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Kirchliches Wissenschaftliches

Die Barmer Theologische Erklärung im Kontext des „Kirchenkampfes“ 1933-45

  1. Der historische Kontext
    Die Barmer Theologische Erklärung vom 31. Mai 1934 ist nicht ohne ihren zeitgeschichtlichen Kontext zu verstehen, auch wenn sie weit über ihn hinaus Bedeutung hat. Rückblickend kann man verschiedene Phasen unterscheiden: Die erste Phase des „Kirchenkampfes“ begann im Januar 1933 und reichte bis Anfang 1934 (siehe 2). Die zweite Phase umschloss die Zeit von Mai bis Oktober 1934 und damit die Bekenntnissynoden von Barmen und Dahlem. Diese Phase ist wohl als der Höhepunkt des Kirchenkampfes anzusehen (siehe 3). Aber auch danach gab es noch wichtige Ereignisse (siehe 4).
  2. Vom Januar 1933 bis Anfang 1934
    Reichskanzler Adolf Hitler versuchte nach dem 30. Januar 1933 den Kirchen gegenüber entgegenkommend zu wirken. Weithin wurde dies auch so angenommen, allerdings gab es schon am 9. Mai mit der Gründung der Jungreformatorischen Bewegung durch Martin Niemöller und andere eine erste Gegenbewegung. Sie konnte allerdings nicht verhindern, dass die von der NSDAP unterstützten Deutschen Christen (DC) im Juli eine 70%ige Mehrheit bei den deutschen Kirchenwahlen erreichten. Im Amt blieben nur die Bischöfe der später „intakt“ genannten Landeskirchen, nämlich Theophil Wurm aus Württemberg, Hans Meiser aus Bayern und August Marahrens aus Hannover. In den anderen Landeskirchen hatten DC, deren Bestreben die Einführung des Führerprinzips in die evangelische Kirche war, klare Mehrheiten. Ein erster Schritt auf dem Weg zur Durchsetzung des Führerprinzips war die am 27. September durch die Nationalsynode der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) erfolgte Wahl Ludwig Müllers zum Reichsbischof. Er versuchte eine weitere Zentralisierung durchzusetzen, blieb jedoch damit erfolglos. Als die Deutschen Christen am 13. November auf der Berliner Sportpalastkundgebung den Ausschluss des Alten Testaments aus der Bibel forderten, war dies auch vielen ihrer gemäßigten Mitglieder zu radikal, und so erlebte der im September gegründete Pfarrernotbund Martin Niemöllers einen regen Zulauf. Seine Wirksamkeit trug entscheidend zur Bildung der „Bekennenden Kirche“ (BK) bei.
  3. Die beiden Bekenntnissynoden 1934
    Vom 29. bis 31. Mai 1934 versammelte sich die Bekennende Kirche in Wuppertal-Barmen zu ihrer ersten Synode, die vor allem wegen der von den dort versammelten Lutheranern, Unierten und Reformierten verabschiedeten „Theologischen Erklärung“ bedeutsam ist. Theologisch war sie vor allem vom Reformierten Karl Barth geprägt, aber auch vom Lutheraner Hans Asmussen, der den Text in die Synode einbrachte. Mit ihrer ersten These, die Jesus Christus als die einzige Offenbarung Gottes bekannte, wurde der Anspruch der DC abgelehnt, die in der NSDAP und in Hitler eine Offenbarung Gottes sahen. Die Barmer Theologische Erklärung gab der Bekennenden Kirche ihr Fundament und ihre Richtung. Die zweite Bekenntnissynode am 19. und 20. Oktober 1934 in Berlin-Dahlem stand unter dem Eindruck der kurz zuvor erfolgten Übernahme der bayerischen und württembergischen Kirchenleitung durch die deutsch-christliche Kirchenregierung. Während die BK in Barmen den Anspruch, Kirche im Sinne Jesu Christi zu sein, theologisch begründet hatte, setzte sie ihn in Dahlem praktisch durch das Mittel des Kirchlichen Notrechts durch. Diese Linie wurde jedoch nicht mit voller Energie weiterverfolgt, weil sie vielen als zu weitgehend erschien.
  4. Die Jahre 1935 bis 1945
    In der Folgezeit verstärkte sich der Gegensatz zwischen dem eher bruderrätlich orientierten Flügel der BK und dem Flügel, der sich auf die intakten Landeskirchen stützte. Zwar konnte man sich noch auf eine Vorläufige Kirchenleitung einigen, die im Juni 1935 auf der dritten Bekenntnissynode in Augsburg bestätigt wurde, aber spätestens auf der vierten Bekenntnissynode im Februar 1936 in Bad Oeynhausen war die BK als Organisation zerbrochen. Dies trug dazu bei, dass die Einigungsversuche des im Juli 1935 eingesetzten Ministers für kirchliche Angelegenheiten, Hanns Kerrl, erfolglos blieben. Seine Politik wurde aber auch durch härtere antikirchliche Maßnahmen der Gestapo unterlaufen. Zwar hatte die 2. VorläufigeKirchenleitung der BK im Mai 1936 in einer Denkschrift an Hitler gegen Entchristlichung, Antisemitismus und Terrormaßnahmen wie z.B. Konzentrationslager protestiert, aber als am 9. November 1938 in der Reichspogromnacht die Synagogen brannten, ist die Kirche eine Reaktion schuldig geblieben. Aktivitäten wie z.B. das „Büro Grüber“ in Berlin, das Hilfen für sogenannte „getaufte Nichtarier“ anbot, blieben die Ausnahme. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 wurden viele Mitglieder der BK in den Untergrund gedrängt oder verhaftet. Die Leitung der DEK lag seit 1937 in den Händen eines deutsch-christlichen Juristen, der seit Kriegsbeginn vom Geistlichen Vertrauensrat unterstützt wurde. Dieser Vertrauensrat setzte sich zwar in Einzelfällen für die bedrängte Kirche ein, blieb aber insgesamt zu unkritisch und staatstreu. Von dort kam kein Protest gegen den Ausschluss getaufter Juden aus der DEK im Dezember 1941, auch nicht gegen das seit 1939 laufende nationalsozialistische Euthanasieprogramm. Bischof Wurm dagegen protestierte mehrmals gegen diese Tötung sogenannten „lebensunwerten Lebens“. Er wurde in dieser Zeit zu einem Sprecher der Bekennenden Kirche. Sein Ende 1941 gegründetes „Kirchliches Einigungswerk“ bildete nach 1945 einen wichtigen Grundstock für den Aufbau der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Zuerst veröffentlicht in:

75 Jahre Barmer Theologische Erklärung.
Eine Arbeitshilfe zum 31. Mai 2009
Verantwortlich für den Inhalt
Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland,
Amt der Union Evangelischer Kirchen in der EKD,
Amt der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands:
Dr. Vicco von Bülow, Dr. Martin Heimbucher, Dr. Mareile Lasogga,
Hannover 2009

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Kirchliches

„Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben“

Andacht bei der Pfingsttagung der Evangelischen Forschungsakademie am 18.05.2024 im Kloster Drübeck

Lesung: Jesaja 6,1-8

Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben.
Ich brauche ihre Schönheit und Erhabenheit.
Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt.
Ich will zu leuchtenden Kirchenfenstern hinaufsehen und mich blenden lassen von den unirdischen Farben.
Ich brauche ihren Glanz.
Ich brauche ihn gegen die schmutzige Einheitsfarbe der Uniformen.
Ich will mich einhüllen lassen von der herben Kühle der Kirchen.
Ich brauche ihr gebieterisches Schweigen.
Ich brauche es gegen das geistlose Gebrüll des Kasernenhofs und das geistreiche Geschwätz der Mitläufer.
Ich will den rauschenden Klang der Orgel hören, diese Überschwemmung von überirdischen Tönen.
Ich brauche ihn gegen die schrille Lächerlichkeit der Marschmusik.
Ich liebe betende Menschen.
Ich brauche ihren Anblick.
Ich brauche ihn gegen das tückische Gift des Oberflächlichen und Gedankenlosen.
Ich will die mächtigen Worte der Bibel lesen.

Ich brauche die unwirkliche Kraft ihrer Poesie.
Ich brauche sie gegen die Verwahrlosung der Sprache und die Diktatur der Parolen.
Eine Welt ohne diese Dinge wäre eine Welt, in der ich nicht leben möchte.

Der Schriftsteller Pascal Mercier hat diese Worte in seinem Bestseller-Roman „Nachtzug nach Lissabon“ (2006, S. 198) aufgezeichnet. Ein Abiturient, der sich selbst als ungläubig bezeichnet, bekennt sich in seiner Abitur-Rede zu erhabenen Kathedralen, zu schöner Orgelmusik und zu intimen Gebeten. Vor einigen Jahren ist der Roman mit Jeremy Irons in der Hauptrolle verfilmt worden – und diese Rede hat mich auch dort wieder beeindruckt.

Denn auch ich sehne mich nach solchen Erfahrungen, nach Erlebnissen, die es gerade nicht auf der Party am Wochenende oder am offenen Verkaufssonntag in der Einkaufspassage gibt. Einmal die Dinge überblicken, einmal mehr als dies alles sehen, einmal hinüberschauen in eine andere, ja in eine jenseitige Welt.

So wie es Jesaja getan hat. Der auf einer Wallfahrt nach Jerusalem in den Tempel gekommen ist. Seit Kindesbeinen hat er es immer wieder gehört. Dort oben wohnt Gott. Dort, im heiligen Tempel auf dem Zion berührt sein Gewand die Welt: Hier ist der Schemel seiner Füße.

Auch Jesaja und sein Volk können nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Der Prophet bekommt seinen Auftrag an einem Ort, den Gott selbst für sich als Wohnung erkoren hat. Er hätte es bestimmt auch draußen am Fluss oder unter einem Baum tun können. Aber wir Menschen brauchen Zeichen. Uns zuliebe, weil wir so sind, wie wir sind, zeigt sich Gott an besonderen Orten. Dort, wo sich nach biblischem Zeugnis Himmel und Erde berühren. Dort, wo sich Diesseits und Jenseits schneiden. Wer in Jerusalem vom Ölberg auf den Tempelplatz in Jerusalem blickt, hat vielleicht eine Ahnung davon.

Aber auch anderswo gibt es solche Orte, auch Kirchen, vielleicht hier in St. Vitus in Drübeck, vielleicht in der Stadt, in der Ihr wohnt oder die Ihr im Urlaub besichtigt habt. Kirchgebäude, die einem eine Ahnung davon vermitteln können, davon, dass in der Kirche nicht nur der Pfarrer predigt, sondern auch die Mauern und Steine. Davon, dass Kirchen ein Asyl für die letzten Dinge sind. Davon, dass Altäre Gemeinschaft stiften. Davon, dass Orgeln und Glocken Gott loben. Davon, dass Kunstwerke die Geschichte unserer Kultur erzählen. Davon, dass Kerzen erinnern und mahnen. Davon, dass Schmuck ein Ausdruck des Dankes ist für alle guten Gaben des Schöpfers. Davon, dass es so etwas gibt wie einen „heiligen Raum“.

Ja, das meine ich: dass es so etwas gibt wie einen „heiligen Raum“. 

Heiligen heißt: einen Unterschied machen, etwas aus den gewöhnlichen Dingen herausheben. Heilige Räume sind in diesem Sinne solche Räume, die ausgesondert, hervorgehoben, beiseitegesetzt sind. Sie haben eine eigene Aura, einen besonderen Geschmack, sie sind anziehend durch ihre Fremdheit, sie sind faszinierend, aber immer auch verunsichernd, manchmal sogar furchterregend. In Jesajas Vision kommt diese furchterregende Fremdheit gut zum Ausdruck: „Weh mir, ich vergehe!“


In der evangelischen Kirche haben wir unsere Schwierigkeiten mit der Idee heiliger Räume. Wir können uns nur schwer öffnen für die sinnliche Seite der Gotteserfahrung, wie sie Jesaja beschreibt: Er sieht Gott sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron, und er sieht den Saum von Gottes Mantel, der den Tempel füllt. Er sieht die Serafim bei Gott stehen. Er hört sie rufen: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll!“ Er spürt, dass Schwellen beben von der Stimme ihres Rufens. Er riecht und sieht den Tempel voller Rauch.
In solchen Schilderungen kommt zum Ausdruck, dass von Gott alle Heiligkeit herkommt und abhängig ist. Und dass Gott die Erfahrungswirklichkeit der Welt überschreitet. Er ist unberechenbar und unverfügbar.

Insofern ist es immer eine lächerliche religiöse Selbstüberschätzung, wenn Menschen – auch Pfarrer – fälschlich glauben, Gott stünde ihnen mit heiligen Räumen gewissermaßen zur Verfügung. Ein Gott, dessen sich Menschen zu bemächtigen wähnen, ist nichts als ein Götze. Weder der Tempel in Jerusalem, solange er bestand, noch irgendein christlicher Kirchenraum – kein noch so heiliger Raum – kann gewährleisten, dass in ihm tatsächlich das Heilige anwesend und erfahrbar ist.

1544 wurde das erste evangelische Kirchengebäude eingeweiht, die Schlosskirche in Torgau. Martin Luther hat zu ihrer Einweihung gepredigt. Und festgelegt, dass die Kirche für den Gottesdienst da sei. Und was das bedeutet. Nämlich: „Dass nichts anderes darin geschehe, denn dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang.“ Das heilige Wort macht also den heiligen Raum. Ohne Gott ist kein Raum heilig. Und deshalb kann jeder Raum heilig sein. In seiner Torgauer Einweihungspredigt hat Martin Luther gesagt: „Kann es nicht geschehen unterm Dach oder in der Kirchen, so geschehe es auf dem Platz unter dem Himmel, und wo Raum dazu ist.“ Jeder Raum kann ein heiliger Raum sein. Nämlich dann, wenn Gott in ihm mit uns redet durch sein heiliges Wort, und wir mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang.

Martin Luther ist von manchen so verstanden worden, als sei es völlig egal, wo sich die christliche Gemeinde zum Gottesdienst versammelt. Als bräuchten wir Evangelischen keine besonderen Kirchgebäude. Ich glaube das nicht. Ich glaube, dass gestaltete Kirchengebäude sich besser als Versammlungsräume der christlichen Gemeinde eignen als bloße Zweckräume wie Verwaltungszimmer oder Hotelsäle. Ich gehöre zu denen, die Kirchengebäude brauchen. Die sich nach Rastplätzen für ihre Seele sehnen, nach Freiräumen für ihr Denken, nach Oasen für ihr Gebet sowie nach Feierorten für ihr Leben. Auch ganz nicht-kirchliche Menschen suchen Kirchen in Situationen der Not, des Entsetzens und des Schreckens auf. Auch Menschen, die nicht Kirchenmitglieder sind, können anerkennen, dass Kirchengebäude „Seelen und Gedächtnis“ der Dörfer und Städte sind. Wir als Christen können das umso mehr.

Kirchen sind Versammlungsorte der christlichen Gemeinde, ja und noch viel mehr. Kirchen sind Schatzkammern des christlichen Glaubens. Sie sind Kraftorte. Sie sind gestaltete Räume. Sie sind Freiräume. Sie sind heilige Räume.

Und weil sie das sind,
möchte ich nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben.

Amen.