mensch lieber selbst Gott sein will, als zu erkennen, wie wenig perfekt er durch sein Leben stolpert. Das Bemühen um die Vergebung der Sünden nennt die christliche Tradition „Buße“. Am 31.10.1517 (also vor fast 497 Jahren) veröffentliche Martin Luther seine berühmt gewordenen 95 Thesen gegen den Ablass. In der ersten beschreibt er sein Verständnis von Buße: Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht „Tut Buße“ u.s.w. (Matth. 4,17), hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll. Ein weiterer zentraler Punkt in der Frühgeschichte der Reformation war Luthers Auftritt vor Kaiser und Reich beim Reichstag in Worms am 18. April 1521. Lange war die Erinnerung daran durch die Überlieferung geprägt, dass der Reformator seine Rede mit den Worten schloss: „Ich kan nicht anderst, hie stehe ich, Gott helff mir. Amen.“ Damit gab der Reformator vor allem in den nationalen Erinnerungskulturen ein Beispiel für protestantische Standhaftigkeit gegen autoritäre Zumutung. Inzwischen hat sich durchaus die Einsicht im kulturellen Gedächtnis verbreitet, dass Luther seine Wormser Rede höchstwahrscheinlich anders geschlossen hat. Die Erinnerung an diesen authentischen Schluss im Zusammenhang des Jubiläums 2017 ist keine bloße historische Besserwisserei. Sie zeigt vielmehr, dass Luther 1521 erstmals an prominenter Stelle das für die europäische Neuzeit so überaus bedeutsame Thema der Gewissensfreiheit eines Einzelnen gegenüber institutionellen Zwängen prominent zur Geltung brachte. Luther sagte damals: „derhalben ich nicht mag noch will widerrufen, weil wider das gewissen zu handeln, beschwerlich, unheilsam und (ge)ferlich ist. Gott helf mir! Amen.“ Luthers Rede von 1521 war keine feierliche Erklärung der Gewissensfreiheit im modernen Sinne eines allgemeinen Menschenrechts. Er wusste sein Gewissen, wie er selbst kurz vor dem zitierten Schluss seiner Rede sagte, „durch die Worte Gottes gefangen“. Aber er drückte mit seinen Worten seine feste Überzeugung aus, dass weltliche Macht ihre Grenzen an eben diesem Gewissen findet, durch das er selbst sich unmittelbar vor Gott gestellt sah.
2. NU FREUD‘ EUCH LIEBE CHRISTEN GMEIN Komp.: Martin Luther Arr.: Lucas M. Schmid
Luthers erstes Gemeindelied aus dem Jahre 1523.
Wurde im ersten evangelischen Liederbuch, dem Achtliederbuch veröffenlticht. Steht heute noch im Evangelischen Gesangbuch.
Nun freut euch, lieben Christen g’mein, und lasst uns fröhlich springen, dass wir getrost und all in ein mit Lust und Liebe singen, was Gott an uns gewendet hat und seine süße Wundertat; gar teu’r hat er’s erworben. (EG 341,1)
Der Einstimmton erklingt wieder. Die Solotrompete spielt den Choral an und das Orchester – die Gemeinde – antwortet. Der Charakter dieses Stückes tendiert zum „Latin feel“ oder besser gesagt „Salsa“; im übertragenen Sinn einer Form, in der die verschiedensten (Musik-) Strömungen frei von Vorurteilen angenommen und verarbeitet werden.
3. LOBGESANG: NU BITTEN WIR DEN HEILIGEN GEIST Komp.: Alte deutsche Weise Arr.: Lucas M. Schmid
1. Nun bitten wir den heiligen Geist Um den rechten glauben allermeist, Daß er uns behüte an unserm ende, Wenn wir heimfahren aus diesem elende. Kyrieleis!
Der Heilige Geist, für uns oft nur schwer greifbar, wurde von Luther in diesem Lied mit verschiedensten Worten angeredet: 2. Du werthes licht! 3. Du süße lieb‘! 4. Du höchster tröster in aller noth! (EG 124)
Der Heilige Geist ist in biblischer Perspektive schon bei der Entstehung des Lebens wirksam – er schwebte über den Wassern -, er bewirkt neue Lebensaufbrüche und überschreitet das Vorgegebene in seiner Regelhaftigkeit. Gott haucht seinen Geist allem Leben ein, erfüllt es so mit seiner heilsamen Präsenz und bleibt zugleich Subjekt alles Lebendigen. Die dynamische Präsenz des Geistes zeigt sich in der Pfingstgeschichte, wenn vorgegebene Sprache in ihrer verbindenden Gestalt, aber auch ihrer Begrenztheit gegenüber anderem überschritten wird und im Hören, aber auch im Sprechen neue, ungeahnte Verständigung ermöglicht wird.
Als Luther die Kirche in Rom angriff, rief er: „Nun helfe uns Gott und gebe uns der Posaunen eine, mit der die Mauern Jerichos wurden umgeblasen, damit auch wir diese strohernen und papiernen Mauern (Widerstand der Römischen Kirche) umblasen…“ Diesem Ausruf folgend, steht die Posaune im Mittelpunkt des Arrangements. Das von der Gospelmusik inspirierte Stück steht im 5/4 Takt.
4. PATREM Komp.: Nikolaus von Kosel Arr.: Lucas M. Schmid
Die Melodie stammt aus dem 15. Jahrhundert. Sie steht zuerst über einem Credo in einer Handschrift von 1417 in Breslau und weist als Autor Nikolaus von Kosel aus. Nikolaus von Kosel (1390-1423) war ein schlesischer Franziskaner-Minorit. Er gilt als der früheste deutsche Schriftsteller Oberschlesiens und war geprägt durcheine Marien- und Heiligenfrömmigkeit. Luther übernahm seine Melodie und versah sie mit einem neuen, christuszentrierten Text. So wandt er sich gegen das Anbeten der Heiligen.
Vgl Art. 21 der Confessio Augustana von 1530: „Vom Dienst der Heiligen“: „Vom Heiligendienst wird von den Unseren so gelehrt, daß man der Heiligen gedenken soll, damit wir unseren Glauben stärken, wenn wir sehen, wie ihnen Gnade widerfahren und auch wie ihnen durch den Glauben geholfen worden ist; außerdem soll man sich an ihren guten Werken ein Beispiel nehmen, ein jeder in seinem Beruf.* Aus der Hl. Schrift kann man aber nicht beweisen, daß man die Heiligen anrufen oder Hilfe bei ihnen suchen soll. […]“
Das Altsaxophon übernimmt in diesem Stück den Solopart. Das Orchester setzt in den Fermaten ein und verleiht dem Credo verschiedene Stimmungen als Synonym für Zustand, Entwicklungen, Phasen. Die Soloimprovisation des Altsaxophons zerrt diese Stimmungen in die Extreme.
5. VOM HIMMEL HOCH – EIN KINDERLIED Komp.: vermutlich aus dem Niederdeutschen Arr.: Lucas M. Schmid
Vom Himmel hoch, da komm ich her. Ich bring’ euch gute neue Mär, Der guten Mär bring ich so viel, Davon ich singn und sagen will. (EG 24,1)
Hier heißt es von der gute Mär, also von der frohen Botschaft, vom Evangelium „Davon ich singen und sagen will…“ Davon ich singen und sagen will – in der Reihenfolge: Musik als erstes Medium der Verkündigung! Davon ich singen und sagen will: Also, erst das Singen, dann das Sagen – erst die Performance, dann das kognitive Verstehen – oder wenn Sie es auf den Glauben übertragen wollen: Glaube ist zuallererst Vertrauen, kindliches Zutrauen, und dann erst Wissen und Verstehen. Dieser Vorgang ist für den christlichen Glauben grundlegend. Der Ausruf des Orchesters „Susanine!“ spielt auf die 14. Strophe von Luthers Text an und bezeichnet ein veraltetes Wort für ein Wiegenlied, das heute nur noch hier vorkommt.: Davon ich allzeit fröhlich sei, Zu springen, singen immer frei Das rechte Susaninne schon, Mit Herzenslust den süßen Ton. (EG 24,14)
6. KATHARINA VON BORA / AMOUR FOU Komp./Arr.: Lucas M. Schmid
Am 13. Juni 1525 heiratete Luther Katharina von Bora. Diese Jazz-Ballade spielt darauf an, dass beide es sich zu Beginn nicht leicht gemacht haben. Zunächst hielt Luther die Tochter aus verarmtem Rittergeschlecht für hochnäsig. Dennoch nahm er sie aus Vernunftgründen zur Frau: Sie war eine ehemalige Nonne, die aus ihrem Kloster entflohen war. Die Hochzeit eines ehemaligen Mönchs mit einer ehemaligen Nonne war ein kräftiges Symbol gegen die von Luther abgelehnte Verpflichtung zum Zölibat. Dass aber dann auch die Emotionen erwachten, ist eine wunderbare Weiterentwicklung der Geschichte. Ja, sie lernten sich nicht nur kennen, sondern auch lieben. Und das offene Haus, das sie führten und das unter Katharinas Leitung stand, wurde zum Modell für das evangelische Pfarrhaus der letzten fünf Jahrhunderte. Katharina von Bora wurde zu der „Lutherin“ (Eva Zeller). Und sie erinnert uns heute stellvertretend an die Frauen, die im 16. Jahrhundert die Reformation vorangetrieben haben. Und in deren Erbe die Frauen stehen, die seit 40 Jahren in unserer Landeskirche als Pfarrerinnen ordiniert wurden. Frauen, die dann auch als Superintendentin oder als Präses Leitungsverantwortung in unserer Kirche übernommen haben. Martin Luther hat in seiner großen Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ formuliert: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Es geht nicht darum, über Freiheit nur zu reden, sondern darum, die Freiheit zu leben.
Musikalisch baut sich anfangs eine Spannung auf , die sich dann in einen liegenden Ton, nämlich D, auflöst. Dieser Vorgang findet mehrmals im Stück statt und deutet auf die Spannung, die sich in einer anfänglichen Liebesbeziehung aufbaut, ein Stau der Gefühle, sozusagen ein Kribbeln im Bauch, und dann kommt der erlösende , entspannende Moment , der diese positive Spannung wohltuend auflöst. Die Entspannung kann das Erwidern der Gefühle sein , ein verzückter Blick, oder ein Lächeln, ein Erwidern der Gefühle.
7. GOTT DER VATER WON UNS BEY Komp.: deutsche Litanei aus dem 15. Jhr. von Luther bearbeitet Arr.: Lucas M. Schmid
1. Gott der Vater wohn uns bei und lass uns nicht verderben, Mach uns aller Sünden frei und hilf uns selig sterben, für dem Teufel uns bewahr, halt uns bei festem Glauben […] Amen, Amen, das sei war, so singen wir Halleluia. 2. Jesus Christus wohn uns bei etc. 3. Heilig Geist der wohn uns bei etc.
Der trinitarische Aufbau des Liedes (das als eines der wenigen Luther-Lieder nicht im EG abgedruckt wurde) inspiriert zu einer trinitarischen Deutung der Musik, Gott der Vater wohn uns bei:Musik ist eine Gabe des Schöpfers, die von seiner Weisheit und Phantasie kündet. Sie ist eine freie Kunst, die uns Menschen zur Gestaltung anvertraut ist. Musik stiftet Beziehung. Sie kann Ausführende und Zuhörer mit Freude erfüllen, ja sogar den Schöpfer verherrlichen. Jesus Christus wohn uns bei: Das Evangelium ist kein papiernes Lesewort, die frohe Botschaft von Jesus Christus ist ein sinnliches Klangereignis. Deshalb nimmt die christliche Kirche die Musik als Gabe Gottes an und lässt sich durch sie bewegen und anreden. Als klingendes Wort Christi lädt die Kirchenmusik Menschen zum Glauben ein, tröstet und vergewissert. Klagend und lobend, flehend und dankend gibt sie dem dreieinigen Gott die Ehre, Heilig Geist der wohn uns bei: Gottes Geist ist „Poet und Kantor.“ Er macht die natürliche Gabe der Musik zu einem Instrument, das Gott die Ehre gibt und Glauben schafft, Gemeinschaft stiftet und tröstet, aber auch provoziert und anregt. Kirchenmusik bietet einen vielfältigen Beitrag zur Gegenwartskultur, sie schafft auch ein Stück „Gegenkultur zum Zeitgeist“. Sie geht aber auch nicht gänzlich an den Hörgewohnheiten und Erwartungen der Menschen vorbei.
Lucas Schmid hat die Anmerkung „…von Luther bearbeitet…“ zum Anlass genommen, die Bearbeitung dieses Stückes fortzusetzen. Um dem vorgegebenen alla breve gerecht zu werden, finden Wechsel zwischen einem schnellen 3/4 Takt und einem medium Swing 4/4 Takt statt. Wer den Text zur Melodie kennt, wird bemerken, das der Textabschnitt „Gott der Vater won uns bey…“ in einer strahlenden Dur Farbe erscheint und dass einige Takte später im Abschnitt „…für dem Teufel uns bewar…“ die Melodie in Moll ertönt.
8. HYMNUS / NU KOMM DER HEIDEN HEILAND Komp.: Altlateinisches Lied, Text Luther nach nach dem Hymnus veni redemptor gentium des Ambrosius von Mailand um 386 Arr.: Lucas M. Schmid
Luther durchlebte auch die Einsamkeit, den quälenden Selbstzweifel, die fast selbstzerstörerische Askese und äußerst labile Gemütszustände.
Seinen Trost fand er im Blick auf Jesus Christus. Er war Luther das Licht im Dunkel der Seelennacht. Von der Geburt Jesu, also von der Menschwerdung Gottes, erzählt dieses Lied: Nun komm, der Heiden Heiland, der Jungfrauen Kind erkannt, dass sich wunder alle Welt, Gott solch Geburt ihm bestellt. (EG 4,1)
In reformatorischer Perspektive ist das ganz zentral: In Jesus Christus hat Gott sich so auf die Menschen eingelassen, dass er alles, was die Menschen von ihm trennte, hinweggenommen hat. In Christus hat Gott zum Heil der Menschen gehandelt, er hat die Sünde und den Tod als von Gott Trennendes ein für alle Mal weggenommen. Weil in Jesus Christus Gott umfassend und für alle Menschen gehandelt hat, betont Luther: Jesus Christus allein ist das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt. Mit der Formel „Christus allein“ – lateinisch solus Christus – erinnern die Reformatoren an diese besondere Bedeutung und Exklusivität Jesu Christi.
Das Arrangement ist gefärbt vom expressiven Tango Nuevo.
9. JOANNES HUSSEN LIED / JESUS CHRISTUS UNSER HEILAND Komp.: Johann Hus, Luther Arr.: Lucas M. Schmid
Jesus Christus, unser Heiland, Der von uns den Gotteszorn wandt, Durch das bitter Leiden sein – Half er uns aus der Höllen Pein. (nicht im EG)
Sola gratia etc. – aber nicht Solo Luthero. Luther befand sich in guter Gesellschaft: Philipp Melanchthon hat für die Entwicklung der Bildungsinstitutionen nicht nur im deutschen Raum eine entscheidende Bedeutung. Ulrich Zwingli hat die Verbindung von Reformation und Freiheit in der Züricher Bürgerschaft Gestalt werden lassen. Johannes Calvin begründete die Internationalität der Reformation durch seine Einbindung von französischen und anderen europäischen Traditionen. Die reformatorische Bewegung aber hätte sich nicht so rasant entwickelt, wenn nicht Landesfürsten wie Friedrich der Weise von Sachsen oder Philipp von Hessen sie gefördert hätten und die Bürgerschaften von Städten wie Zürich, Hamburg und Genf. Es waren aber nicht nur diese Herrscher und Theologen, sondern ganze Netzwerke verbundener Männer und Frauen, die das reformatorische Zeitalter möglich machten und prägten. Im größten Reformationsdenkmal der Welt, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Worms erbaut wurde, kommt das dadurch bildlich zum Ausdruck, dass dort neben den klassischen Reformatoren und den genannten Landesfürsten auch sogenannte Vorreformatoren wie Johannes Hus (1369-1415) abgebildet sind. Von ihm stammt das nächste Lied.
Die Melodie dieses Liedes ist in der Urform klar strukturiert. Obwohl auf dem Notensystem keine Taktstriche eingezeichnet sind, läßt sich die Melodie in eine gerade Taktart, in diesem Falle in einen 6/4 Takt und in zwei Dreiergruppen, einteilen. Grundlage für das einfache Muster des Rhythmus war die klare Aussage von Luthers Text. Gegensätze wie „hell“ und „dunkel“ im Text werden musikalisch mit forte und piano sowie durch die verschiedenen Soloimprovisationen umgesetzt.
10. L. DER REBELL Komp./Arr.: Lucas M. Schmid
Dieses Musikstück hat Lucas Schmid Martin Luther gewidmet, einem Menschen, der Stärke und Schwäche extrem auslebte, und es verstand Visionen zu verwirklichen.
Aber wie ist das nun mit Luther und Jazz, ja mit Gott und Jazz. „Gott kann kein Jazz“ – so hieß eine Rezension der Platte „Wynton Marsalis and Eric Clapton play the blues“, die 2011 erschien. Ich meine: Das stimmt so nicht. Von der Jazz-Sängerin Sarah Kaiser habe ich den Satz gehört: „Jesus ist Pop“. Pop, die Kurzform von Populär, kommt vom lateinischen Wort „populus“. Und das heißt: „das Volk, die Leute, die Menschen“. Zu Weihnachten feiern wir Jesu Geburt. Gott wurde Mensch. Wurde populus, wurde populär. Alles begann ja mit der Schöpfung. Gott schuf den Menschen und sah ihn an und „siehe, alles war sehr gut“. Doch dann kam mit dem Sündenfall alles ganz anders als geplant. Gott musste reagieren. Musste improvisieren. Und tat das, indem er Mensch wurde. Wenn es in einer Musikart um das Improvisieren, wenn es in einer der vielen Formen der Gottesgabe Musik um die Improvisation geht, dann im Jazz. Was ist denn Improvisation? Wenn ich es recht verstehe, ist Improvisation der kreative, spontane und subjektbestimmte Umgang mit dem, was vorgegeben ist. Ist Gott nicht kreativ, ist der Schöpfer nicht schöpferisch? Und ist nicht Gott der Inbegriff der Einheit von Form und Freiheit, Komposition und Inspiration? Ist Gott nicht Grund allen Lebens, und Leben nicht immer auch Improvisation? Gott kann kein Jazz? Er kann es wohl! Die kreative, spontane und individuelle Verarbeitung der Tradition lässt sich auch bei Martin Luther finden. Die Reformation kann man ja unter vielen verschiedenen Blickwinkeln sehen. Ich deute sie als ein religiöses Ereignis. Denn in ihrem Zentrum steht die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zu Gott. Luther war wie die anderen Reformatoren davon überzeugt, dass Gott selbst den rechten Glauben wecken und so das Verhältnis zu Gott erneuern werde. Im Mittelpunkt seines Denkens steht der Begriff der Rechtfertigung. Ein Wort, das sich heutzutage nicht von selbst versteht. Was es bedeutet, können wir vielleicht noch anhand der Redewendung „Gnade vor Recht“ verstehen. Ein Mensch, der nach Recht und Gesetz zu verurteilen ist, darf doch auf Gnade oder auch Begnadigung hoffen. Solche Formen der Vergebung „allein aus Gnaden ohne des Gesetzes Werke“ (Röm 3,28) kennen wir auch heute, selbst wenn sie in unserem Rechtssystem anachronistisch wirken. Der Mensch wird nicht bemessen nach dem, was er nach außen darstellt oder auch wie er persönlich dasteht, sondern er wird von Gott geliebt, anerkannt, gewürdigt, ganz unabhängig von seinem Bildungsstand, Einkommen, sozialen Hintergrund und gesellschaftlichen Ansehen. Diese Anerkennung oder Würdigung macht den Menschen wahrhaft frei. Schuld belastet ihn nicht mehr, ist aber auch nicht einfach vergessen, sondern ist als bekannte Schuld vergeben und dadurch überwunden. Genug der Predigt. Wir merken, wie unsere Worte nur um das kreisen können, was Gott für uns ist. Wir können ihn nicht festlegen mit unseren Gedanken, können ihn nicht definieren mit dem, was wir sagen. Das letzte Wort hat deshalb die Musik.
Predigt im Kantatengottesdienst in Siegen-Weidenau am 02.02.2020
„Alles, alles nur nach Gottes Willen!“ Das ist nicht nur der Titel, sondern auch die Kernaussage der großartigen Bachkantate, die heute im Mittelpunkt dieses Gottesdienstes steht. Einiges ist dazu in der Einführung schon gesagt worden. Und auch die Predigt wird sich mit dieser Kernaussage beschäftigen: „Alles nur nach Gottes Willen!“
In meiner Textfassung hat die Kantate 72 insgesamt 50 Zeilen. 21mal kommt Gottes Wille darin vor, fulminant gleich am Anfang, der ja im Grunde ein Lobpreis, ein Gloria ist – diesen Chor hat Bach ja später zum Gloria in seiner Messe in g-Moll weiterverarbeitet (BWV 235). Am häufigsten kommt der Wille Gottes im Rezitativ vor, das wir schon gehört haben: „Herr, so du willst“ ist das leitende Motiv hier. 9mal erklingt dieser Satz. Wenn man will, kann man hier in die Bachsche Zahlenmystik einsteigen. Was bedeuten diese Zahlen? Denn wir können davon ausgehen, dass Bach als Komponist und Salomo Franck als Texter das „Herr, so du willst“ nicht zufällig so häufig wiederholt haben.
Aber
ich will dieser Spur nicht folgen, sondern mich mit Ihnen zusammen
eher auf den Weg machen, dem Willen Gottes und seiner Bedeutung zu
folgen. Denn auch in den Teilen der Kantate, die nach der Predigt
folgen werden, spielt der Wille Gottes die zentrale Rolle. Allerdings
wird hier zunächst die zweite Person der Dreifaltigkeit in das
Zentrum des göttlichen Willens gestellt: der Heiland Jesus Christus
will etwas tun, heißt es im zweiten Rezitativ und in der folgenden
Arie. Der Schlusschoral, dessen Text Bach von Markgraf Albrecht von
Preußen übernommen hat, nimmt dann beides auf, bis es in der
letzten Zeile heißt, dass Gott den Gläubigen nicht verlassen will.
Wie gesagt, 21mal kommt in der Kantate der Wille Gottes vor. Und der Wille des Menschen? 1mal. Und selbst diese Erwähnung des menschlichen Willens ist sofort auf Gott bezogen: Gerade eben in der Alt-Arie hieß es: „Mit allem, was ich hab und bin, will ich mich Jesu überlassen“.
Der
Wille des Menschen ist sein Himmelreich, heißt es im Sprichwort. Bei
Bach hören wir, dass das Himmelreich mit dem Willen des Menschen
nichts zu tun hat, sondern dass hier der Wille Gottes 100%ig
entscheidend ist. Wirklich zu 100%. „Alles“
war das erste Wort des Chores zu Beginn. „Mit allem,
was ich hab und bin“, soll ich mich Jesus überlassen, ermahnt
mich die Arie. Und im Schlusschoral geschehe Gottes Wille „allezeit„.
Bach
und Franck zeigen sich hier als gute evangelische Theologen, weil sie
sich auf zentrale Aussagen des neuen Testaments beziehen.
Die
vorgeschriebene Bibellesung für den Sonntag der Uraufführung am 27.
Januar 1726 stand im 8. Kapitel des Matthäus-Evangeliums. Es ist die
Geschichte zweier Heilungen. Zunächst kommt ein
Aussätziger zu Jesu, „betete ihn an und sprach: Herr, wenn du
willst, kannst du mich reinigen. Und Jesus streckte die Hand aus,
rührte ihn an und sprach: Ich will’s
tun; sei rein! Und sogleich ward er von seinem Aussatz rein.“
Nachdem der Heiland auf diese Weise seine Gnadenhand ausgestreckt
hat, tritt der berühmte Hauptmann von Kapernaum auf und sagt: „Herr,
mein Knecht liegt zu Hause und ist gelähmt und leidet große Qualen.
Jesus sprach zu ihm: Ich will
kommen und ihn gesund machen.“ Und indem er es will, ist das
Wichtigste schon geschehen.
Überhaupt
spielt der Wille Gottes im Evangelium nach Matthäus immer wieder
eine zentrale Rolle: „Dein Wille geschehe!“, so lehrt Jesus
im Vaterunser beten (Mt 6,10). Und ein Kapitel weiter lesen wir in
der Bergpredigt: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Es
werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr!, ins Himmelreich
kommen, sondern die den Willen meines Vaters im Himmel tun“ (Mt
7,20-21). Dass der Wille Gottes geschieht, ist demnach zwar unsere
Aufgabe, aber zunächst etwas, worum wir Gott bitten sollen. Im
Vaterunser geht die Bitte ja weiter „…wie im Himmel, so auf
Erden.“ Ob Gottes Wille im Himmel befolgt, davon können wir
zwar ausgehen, aber wir wissen es nicht. Was wir wissen: Hier auf der
Erde geschieht dies erst andeutungsweise und sehr bruchstückhaft.
Jesus
geht uns dabei als Beispiel voran bis zum Letzten, wenn er kurz vor
seinem Tod bittet: „Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser
Kelch an mir vorüber; doch nicht, wie ich will, sondern wie du
willst“ (Mt 26,39).
So
weit, so klar. Aber was heißt das nun konkret, wenn wir Christen
darum bitten, dass Gottes Wille allezeit geschehe? Was ist denn der
Wille Gottes genau? Das ist ja nicht immer so einfach zu erkennen.
Ich
nehme Sie für ein Beispiel mit auf eine kurze Reise in die
Vergangenheit. Nicht ins Jahr 1726 nach Leipzig, als die Kantate
uraufgeführt wurde, sondern ins Jahr 1095. Wir reisen nach
Clermont in Frankreich, wo – wie der Zufall es will – gerade ein
Konzil stattfindet. Eine lateinische Bischofssynode ist
zusammengekommen und Papst Urban II. ist ihr Vorsitzender. Man ist
mit Problemen des innerkirchlichen Alltags beschäftigt, zum Beispiel
mit dem Zölibat. Das war also schon damals ein Thema, nicht nur
heute auf dem synodalen Weg der katholischen Kirche. Aber nicht
deshalb ist die Synode bekannt geworden, sondern durch den Aufruf des
Papstes, die heiligen Stätten im heiligen Land zu befreien. Von den
muslimischen Seldschuken, die Israel und Jerusalem besetzt hatten.
Papst Urban II. ruft dagegen zum ersten Kreuzzug auf. Und die
Synodalen, die 14 Erzbischöfe,
225 Bischöfe und mehr als 400 Äbte reagieren mit einem
berühmt gewordenen Ruf: „Deus lo vult! Gott will es!“
Gott
will es! Davon waren die Synodalen 1095 voll überzeugt. Wir heute
sind das nicht mehr. Ganz im Gegenteil: Wir halten die Kreuzzüge für
eines der dunkelsten Kapitel der Kirchengeschichte. Wir glauben
nicht, dass sie Gottes Willen entsprochen haben: „Deus non vult!
Gott will es nicht!“ Fazit: Nur weil irgendjemand, sei es ein
Papst, ein Erzbischof oder auch nur ein Landeskirchenrat behauptet:
„Dies ist Gottes Willen“, muss es noch lange nicht auch
wirklich Gottes Willen sein.
Wie
können wir erkennen, was Gottes Willen ist?
Dietrich
Bonhoeffer hat sich in seiner Ethik (DBW Bd. 6, S. 322ff.) dazu
einige Gedanken gemacht, die mir hier weitergeholfen haben:
„Der
Wille Gottes kann sehr tief verborgen liegen unter vielen sich
anbietenden Möglichkeiten. Weil er auch kein von vornherein
festliegendes System von Regeln ist, sondern in den verschiedenen
Lebenslagen ein jeweils neuer und verschiedener ist, darum muss immer
wieder geprüft werden, was der Wille Gottes sei. Herz, Verstand,
Beobachtung, Erfahrung müssen bei dieser Prüfung
miteinanderwirken.“
Aber
wir müssen aufpassen, dass Herz, Verstand, Beobachtung und Erfahrung
nicht mit dem Willen Gottes verwechselt werden. Und vor allem sollen
wir nicht so tun, als wüssten wir ein für allemal, was Gottes
Willen ist.
Erneut
Bonhoeffer: „Weil ja das Wissen um Jesus Christus, weil … die
Erneuerung, die Liebe, und wie man es immer ausdrücken mag, etwas
lebendiges ist und nicht etwas ein für allemal Gegebenes,
Feststehendes, Inbesitzgenommenes, darum entsteht mit jedem neuen Tag
die Frage, wie ich heute und hier und in dieser Situation in diesem
neuen Leben mit Gott, mit Jesus Christus bleibe und bewahrt werde.“
Wenn wir Gottes Willen erkennen wollen, müssen wir also jeden Tag neu danach fragen. Und seien wir misstrauisch gegenüber denen, die allzu vollmundig behaupten, sie wüssten ein für allemal den Willen Gottes. Und damit unterstellen, dass die anderen das nicht wüssten. Vielleicht haben sie nur die Eingebungen ihres Herzens oder die Überzeugungen ihres Verstandes für Gottes Willen gehalten. Vielleicht haben sie die Lebendigkeit und Menschenfreundlichkeit des Gottes unterschätzt, mit dessen angeblichem Willen sie ihre eigenen Überzeugungen untermauern wollten.
Es geht weniger darum, vollmundig zu behaupten, den Willen Gottes zu kennen. Es geht eher darum, den Willen Gottes zu tun. In seinem Leben zeigt Jesus auf, was die Orientierung an Gottes Willen bedeutet. Er zeigt das, wenn er Menschen das Leben rettet. Er zeigt das, wenn er sie gesund macht. Er zeigt das, wenn er Ausgestoßene in die Gemeinschaft aufnimmt und mit ihnen isst und trinkt. Er zeigt das, wenn er lebensfeindliche Regeln aufhebt, damit Menschen frei werden und leben können.
All‘
das heißt, sich an Gottes Willen zu orientieren – und das sind
lauter gute Dinge, die die Welt schöner machen und den Menschen zu
einem besseren Leben helfen. In der Nachfolge Jesu die Welt schöner
machen und den Menschen zu einem besseren Leben helfen, das ist aber
kein Heile-Welt-Idylle, sondern das kann sich auch handfest äußern:
In unserem Einsatz für den Schutz der Umwelt und gegen den
Klimawandel. In unserer Abwehr jeglicher Diskriminierung von Menschen
nach ihrer sexuellen Orientierung. In unserem Beharren darauf, dass
man keine Menschen im Mittelmeer ertrinken lässt. Punkt.
Und
in all‘ diesen Formen unserer Nachfolge können wir darauf hoffen,
dass Gott sein Versprechen hält, das in den letzten Zeilen der
heutigen Bachkantate so formuliert wird:
„Wer
Gott vertraut, wer auf ihn baut, / den will er nicht verlassen.“
Dann
können wir sie mit ganzem Herzen hören, mit ganzer Seele in uns
aufnehmen und mit ganzem Gemüt mitsingen.
Amen.
BWV 72
Alles nur nach Gottes Willen
Text 1-5: Salomo Franck
1715; 6: Markgraf Albrecht
von Preußen 1547
Uraufführung 27.
Januar 1726, Leipzig
1. Coro
Alles nur nach Gottes Willen, So bei Lust als Traurigkeit, So bei gut als böser Zeit. Gottes Wille soll mich stillen Bei Gewölk und Sonnenschein. Alles nur nach Gottes Willen! Dies soll meine Losung sein.
2. Recitativo e Arioso
A
O selger Christ, der allzeit seinen Willen In Gottes Willen senkt, es gehe wie es gehe, Bei Wohl und Wehe. Herr, so du willt, so muss sich alles fügen! Herr, so du willt, so kannst du mich vergnügen! Herr, so du willt, verschwindet meine Pein! Herr, so du willt, werd ich gesund und rein! Herr, so du willt, wird Traurigkeit zur Freude! Herr, so du willt, und ich auf Dornen Weide! Herr, so du willt, werd ich einst selig sein! Herr, so du willt, – lass mich dies Wort im Glauben fassen Und meine Seele stillen! – Herr, so du willt, so sterb ich nicht, Ob Leib und Leben mich verlassen, Wenn mir dein Geist dies Wort ins Herze spricht!
3. Aria A
Mit allem, was ich hab und bin, Will ich mich Jesu lassen, Kann gleich mein schwacher Geist und Sinn Des Höchsten Rat nicht fassen; Er führe mich nur immer hin Auf Dorn- und Rosenstraßen!
4. Recitativo B
So glaube nun! Dein Heiland saget: Ich wills tun! Er pflegt die Gnadenhand Noch willigst auszustrecken, Wenn Kreuz und Leiden dich erschrecken, Er kennet deine Not und löst dein Kreuzesband. Er stärkt, was schwach, Und will das niedre Dach Der armen Herzen nicht verschmähen, Darunter gnädig einzugehen.
5. Aria S
Mein Jesus will es tun, er will dein Kreuz versüßen. Obgleich dein Herze liegt in viel Bekümmernissen, Soll es doch sanft und still in seinen Armen ruhn, Wenn ihn der Glaube fasst; mein Jesus will es tun!
6. Choral
Was mein Gott will, das g’scheh allzeit, Sein Will, der ist der beste, Zu helfen den’n er ist bereit, Die an ihn glauben feste. Er hilft aus Not, der fromme Gott, Und züchtiget mit Maßen. Wer Gott vertraut, fest auf ihn baut, Den will er nicht verlassen.
A performance by the Bach Society of Minnesota, Paul Boehnke conducting.
Die
Kirchenmusik muss breiter aufgestellt werden. Das ist das Ergebnis
einer Fachtagung der Evangelischen Kirche von Westfalen. Moderne Formen
wie Neues Geistliches Lied, Gospel und Worship haben im Gemeindealltag
längst ihren Platz erobert. Die Ausbildung von Kirchenmusikerinnen und
-musikern muss diesen Bereich neben der traditionellen klassischen Musik
sehr viel stärker berücksichtigen.
„Es ist an der Zeit, das Schubladendenken aufzugeben“, sagte der Leiter des Instituts für Aus-, Fort- und Weiterbildung der westfälischen Kirche, Peter Böhlemann, am Donnerstag in Witten. „Nur wenn sie gemeinsam auftritt, hat die Kirchenmusik eine Zukunft“, betonte auch der in der Landeskirche zuständige Dezernent, Landeskirchenrat Vicco von Bülow. Die Evangelische Kirche von Westfalen sieht er dabei auf einem guten Ergebnis: Mit der Evangelischen Popakademie Witten und der Ausbildung von Popkantorinnen und -kantoren habe man die Weichen in die richtige Richtung gestellt.
Mehr als 100 Pfarrerinnen und Pfarrer, Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker sowie interessierte Gemeindemitglieder diskutierten im Lukaszentrum Witten unter dem Titel „Praise’n’Worship, NGL & Co.“ die Frage: „Welche Popularmusik braucht die Gemeinde?“. Die Antwort war eindeutig: Die Gemeinde braucht singbare Lieder, es macht dabei keinen Unterschied, aus welcher Zeit oder Kategorie sie stammen.
Referenten
und Teilnehmer berichteten, wie sehr Richtungskämpfe und Abgrenzungen
die Entwicklung von Gottesdiensten und Gemeinden blockieren können.
Neben dem Streit, ob der klassische Orgelchoral oder moderne Bandmusik
geeigneter sei, kämen auch Auseinandersetzungen um neuere Formen der
Musik hinzu. So sehe sich die Worshipmusik, die an vielen Stellen für
volle Kirchen sorgt, oft innerkirchlicher Kritik ausgesetzt. „Die
Lobpreisszene verengt das biblische Gottesbild auf den Vater und König,
und sie hat die Tendenz, den christlichen Glauben ganz auf das
individuelle Wohlgefühl im Moment der Anbetung zu reduzieren“,
bemängelte etwa der Publizist Andreas Malessa. Vielen Kirchenmusikern
und Pfarrerinnen sei sie auch musikalisch zu simpel in Aufbau und
Textform. „Da wird ein Vers dreimal wiederholt und nur ein Wort dabei
ersetzt“, so Malessa.
Neues geistliche Lieder stammt aus den 60ern
Allerdings
seien auch andere, vermeintlich moderne Formen der Kirchenmusik für
weite Teile der Bevölkerung längst veraltet. „Das sogenannte neue
geistliche Lied stammt aus den 60ern, die Musik, die wir im Radio oder
Internet hören, ist längst weitergegangen“, erklärte Experte Malessa.
Notwendig sei es aber nicht, derartige Ansätze wie Worship, Gospel oder
NGL aufzugeben, sondern sie weiterzuentwickeln. Außerdem werde es immer
wichtiger, Musik nicht nur vorzutragen, sondern die Gemeinde
anzusprechen, ihre Emotionen zu wecken und sie zum Mitsingen zu bringen,
so Malessa.
An dieser Stelle betonten etliche der anwesenden Kirchenmusikerinnen und – musiker, dass ihre Ausbildung sie auf derartige Aufgaben nicht vorbereite. Ansätze wie der Evangelischen Kirche von Westfalen, inzwischen auch Pop-Kantoren auszubilden, seien ein Schritt in die richtige Richtung. Notwendig sei aber, nicht nur Teilzeitstellen, sondern ausreichend 100-Prozentstellen einzurichten. Wo das einer Gemeinde alleine nicht möglich sei, solle man über Kooperationen mit Nachbargemeinden nachdenken. Dabei dürfe auch die Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche kein Tabu sein. (Gerd-Matthias Hoeffchen)
Aus Gründen habe ich mir in den letzten Tagen eine Reihe von Musikvideos aus dem Worship-Bereich angeschaut und angehört. Nicht alle so ganz mein Geschmack. Aber das hier fetzt richtig – das „Schweizer Worship Kollektiv“. Mir vorher unbekannt, aber guuuut.
Schweizer Worship Kollektiv Ich säge’s zu mir sälber (feat. Céline Bührer)
Und das Ganze auf Hochdeutsch:
Vers Ich sag’ es meiner Seele Der Herr ist gut, er lässt mich nie im Stich Ich sag es meiner Zukunft Der Herr ist treu, er hält, was er verspricht PreChorus 1 Den Gefühlen mach’ ich klar dass ich im Glauben vorwärts geh’ Dem Verstand rufe ich zu: Gott, der Herr wird zu mir stehn Chorus Lob’ den Herrn – in deinen Zweifeln Ehre ihn – im Treubleiben Schau auf ihn – wenn du nicht weitersiehst Preise ihn – in deinen Kämpfen Dank Ihm laut – trotz den Dämpfern Lob’ den Herrn, meine Seele – jetzt! PreChorus 2 Meine Angst weis’ ich zurück Weil Gottes Hand mich sicher lenkt Meinen Sorgen mach’ ich klar Dass mein Versorger an mich denkt
Ilutes Kleinen Wertekanon von 2014 habe ich erst jetzt entdeckt. Und bin ganz begeistert. Sie singt von Werten wie Solidarität und Respekt, die ihr wichtig sind. Und dann singt sie: „Ich vermisse den Moment, in dem ich von all diesen verstaubten Werten, all diesen sperrigen Worten singen kann, ohne dass es komisch klingt.“ Das geht mir ganz ähnlich mit meinen Werten und meinem Glauben. Ich singe zwar nicht davon, ich rede und schreibe nur davon. Aber ich sehne mich auch danach, von Gott und der Welt, von Glauben und Unglauben, von Rechtfertigung und Erlösung, von all diesen und noch viel mehr, reden und schreiben zu können, ohne dass es komisch klingt. Sind halt sperrige Worte. Die mir wichtig sind.
Und mit der Popularmusikausbildung der Hochschule für Kirchenmusik der Evangelischen Kirche von Westfalen – die deutschlandweit erstmalig Rock, Pop, Jazz und Gospel in der Kirche als kirchenmusikalischen Studientag anbietet.