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Kirchliches

Kirche (Symbolbild)

Andacht im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Westfalen

am 29.08.2023

Liebe LKA-Gemeinde,

erinnern Sie sich noch an Ihren Sommerurlaub? Fast schon so lange her, dass er kaum mehr wahr ist. Aber wenn ich nachdenke, weiß ich es wieder: Ich war wie im letzten Jahr in Südtirol. Und diesmal sind wir nicht über den Brenner gefahren, sondern über den Reschenpass. Da liegt der Reschensee. Sehr pittoresk. Aber kein natürlicher See, sondern ein Stausee. Für die Stromerzeugung wurden 1950 das Dorf Graun und weitere Siedlungen geflutet. Von den Dörfern sieht man nichts mehr. Fast nichts. Der Kirchturm von Alt-Graun ragt noch aus dem Wasser. Je nach Wasserstand geht ihm das Wasser bis zum Fundament oder zum Glockenfenster. In diesem Jahr war der See so etwa auf mittlerer Höhe.

Ich habe ein Foto gemacht und auf Facebook und Instagram veröffentlicht: mit dem spontanen Kommentar: Ein Symbolbild für die Kirche. Und bekam prompt die Rückfrage: Ein Symbolbild für was? Für „Wasser bis zum Hals“ oder für „Wandeln über den Wassern“?

Es gibt eine biblische Geschichte, in der beides drin vorkommt: Jesus und der sinkende Petrus  (Mt 14,22-33)

22 Und alsbald drängte Jesus die Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm ans andere Ufer zu fahren, bis er das Volk gehen ließe. 
23 Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er auf einen Berg, um für sich zu sein und zu beten. Und am Abend war er dort allein. 
24 Das Boot aber war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen.
25 Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer. 
25 Und da ihn die Jünger sahen auf dem Meer gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht. 
27 Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht!
28 Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. 
29 Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. 
30 Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, rette mich! 
31 Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm:  Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?
32 Und sie stiegen in das Boot und der Wind legte sich. 
33 Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!

Ein bisschen gemein, diese Geschichte. Erst schickt Jesus seine Jünger mit dem Boot weg, weil er alleine beten will. Die Sturmwolken dürften sich doch wohl schon über dem See zusammengezogen haben. Und als der Sturm dann in der Nacht so richtig losgegangen war, da geht er eben mal so übers Wasser und jagt seinen Jüngern einen Riesenschrecken ein. „Seid getrost, ich bin’s! Fürchtet Euch nicht!“, sagt das Gespenst, für das ihn die Jünger wohl halten wohl halten müssen. Toller Auftritt.

Einer von den verschreckten Jüngern will’s dann aber genau wissen. „Herr, bist Du’s, so befiehl mir, zu Dir zu kommen auf dem Wasser.“ Petrus. Natürlich. Wer sonst: Will mal wieder zeigen, dass er der Mutigste ist. Steigt aus dem Boot und geht auf Jesus zu. Auf dem Wasser. Aber kaum wird ihm klar, was da passiert, dass es Wellen und Wind gibt, beginnt er zu sinken. „Herr, hilf mir!“

Was Jesus dann tut, ist so ein bisschen gönnerhaft: Er greift Petrus‘ Hand und zieht ihn raus. Um das Ganze dann noch zu toppen, nennt er ihn auch noch „kleingläubig“. Und kritisiert seinen Zweifel.

Ist das nicht gemein? Darf man so mit der Angst der Menschen umgehen? Und selbst wenn ich mal einräume, dass diese biblische Geschichte sowas wie eine Fabel ist: Was will sie uns heute erzählen, die wir vor dem Kirchturm von Alt-Graun im Reschensee und vor unserer Kirche stehen, der das Wasser bis zum Hals steht?

Ein paar Ideen dazu.

Menschen haben Angst. Mit einem Boot in dunkler Nacht auf stürmischem See zu sein: archetypischer kann man Angst kaum darstellen. Das ist der Stoff, aus dem Alpträume sind. Dahinter steht die Urangst vor dem Tod. Die Fluten werden mich verschlingen und meine Existenz auslöschen. Das ist der Urgrund aller menschlichen Angst. Und steht er nicht auch hinter unserer Angst um die Zukunft unserer Kirche?

Wie immer man zu Jesu Auftritt mit dem Laufen übers Wasser stehen mag: Auf Seiten der Jünger wird deutlich: Angst macht so eng, dass ich Hilfe schwer erkenne und Helfer als angsteinflößende Gespenster erleben kann. Ich will nicht ausschließen, dass das auch bei der Angst um die Kirche so sein kann.

Menschen wollen Angst überwinden. Aber wie? Petrus veranstaltet hier eine Mutprobe im Glauben. Und scheitert. Der Meister schimpft ihn „kleingläubig“ und bemängelt seinen Zweifel. Keine wirklich Mut-Mach-Geschichte am Dienstag morgen für uns Landeskirchenamtsgemeinde, könnte man meinen. Muss man aber nicht.

Man kann die Geschichte auch anders lesen. Und das will ich Ihnen heute anbieten:

Glauben hat nichts mit der unrealistischen Hoffnung zu tun, ich bräuchte nie mehr Angst zu haben in meinem Leben, wenn ich nur „großgläubig“ genug wäre – wenn das das Gegenteil von „kleingläubig“ sein sollte – also „großgläubig“. Aber Glaube bewahrt nicht sozusagen automatisch vor der Angst. Im Gegenteil: Glaube nimmt die Angst ernst. Der Meister geht hin zu den Menschen in der Angst. Klar kann man sagen: gemein, dass er ihnen nun zusätzlich zur Dunkel und dem stürmischen See auch noch solch einen Schrecken einflößt als Gespenst. Man kann aber auch sagen: Die Ängstlichen haben in ihrer Angst ein Gespenst gesehen und nicht einen möglichen Weg aus der Angst – auch wenn der erst einmal wunderhaft und darum ungehbar erscheinen mag. Denn: Wer kann schon übers Wasser gehen?

Einer aber erkennt den Ausweg, selbst wenn er natürlich auch er noch nie in seinem Leben übers Wasser gelaufen ist. Aber er versucht’s. „Wenn Du mir hilfst“, sagt er zu Jesus, „dann will ich es auf Dein Wort hin versuchen.“ Jesus sagt: „Komm her!“ Und Petrus geht los. Losgehen. Ein guter Tipp für den Umgang mit der Angst auch für uns.

Aber das, was dann passiert, kenne auch ich gut genug. Auf halbem Weg verlässt Petrus der Mut. Und er droht unterzugehen. Jesu Antwort „Du Kleingläubiger. Warum hast Du gezweifelt?“ kann man als Demütigung verstehen. Man kann aber auch lesen: Petrus, Dein Versuch war schon richtig. Du hast als erster im Boot erkannt, dass es Wege aus der Angst gibt. Und Du hast erkannt, dass es dazu Mut braucht und Glauben und Vertrauen. Das alles hast Du gehabt.

Nur hat es noch nicht ganz gereicht. Glauben ist eben auch etwas, das man üben muss. In dem man wachsen kann. Aber der Weg, Petrus, der Weg ist richtig. Zwischen „kleingläubig“ und „großgläubig“ gibt es auch ein irgendwas dazwischen: „gläubig“.

Glauben heißt vor allem Vertrauen. Wir singen heute Lieder aus dem Kirchentagsliederbuch von 2019: #lautstärke. Auf der Titelseite können Sie es lesen: „Was für ein Vertrauen“ hieß es damals in Dortmund. Und Vertrauen war nicht nur vor vier Jahren wichtig, es ist es auch heute. Und wird so bleiben. Wo auch immer, in Dortmund, in Bielefeld, in Hannover, in Berlin. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat beim Kirchentag gesagt: „Unser ganzes Land ist auf Vertrauen gebaut. Es ist kostbar, dieses Vertrauen.“ Und gleichzeitig wissen wir, wie wenig selbstverständlich es ist. Wie Vertrauen schwindet, wie verbreitet Angst ist. Sie wissen das, ich weiß das.

Mir ist an dieser Stelle ein Wort des Theologen Karl Barth hilfreich gewesen. Der hat mitbekommen, wie die Kirchenleitenden und die Professoren im 19. Jahrhundert vergessen haben, von Gott zu reden. Der hat mitbekommen, wie die Nazis nicht nur im Staat, sondern auch in der Kirche die Macht übernommen haben, und wie daraufhin alle bis auf wenige Ausnahmen entweder begeistert mitmachten oder in Angst erstarrten. Der hat mitbekommen, wie in der Kirche und in der Gesellschaft nach 1945 die Chance zum Aufbruch verpasst wurde, weil entweder in die falsche Richtung oder gar nicht geleitet wurde. Beides ist ja nicht gut. Am Ende seines Lebens hat Barth dennoch nicht resigniert oder sein Vertrauen verloren. „Es wird regiert“. So formulierte er es am Vorabend seines Todes am 10. Dezember 1968: „Ja, die Welt ist dunkel. … Nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn es wird regiert, nicht nur in Moskau oder in Washington oder in Peking, sondern es wird regiert, und zwar hier auf Erden, aber ganz von oben, vom Himmel her! Gott sitzt im Regimente! Darum fürchte ich mich nicht. … Gott lässt uns nicht fallen, keinen einzigen von uns … ! – Es wird regiert!“

Dieses Vertrauen auf Gottes Regierung wünsche ich mir angesichts aller Ängste in meinem Leben. Und diese Zuversicht, dass doch geleitet wird, wünsche ich uns, wünsche ich Euch und Ihnen, wenn wir Angst um unsere Kirche haben, wenn glauben, dass ihr das Wasser bis zum Hals steht.

Amen.

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Kirchliches Musikalisches

„Ein bisschen Frieden“

Vor einigen Jahren habe ich – zusammen mit dem Kirchenmusiker Matthias Nagel (damals Beauftragter der Ev. Kirche von Westfalen für Popularmusik) – eine Tagung zum Thema „Kirche und Schlager“ veranstaltet, die dann auch in einer Buchveröffentlichung mit dem Titel „Ein bisschen Frieden… Schlager und Kirche im Gespräch dokumentiert wurde.

Immer mal wieder gab und gibt es Anfragen dazu. Am 14. November 2022 hat der Bayrische Rundfunk für seine Sendung „Theologik“ ein spannendes Interview mit mir geführt. Die Sendung ist als Podcast auch nach der Ausstrahlung verfügbar (etwa ab der 20. Minute komme ich dazu). Es ging, natürlich, um Nicole („Ein bisschen Frieden“) und den biblischen Schalom, es ging um Karat („Über sieben Brücken musst du gehn“) und Psalm 23, es ging um Tiefgang und Oberflächlichkeit, um Familienbilder und Gesellschaftsentwürfe. Ganz im Sinne dessen, was ich in der Einleitung zum Buch 2014 geschrieben habe:

Wie eine Blume am Winterbeginn / so wie ein Feuer im eisigen Wind,
wie eine Puppe, die keiner mehr mag, / fühl ich mich am manchem Tag.
Dann seh ich die Wolken, die über uns sind, / und höre die Schreie der Vögel im Wind.
Ich singe aus Angst vor dem Dunkel mein Lied / und hoffe, dass nichts geschieht.

So beginnt Nicoles legendärer Schlager aus dem Jahr 1982: Ein bisschen Frieden. Damals gewann sie als 17jährige im adretten Kleid mit ihrer weißen Gitarre das, was heute „ESC“ heißt und damals Grand Prix Eurovision de la Chanson, der Große Preis des europäischen Schlagers. 32 Jahre später, also nach einer Generation, fragen wir: Wie ist das mit dem „und“ zwischen Schlager und Kirche? Passt das dahin? Oder gerade nicht? Und warum?
Anders als Nicole hoffen wir aber nicht, „dass nichts geschieht“. Sondern wir hoffen, dass etwas geschieht. Und damit meinen wir nicht nur die Frage, ob Schlagersänger in einer Kirche auftreten dürfen. Das hat Nicole schon getan, die 2009 erstmals auf eine Kirchentournee ging. Und im vergangenen Jahr 2013 gab es in Minden und darüber hinaus etwas Unruhe, als Heino in der St. Marien-Kirche auftrat.
Aber uns geht es nicht um Kirchgebäude als besonders coole Location für weltliche Schlagermusiker. Sondern wir wollen tiefer ansetzen. Für die meisten Pfarrer und Pfarrerinnen, für die meisten hauptberuflichen Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker wird das etwas sein, was sie nicht regelmäßig tun. Denn sie gehören einem Milieu an, dass sich musikalisch oft durch den Satz charakterisieren lässt: „Ich höre alles außer Schlager“. Aber wenn der Schlager zu den populärsten Musikformen gehört, wie die Albumcharts im Januar 2014 zeigen, die von Helene Fischer („Farbenspiel“, Platz 1) angeführt werden, Andrea Berg folgt bald danach („Atlantis“, Platz 4) – und wenn das auch viele Gemeindeglieder so empfinden und also unsere Kirchengemeinden zu einem großen Anteil aus Schlagerhörern bestehen – warum sollten wir uns kategorisch davon distanzieren?
Eine Beschäftigung mit dem Schlager ist bisher in der Kirche zumeist unterblieben, wenn es doch geschah, dann meistens in abgrenzender Form. Wir wollen das ändern – und vielleicht gibt es als Ergebnis dieser Beschäftigung so etwas wie „ein bisschen Frieden“ zwischen Kirche und Schlager.
Aber was ist das eigentlich, ein Schlager? Ich gebe offen zu, mich damit erst im letzten Jahr wirklich intensiver beschäftigt zu haben. Denn auch ich gehöre dem Milieu an, das von sich behauptet: „Ich höre alles, außer Schlager“. Aber was höre ich denn nicht? Was ist ein Schlager? Wie fast immer, wenn man einfache Fragen stellt, sind die Antworten gar nicht so einfach. Es sind kluge Abhandlungen darüber verfasst worden, was denn wann als Schlager verstanden worden ist. Das variiert nämlich sehr, je nachdem, ob man sich im 19., im 20. oder im 21. Jahrhundert befindet, je nachdem ob man musikalisch, soziologisch, psychologisch, ökonomisch oder gar theologisch denkt. Möglicherweise war der erste Schlager „An der schönen blauen Donau“ 1867. Damals ist der Begriff „Schlager“ vor allem für solche Musikstücke verwendet worden, in denen den Zuhörern in sprachlichen Anspielungen eine gewisse frivol-erotische Doppeldeutigkeit schlagartig bewusst wurde.
In den 1920er Jahren differenzierte man zwischen „Gassenhauern“ und „Schlagern“ – manche haben damals den Gassenhauer als kulturell höherwertig verstanden, weil er aus dem Volk heraus entstand und diesem nicht übergestülpt werde. So schrieb ein entsprechender Kritiker 1924: „Die massenpsychologische Wirkung des Schlagers beruht auf dem Gesetz des geringsten Aufwandes musikalischer Energie. Wiederholung der gleichen akustischen Einwirkung wirkt energiesparend und ist lustbetont [und das ist dann natürlich negativ zu bewerten]; je primitiver musikalisch empfunden wird, desto sicherer die Wirkung.“
Wenn heutzutage Schlagermusik und Volksmusik oft in eins gesetzt werden, dann irritiert ein Blick in die 1940er Jahre, als innerhalb der nationalsozialistischen Ideologie der Schlager zum Inbegriff aller sogenannten volksfremden Musik wurde, deren Urheber selbstverständlich im Judentum lokalisiert wurden.
Seit den 1950er Jahren wird der Begriff „Schlager“ als eine „Kurzform leicht eingängiger Tanz- und Unterhaltungsmusik“ oder als Bezeichnung für „einfache liedartige Melodien, die leicht zu behalten sind“ bezeichnet. Vielleicht lassen sich diese Formulierungen als Arbeitsdefinition verwenden. Wobei der Begriff weiterhin schwer zu umgrenzen und damit an den Rändern durchaus unscharf bleibt. So konnte das „Fach“magazin „Prisma“ in einem Artikel über „Andreas Gabalier und die Rückkehr des Schlager“ im August 2013 titeln: „Rock’n’Roll in Lederhosen“. Ja, was denn nun: Schlager oder Rock’n’Roll? Oder hat vielleicht doch die Deutsche Bahn recht, als sie in ihrem Kundenmagazin im Dezember 2013 anlässlich eines Artikels über Helene Fischer titelte: „Schlager wird Pop“?
Eine grundlegende Kritik am Schlager kam von Theodor Adorno. Er sah den Schlager als Teil der Kulturindustrie und wies auf den zunehmenden Warencharakter der Kultur hin. Besonders bei der Musik beeinflusse die Industrie in ihrer Rolle als Vermittler zwischen Werk und Konsument das Subjekt stark. Musik mutiere zum Massenprodukt des Amüsements. Popular music war Adorno ein besonderer Dorn im Auge. Sie führe zu einer Regression des Hörens. Der Rezipient sei gar nicht mehr in der Lage, Werke zu beurteilen, denn, so schreibt Adorno, „die Bekanntheit des Schlagers setzt sich an Stelle des ihm zugesprochenen Wertes“. Der Hörer setze das Wiedererkennen eines Stückes an Stelle des Wertens. Er sei also gar nicht mehr fähig aus seiner von „standardisierten Musikwerken“ umzingelten Situation herauszubrechen und die Musik objektiv zu betrachten. Der Einfluss der Medien und der Industrie mache den Bürger unmündig. Adorno formulierte seine Kritik in einer Zeit eines musikalischen Umbruchs, nämlich des Einbruchs der internationalen Pop- und Rockmusik in die deutsche und damit deutschsprachige Musikszene.
Die Deutschsprachigkeit scheint ein ganz wichtiges Kriterium des Schlagers zu sein. Während 1962 noch fast alle Hits in Deutschland auf Deutsch gesungen wurden, waren es zum Ende dieses bewegten Jahrzehnts nur noch 5-10%. Und lange Jahre blieb das auch so, vielleicht kurz unterbrochen von der Neuen Deutschen Welle in den frühen 80ern. Mit einem Blick auf die heutigen Charts und auf die Beliebtheit mancher traditioneller Schlagersender kann man fragen: Sind wir wieder auf dem Weg in die 50er? Oder ist der Schlagerhype nur gehypt? Tatsächlich ist es ja so, dass auf den sogenannten Schlagersendern viel Englisches gespielt wird und manches, was eindeutig nicht aus dem Bereich des Schlagers kommt, der Generation Ü40 aber dennoch in ähnlicher Weise vertraut ist.
Was hat das Ganze nun mit der Kirche zu tun? Das hat in ähnlicher Weise schon 2002 die EKD-Kulturdenkschrift „Räume der Begegnung“ gefragt. Und sie hat damals als eines der Ziele der Begegnung von Kirche und Kultur das „Ernstnehmen des Trivialen“ propagiert. In ihrer Analyse des Trivial-Populären haben die Autoren der Denkschrift Adorno widersprochen: „Die kulturindustriellen Produktionsformen, die der Gewinnmaximierung dienen, mindern weder automatisch die Qualität eines Produkts noch bestimmen sie die Werte, die es vermittelt.“ Die Denkschrift vermeidet es klug, das Religiöse und das Triviale zu identifizieren – oder auf unserer Thema übertragen: den Schlager und die Kirche. Sie stehen zu einer Beziehung zueinander, aber sie sind nicht eins. Wieso sollte sich die evangelische Kirche mit etwas so Trivialem wie dem Schlager beschäftigen? Ich zitiere die EKD-Denkschrift auch deshalb, weil sie mein eigenes Interesse trifft: „Es liegt in der Technik, Komplexität in emotionale Eindeutigkeit zu übersetzen. Oder anders gesagt: Das Triviale ist einer von mehreren Wegen, der protestantischen Verkopfung zu ent-gehen.“ Von anderen lernen, heißt es also wieder einmal.
Oder haben wir das schon längst getan? Hat nicht mit dem sogenannten Neuen Geistlichen Lied der Schlager schon Einzug in die Kirche gehalten? „Danke für diesen guten Morgen“ (EG 334) hat nicht umsonst nicht nur in der Kirche, sondern auch auf Schlager-CDs seinen Platz gefunden, bis hin zu der Sammlung von Partykrachern eines Mickie Krause. Und als wir im Landeskirchenamt 2012 im „Jahr der Kirchenmusik“ alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach ihrem Lieblingslied im Gesangbuch gefragt haben, kam ein kirchlicher Schlager auf Platz 1: „Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer“ (EG RWL 663). Ist das ein Grund zum Spotten oder heißt das nur, dass die Menschen im LKA gar nicht so abgehoben von der kirchlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit sind, wie manchmal vermutet wird?
Jedenfalls erscheint es notwendig, dass in der Kirche Berührungsängste und Vorurteile gegenüber dem Schlager abgebaut werden. Wenn wir populäre Musik wie Jazz, Rock und Pop als ernstzunehmenden Teil der Kirchenmusikszene ansehen, wie weit gilt das dann auch für den Schlager? Eines ist allerdings klar, bei allen Formen von klassischer und populärer Kirchenmusik: Wir müssen auf Qualität achten und in der Aus-, Fort- und Weiterbildung auch selbst dafür sorgen. Gegebenenfalls auch beim Schlager.
In seiner Autobiographie berichtet Marcel Reich-Ranicki von einem Erlebnis aus seiner Schulzeit, das diese Hochschätzung der Qualität auch außerhalb der Hochkultur anschaulich macht: „Als die Schüler, die ein Instrument beherrschten, etwas zum besten geben sollten und einer – und zwar ein Jude – im Unterschied zu den anderen, die mit klassischen Stücken aufwarteten, einen miserablen Schlager klimperte, befürchteten wir, [unser Lehrer] Steineck werde ihn streng zu-rechtweisen. Doch was vorgefallen war, hatte ihn nicht empört, sondern nur betrübt. Er sagte ganz leise: ‚Dies war schlechte Musik. Aber auch schlechte Musik kann man anständig spielen.‘“

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Kirchliches Wissenschaftliches

Volkskirche ja – aber wie?

Das Konzept der „Volkskirche“ steht zunehmend in der Diskussion. Insbesondere vor dem Hintergrund abnehmender Kirchenmitgliedschaft stellen sich Fragen nach seinen Ursprungsideen und der gesellschaftlichen Rolle einer solchen Volkskirche, deren diakonisches Handeln und religiöse Dienstleistungsangebote gleichwohl in der Öffentlichkeit weiterhin hoch im Kurs stehen.

Am 31. März und 1. April 2022 lud die Kommission für kirchliche Zeitgeschichte der Evangelischen Kirche von Westfalen dazu ein, gesellschaftlich relevante Dimensionen des komplexen Untersuchungsgegenstands „Volkskirche“ in einem historischen Zugriff auszuloten.

Zu Beginn konnte ich die Teilnehmer:innen (wenn auch coronabedingt nur aus der Quarantäne und vertreten durch Archivleiterin Ingrun Osterfinke) begrüßen:

Im Namen der Evangelischen Kirche von Westfalen und als Vorsitzender der landeskirchlichen Kommission für Kirchliche Zeitgeschichte begrüße ich Sie sehr herzlich zu unserer Tagung über das „Modell Volkskirche“.

Die Tagung, so heißt es im Einladungsflyer, „will in einem historischen Zugriff gesellschaftlich relevante Dimension des komplexen Untersuchungsgegenstands ‚Volkskirche‘ ausloten“. Das wollen wir auf verschiedenen Wegen gemeinsam tun.

  • Wir wollen uns dem Begriff „Volkskirche“ nähern. Im Flyer haben Sie die Trias des Praktischen Theologen Kristian Fechtner gelesen, der Volkskirche als „Strukturbegriff“, als „Praxisbegriff“ und als „Konzeptbegriff“ versteht.[1] Wie erweist sich diese Differenzierung als tauglich zum Verstehen gegenwärtiger und historischer Phänomene?
  • Vom kanadischen Wissenschaftstheoretiker und Sprachphilosophen Ian Hacking stammt die Erkenntnis: „Begriffe haben Erinnerungen an Ereignisse, die wir vergessen haben.“[2] Welche Ereignisse sind im Begriff Volkskirche angelegt? Welche Zeitphasen, welche Personen, welche Gremien sind unseres Erinnerns wert?
  • Kirchengeschichte ist immer dann besonders ertragreich, wenn sie ereignis- und theologiegeschichtliche Ansätze miteinander verbindet. Deshalb sollen theologische Konzeptionen – und ihre Kritik! – im historischen Kontext analysiert werden. Um den theologischen Binnenraum zu verlassen, sollen auch juristische und soziologische Sichtweisen zu Wort kommen.
  • In einem Essay zur Kirchlichen Zeitgeschichte im jüngsten Heft der Theologischen Literaturzeitung wird von „der geradezu erdrutschartigen Erosion der Volkskirche“[4] gesprochen. Wie gehen diejenigen, die diese Kirche gegenwärtig leiten, mit dieser Situation um? Dazu werden in einer Podiumsdiskussion Leitende Geistliche aus verschiedenen Regionen Deutschlands befragt. Und den evangelischen Binnenraum verlassen wir mit einem Vertreter der katholischen Kirche. Sie alle machen in besonderer Weise deutlich, dass die „Volkskirche“ auch in einer veränderten Form Thema für die Kirche heute ist.

Ich möchte meine Begrüßung nutzen, um Schlaglichter auf zwei Theologen aus der Kirchengeschichte zu werfen, die ich aus unterschiedlichen Gründen für beachtenswert halte.

Von dem einem Theologen stammt das Zitat: „Bei uns ist die Gestalt der ‚Volkskirche‘ die überkommene. Wir können uns ohne sie weder die Kirchengeschichte noch auch die Völkergeschichte des Abendlands im letzten Jahrhundert vorstellen.“ [4]

Viel höher kann man die Bedeutung der Volkskirche kaum ansetzen. Aber das Zitat ist schon wieder Teil der Kirchengeschichte geworden. Es stammt aus dem Jahr 1949 und zwar von dem reformierten Theologen Otto Weber aus seinem Büchlein „Versammelte Gemeinde“. Weber war sich der problematischen Seite des Volkskirchenbegriffs bewusst geworden: „Wo zwischen Kirche und Volk ein Gleichheitszeichen tritt, da läßt sich die entstehende Gleichung nach beiden Seiten lesen. Es kann also dann auch behauptet werden, das Volk – versteht sich: das ‚christliche‘, ‚abendländisch-christliche‘ Volk sei (in irgendeinem Sinn) ‚Kirche’. Wo dies geschieht, zeigt der bisher in Betracht gezogene Begriff der ‚Volkskirche‘ seine gefährlichste Seite. […] Wir haben es bei uns an dem Begriff des ‚arteigenen Christentums‘ zu erfahren bekommen, was das heißt.“ Und doch, so Weber, „verbirgt sich in dem Gedanken der Volkskirche ein Moment, das in ganz andere Richtung weist, als wir es bisher bedachten. Es ist das Moment der öffentlichen Verantwortlichkeit der Kirche.“ Wo die Kirche versammelte Gemeinde sei, könne sie in dem Sinne ihre öffentliche Verantwortlichkeit wahrnehmen, dass sie sich mit dem Menschen, mit dem Volk, mit der Welt auf eine diakonische Art und Weise solidarisch zeige. Volkskirche als „Kirche Gottes für das Volk, für die Völker, für die Welt.“[5] Diese Interpretation der Volkskirche als weltbezogene Kirche für das Volk hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre Auswirkung gehabt. Sie motivierte beispielsweise Jürgen Moltmann 1975 (also 9 Jahre nach Webers Tod) zu einer Neuauflage der „Versammelten Gemeinde“.[6]

Und auch in Westfalen hat die „Versammelte Gemeinde“ ihre Auswirkungen gehabt. Präses Ernst Wilm verwies in seinen „Tätigkeitsbericht auf der Tagung der westfälischen Landessynode im Oktober 1960“ mehrfach darauf.[7] Der Titel dieses Berichts lautete „Volkskirche – Last und Verheißung“. Wilm hatte für diesen „Tätigkeitsbericht“ (der eigentlich keiner war, sondern eine theologische Zeitansage) viele Theologen in Westfalen nach ihrer Haltung zur Volkskirche befragt. Warum das überhaupt ein besonderes westfälisches Thema sei, darauf ging er explizit ein: „Unter den Merkmalen der Volkskirche, wie sie sich bei uns vorfindet, sind zu nennen: ihre regionale Struktur, über die auch ihr Name ‚Evangelische Kirche von Westfalen‘ aussagt“. Er hatte aufmerksam wahrgenommen, dass in Westfalen die Volkskirche nicht unumstritten war: „Die junge Generation und vor allem die junge Theologengeneration fragt sehr dringend, ob die Form der Volkskirche, wie wir sie haben, nicht überholt und rückständig, wenn nicht gar unwahrhaftig und darum nicht mehr verantwortbar ist.“ Manch andere Kritik an der Volkskirche gab er ebenfalls wieder – aber auch viele Wortmeldungen, die ihre Vorteile betonten. Und deshalb kam Wilm zu dem Fazit: „Die volkskirchliche Form ist der Gemeinde von Schrift und Bekenntnis her nicht als die einzig mögliche Form der Kirche geboten. Sie ist ihr aber auch nicht verboten.“ Anders als Otto Weber war die Öffentlichkeitskirche für Ernst Wilm nicht die entscheidende Deutungskategorie eines recht verstandenen Volkskirchenbegriffs – und auch das Konzept der „versammelten Gemeinde“ überzeugte ihn nicht völlig. Er betonte, „daß wir immer beides zugleich sind: versammelte Gemeinde und ausgesandte Boten. Ja, man muß es noch radikaler sagen: Wir, d.h. diese gegenwärtige Volkskirche, sind sogar ‚Kirche‘ und ‚Welt‘ zugleich. Wir sind nicht nur in der Welt, sondern die Welt ist auch in uns.“ In dieser Spannung sah sich Wilm, der die Volkskirche bejahte und gleichzeitig fragte: „‘Volkskirche ja! – aber wie?`“

„Aber wie?“ Eine Frage, der wir uns auch heute stellen müssen, wenn wir die Spannung nicht nach einer Seite auflösen wollen. Und in dieser Tagung wollen wir uns ihr stellen.

Zahlreiche Referentinnen und Referenten beleuchteten die historische Dimension der Volkskirche des zurückliegenden Jahrhunderts aus unterschiedlichen Blickwinkeln; das Programm der Tagung findet sich hier. Von den theologischen, juristischen und politischen Grundlagen einer Volkskirche, ihrer Etablierung als Körperschaft des öffentlichen Rechts in der Weimarer Reichsverfassung, reichte die Betrachtung über deren Entwicklung in der Zeit des Nationalsozialismus und in beiden deutschen Staaten nach 1949 bis hin zum Ausblick auf die volkskirchliche Zukunft.

Der Jurist Prof. Dr. Hinnerk Wißmann (Münster) eröffnete die Tagung mit einem Blick auf „die Volkskirche als Resonanzraum des Religionsverfassungsrechts“. Er nahm die staatskirchlichen Elemente der Volkskirche ernst und warnte vor einem Rückzug der Kirche aus der Fläche. Dagegen hielt der Theologe Prof. Dr. Traugott Jähnichen (Bochum) die Diskussion über alternative Modelle für dringend angebracht. Der Begriff „Volkskirche“ sei obsolet geworden. Merkmale und Aufgaben der historischen „Volkskirche“ müssten zum Teil aufgegeben (Homogenität des Volkes), reduziert (Universalitätsansprüche der räumlichen und sozialen Präsenz sowie der Sonderstellung in der Öffentlichkeit) oder neu strukturiert werden.

In einer Podiumsdiskussion fragten Kirchenpräsident Joachim Liebig (Anhalt), der Bischöfliche Generalvikar Klaus Pfeffer (Essen) und der westfälische Vizepräsident i.R. Albert Henz nach ‚Konfessionellen Prägungen – gemeinsamen Perspektiven?‘ Diese vom zeitzeichen-Chefredakteur Reinhard Mawick moderierte Podiumsdiskussion bildete auch die Grundlage für einen Bericht von Wolfram Scharenberg über die Tagung, der mit dem Titel „Modell Volkskirche – ein Auslaufmodell?“ überschrieben war.


[1] Kristian Fechtner, Späte Zeit der Volkskirche. Praktisch-theologische Erkundungen, Stuttgart 2010, 13-15.
[2] Ian Hacking, Vom Gedächtnis der Begriffe, in: Joachim Schulte / Uwe Justus Wenzel (Hg.), Was ist ein philosophisches Problem?, Frankfurt a. M. 2001, 72-86, Zitat 85.
[3] Thomas Martin Schneider, Kirchliche Zeitgeschichte – evangelisch. Entwicklung, Probleme, Aufgaben, in: ThLZ 147 (2022), Heft 1/2, Sp. 1-26, Zitat 18.
[4] Otto Weber, Versammelte Gemeinde. Beiträge zum Gespräch über Kirche und Gottesdienst. M.E. Einführung von Jürgen Moltmann, [1. Aufl. 1949), Neukirchen-Vluyn 2. Aufl. 1975, 137. Die folgenden Zitate a.a.O., 156. 156f.
[5] „Die Kirche baut sich nicht aus der Welt, aus dem Menschen, aus dem Volke auf. Aber sie ist der Leib dessen, der sich mit dem Menschen solidarisch gemacht, der unser Fleisch – endgültig – angenommen hat, und darum (und insofern) ist sie gewiesen, sich ihrerseits mit dem Menschen solidarisch zu machen! […] Indem die Kirche dies tut – in ihrem Wort wie in ihrer umfassenden diakonia – ist sie in einem neuen, echten Sinn ‚Volkskirche‘: Kirche Gottes für das Volk, für die Völker, für die Welt.“ (a.a.O, 157f.)
[6] „Erst in der versammelten Gemeinde wird aus der ‚Kirche für das Volk‘ die Kirche des Volkes, und das Volk Gottes wird zum handlungsfähigen Subjekt seiner eigenen Geschichte in der Geschichte Gottes.“ (Jürgen Moltmann, Einführung, in a.a.O., S. 7-10, Zitat 9).
[7] [Ernst] Wilm, Volkskirche – Last und Verheißung. Tätigkeitsbericht auf der Tagung der westfälischen Landessynode im Oktober 1960, Bielefeld o. J. [1960]. Die folgenden Zitate a.a.O., 9f. 4f. 30. 76. 68.

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Kirchliches

Das Wunder der geglückten Kommunikation

Gedanken zu Pfingsten

Anders als Weihnachten und Ostern ist Pfingsten nicht so volkstümlich. Da gibt es nicht so viele Bräuche – und nicht so viele Geschenke.

Für die Kirche aber ist Pfingsten ganz zentral.
Wir feiern das Wunder der gelungenen Kommunikation.

Die Bibel berichtet in der Apostelgeschichte, dass Jesu Jünger 50 Tage nach Tod und Auferstehung Jesu in Jerusalem beieinander saßen.
Dann kam der Geist Gottes kam über sie. Er ließt die Jünger verstehen und erzählen.
Erzählen vom Grund ihres Lebens. Vom menschgewordenen, gestorbenen und auferstandenen Gott. Vom neuen Herr ihres Lebens. Von Jesus Christus.
Von der Gemeinschaft derer, die sich nach Christus nannten. Der Christinnen und Christen. Aus dieser Gemeinschaft entwickelte sich die Kirche. Deshalb ist Pfingsten das Geburtsfest aller Kirchen.

Pfingsten als Fest der Kirche und des Heiligen Geistes. Verstehen und erzählen. Das Fest der gelungenen Kommunikation ist um so wichtiger in einer Zeit wie heute, die oft von missglückter Kommunikation geprägt ist.
Da hilft es, den Heiligen Geist immer wieder neu um das Wunder der geglückten Kommunikation zu bitten. Damit wir verstehen, wovon wir erzählen. Von Gott und den Menschen.

(okay, das Video ist schon ein paar Jahre her. Aber das macht nichts.)

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Kirchliches Wissenschaftliches

Respekt, Stephan Schaede!

Die 11 Punkte seines „Corona-Panoramas“ auf zeitzeichen.net sind die beste kirchlich-theologische Deutung der Gegenwart, die ich bisher wahrgenommen habe. Ich ertappe mich beim Lesen ständig dabei, „Ja, ja!“ zu sagen. Sowohl bei den Punkten, wo er klug Position zu bekannten Fragen einnimmt. Als auch bei den Punkten, wo er aufmerksam auf vergessene oder verdrängte Fragen hinweist. Und nicht zuletzt bei den Punkten, wo er unaufgeregt auf allzu schnelle Antworten verzichtet. In dieser Richtung will ich auch weiter nachdenken!

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Zum evangelischen Kirchen- und Amtsverständnis

Einige Stichworte im Dialog der Evangelischen Kirche von Westfalen mit der Neuapostolischen Kirche [<- hinter diesen Links verbergen sich Berichte über einen gemeinsamen Studientag beider Kirchen am 7. März 2020 in Haus Villigst]

Kirchenverständnis:

CA (Confessio Augustana / Augsburger Bekenntnis von 1530), Artikel VII:
„Es ist aber die Kirche die Versammlung der Heiligen, in der das Evangelium rein gelehrt wird und die Sakramente [Taufe und Abendmahl] richtig [=evangeliumsgemäß] verwaltet werden.“

CA VIII:
„da in diesem Leben viele böse Menschen und Heuchler darunter sind“

Unter Apostolizität wird evangelischerseits die Übereinstimmung der heutigen Kirche mit dem in der Bibel enthaltenen Evangelium von Jesus Christus verstanden. Die institutionelle Apostolizität (in Person von Bischöfen oder Aposteln) gehört zum „bene esse ecclesiae“, kann also gut und hilfreich sein, ist aber akzidentiell und nicht substantiell.

Amtsverständnis:

 CA V:
„damit wir diesen Glauben erlangen, ist das Amt zum Lehren des Evangeliums und Austeilen der Sakramente eingesetzt worden“

Zum Amt gehören Ausbildung und Beauftragung/Ordination. Es ist eingebunden in eine zu aktualisierende Tradition; es hat keine heilige Dignität sondern Funktionalität.

Otto Weber, Grundlagen der Dogmatik,
Bd. 2, Neukirchen-Vluyn 7. Auflage 1987, S. 635:
Das gegliederte Amt
(Amt und Charisma.) Die in der Gemeinde zu verrichtenden Dienste bestimmen sich nach den Gaben, die der Gemeinde gewährt sind, und damit den Aufgaben, die sich ihr Stellen. Da aller kirchliche Dienst unter dem verkündigten Wort geschieht, so gebührt dem „Dienst am Wort“ der wichtigste Platz. Er kann aber nicht recht geschehen, wenn nicht zugleich solche Dienste verrichtet werden, die der Erhaltung der Gemeinde in der Disziplin („Zucht“) und in der Liebe gewidmet sind. Diese Dienste gehören zum „Amt“ in der Gemeinde, sind ihm nicht unterstellt, sondern innerhalb der Bruderschaft beigeordnet und bilden mit ihm zusammen das Amt in der Gemeinde. Das ministerium ecclesiasticum ist mehrfältig. Es ist zugleich von der Art, dass es für andere, neu als nötig erkannte Dienste offen ist.“

Kirchenordnung der Ev. Kirche von Westfalen:

KO Grundartikel I-IV:
– Jesus Christus – AT und NT – Rechtfertigung
– Lutherische – Reformierte – Unierte Gemeinden, Bedeutung der Barmer Theologischen Erklärung
– Diener am Wort achten und wahren Bekenntnisstand der Gemeinden, Zulassung aller zum Abendmahl
– Innere Gemeinschaft, Gemeinschaft mit anderen reformatorischen Kirchen

KO Art. 1:
„im Vertrauen auf den dreieinigen Gott, der Israel erwählt hat und ihm die Treue hält“

KO Art. 6ff:
Die Kirchengemeinde –> presbyterial-synodaler Aufbau (Ev. Kirche von Westfalen, Unsere Geschichte. Unser Selbstverständnis (2015), S.8)

KO Art. 18ff:
Ämter und Dienste in der Kirchengemeinde:
Pfarrer/innen, Prediger/innen, Prädikant/innen, Presbyter/innen,
weitere Ämter und Dienste (Kirchenmusiker/innen, Diakone/Diakoninnen, Gemeindepflege und Diakoniestationen, Gemeindepädagog/inn/en, Sozialpädagog/inn/en, Erzieher/innen, Küster/innen, Verwaltung)
Frauenordination seit 1974 (Unsere Geschichte, S. 14)

KO Art. 84 ff.:
Der Kirchenkreis (Superintendent/in, Kreissynodalvorstand)

KO Art. 117 ff:
Die Landeskirche (Landessynode, Kirchenleitung, Landeskirchenamt, die Präses als Vorsitzende der Landessynode + als Leitende Geistliche ≈ Bischöfin in anderen evangelischen Kirchen + als Vorgesetzte des Landeskirchenamts)

KO Art. 156 ff:
Die landeskirchlichen Ämter und Einrichtungen

(KO Art. 167ff: Der Dienst an Wort und Sakrament ≈ Kirchliche Lebensordnung)

Leitsätze der EKvW
( Ev. Kirche von Westfalen, Unser Glaube. Unser Leben. Unser Handeln (2015), S. 20ff.)

  • Wir machen uns auf den Weg zu den Menschen.
  • Wir sind offen und einladend.
  • Wir feiern lebendige Gottesdienste.
  • Wir begleiten die Menschen.
  • Wir bieten Orientierung.
  • Wir machen uns für Menschen stark.
  • Wir machen Menschen Mut zum Glauben. 
  • Wir nehmen gesellschaftliche Verantwortung wahr.
  • Wir laden zu aktiver Mitgestaltung und Beteiligung ein.
  • Wir fördern die weltweite Ökumene mit anderen Kirchen.

Volkskirche:
nicht mehr Kirche des Volkes, sondern Kirche für das Volk
Barmer Theologische Erklärung (1934), These VI:
„Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi Statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk.“

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3 Fragen zum Abendmahl

Abendmahl für alle Getauften, auch mit Traubensaft

In der Evangelischen Kirche von Westfalen können seit 2020 offiziell alle getauften Kinder am Abendmahl teilnehmen.
„Das entspricht unserem Selbstverständnis als offene und einladende Kirche“, sagte dazu Michael Krause, Vorsitzender des Theologischen Ausschusses. Außerdem kann das Abendmahl auch mit Traubensaft gefeiert werden. Entsprechende Änderungen der Kirchenordnung hat die Synode am Mittwoch (20.11.2019) beschlossen. Gemeinden können entweder nur mit Wein, mit Wein und Saft oder nur mit Traubensaft das Abendmahl feiern. Damit wurde die Ordnung der vielfachen Praxis in den Gemeinden angepasst.

Schon vorher waren in vielen Kirchengemeinden auch kleine Kinder zum Abendmahl eingeladen. Traditionell war dies erst nach der Konfirmation der Fall. „Durch den gemeinsamen Gang zum Abendmahl können nun alle getauften Kinder erfahren, dass sie genauso zu Christus gehören wie die Älteren“, so Landeskirchenrat Dr. Vicco von Bülow. Die Kinder sollen sich vorbereitend mit dem Abendmahl beschäftigen. Das Presbyterium hat als Gemeindeleitung die Aufgabe, für die notwendige Hinführung der Kinder zu sorgen.

Um bestimmte Personengruppen wie Kinder oder Alkoholkranke nicht auszuschließen, enthielt der Abendmahlskelch in vielen Gemeinden schon lange Traubensaft statt Wein. Das gilt auch in Krankenhäusern oder anderen Einrichtungen, wo Alkohol aus medizinischen Gründen nicht in Frage kommt. Der Wein soll aber seine traditionelle Bedeutung nicht verlieren und kann dem Abendmahl einen festlichen Charakter verleihen.

(Pressemitteilung der Evangelischen Kirche von Westfalen Nr. 9 vom 20.11.2019)

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3 Fragen zur Trauung

„Gottes Segen gilt für alle Ehepaare“ 

Gab es für gleichgeschlechtliche Eheleute oder standesamtlich verheiratete Paare, bei denen nur ein Partner einer christlichen Kirche angehört, bis 2019 nur die Möglichkeit einer öffentlichen Segenshandlung, können sie seit 2020 offiziell kirchlich getraut werden. Das hat die Landessynode der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW) am Mittwoch (20.11.2019) mit großer Mehrheit beschlossen.

Konkret bedeuten die damit verbundene Änderung der Kirchenordnung der EKvW und die entsprechende Änderung der Trauordnung:

  • In der westfälischen Landeskirche können sich alle evangelischen Paare, die standesamtlich geheiratet haben, kirchlich trauen lassen. Unterschiede hinsichtlich der Gleich- oder Verschiedengeschlechtlichkeit gibt’s nicht mehr. In den gesetzlichen Regelungen wird geschlechtsneutral von „Eheleuten“ oder „Ehepartnern“ gesprochen. Diese Änderung liegt in der Konsequenz der Diskussionen über Familie und Ehe seit der Landessynode 2012 und der seither gefassten Beschlüsse.
  • Angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen in den letzten Jahren gibt es auch in Westfalen vermehrt Paare, bei denen ein Ehepartner nicht oder nicht mehr einer christlichen Kirche angehört. Durch die beschlossenen Änderungen wird auch diesen Paaren eine kirchliche Trauung ermöglicht – so wie es auch in anderen Kirchen der Union Evangelischer Kirchen (UEK) üblich ist.

Der Vorsitzende des theologischen Tagungsausschusses, Superintendent Michael Krause, freute sich über die erfolgte Zustimmung: „Wir machen deutlich, dass der Segen Gottes in der Trauung für alle Ehepaare gilt, unabhängig von ihrer geschlechtlichen Orientierung.“

Auch Landeskirchenrat Dr. Vicco von Bülow begrüßte den Beschluss: „Ich finde es gut, dass Ehepaare mit einem nicht-christlichen Ehepartner in der Kirche einen Traugottesdienst feiern können. Diese Klärung ermöglicht eine Gleichbehandlung mit Ehepaaren, bei denen beide Partner christlich sind.“

(Pressemitteilung Nr. 8 der EKvW vom 20.11.2019)