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Kirchliches Musikalisches

„Ein bisschen Frieden“

Vor einigen Jahren habe ich – zusammen mit dem Kirchenmusiker Matthias Nagel (damals Beauftragter der Ev. Kirche von Westfalen für Popularmusik) – eine Tagung zum Thema „Kirche und Schlager“ veranstaltet, die dann auch in einer Buchveröffentlichung mit dem Titel „Ein bisschen Frieden… Schlager und Kirche im Gespräch dokumentiert wurde.

Immer mal wieder gab und gibt es Anfragen dazu. Am 14. November 2022 hat der Bayrische Rundfunk für seine Sendung „Theologik“ ein spannendes Interview mit mir geführt. Die Sendung ist als Podcast auch nach der Ausstrahlung verfügbar (etwa ab der 20. Minute komme ich dazu). Es ging, natürlich, um Nicole („Ein bisschen Frieden“) und den biblischen Schalom, es ging um Karat („Über sieben Brücken musst du gehn“) und Psalm 23, es ging um Tiefgang und Oberflächlichkeit, um Familienbilder und Gesellschaftsentwürfe. Ganz im Sinne dessen, was ich in der Einleitung zum Buch 2014 geschrieben habe:

Wie eine Blume am Winterbeginn / so wie ein Feuer im eisigen Wind,
wie eine Puppe, die keiner mehr mag, / fühl ich mich am manchem Tag.
Dann seh ich die Wolken, die über uns sind, / und höre die Schreie der Vögel im Wind.
Ich singe aus Angst vor dem Dunkel mein Lied / und hoffe, dass nichts geschieht.

So beginnt Nicoles legendärer Schlager aus dem Jahr 1982: Ein bisschen Frieden. Damals gewann sie als 17jährige im adretten Kleid mit ihrer weißen Gitarre das, was heute „ESC“ heißt und damals Grand Prix Eurovision de la Chanson, der Große Preis des europäischen Schlagers. 32 Jahre später, also nach einer Generation, fragen wir: Wie ist das mit dem „und“ zwischen Schlager und Kirche? Passt das dahin? Oder gerade nicht? Und warum?
Anders als Nicole hoffen wir aber nicht, „dass nichts geschieht“. Sondern wir hoffen, dass etwas geschieht. Und damit meinen wir nicht nur die Frage, ob Schlagersänger in einer Kirche auftreten dürfen. Das hat Nicole schon getan, die 2009 erstmals auf eine Kirchentournee ging. Und im vergangenen Jahr 2013 gab es in Minden und darüber hinaus etwas Unruhe, als Heino in der St. Marien-Kirche auftrat.
Aber uns geht es nicht um Kirchgebäude als besonders coole Location für weltliche Schlagermusiker. Sondern wir wollen tiefer ansetzen. Für die meisten Pfarrer und Pfarrerinnen, für die meisten hauptberuflichen Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker wird das etwas sein, was sie nicht regelmäßig tun. Denn sie gehören einem Milieu an, dass sich musikalisch oft durch den Satz charakterisieren lässt: „Ich höre alles außer Schlager“. Aber wenn der Schlager zu den populärsten Musikformen gehört, wie die Albumcharts im Januar 2014 zeigen, die von Helene Fischer („Farbenspiel“, Platz 1) angeführt werden, Andrea Berg folgt bald danach („Atlantis“, Platz 4) – und wenn das auch viele Gemeindeglieder so empfinden und also unsere Kirchengemeinden zu einem großen Anteil aus Schlagerhörern bestehen – warum sollten wir uns kategorisch davon distanzieren?
Eine Beschäftigung mit dem Schlager ist bisher in der Kirche zumeist unterblieben, wenn es doch geschah, dann meistens in abgrenzender Form. Wir wollen das ändern – und vielleicht gibt es als Ergebnis dieser Beschäftigung so etwas wie „ein bisschen Frieden“ zwischen Kirche und Schlager.
Aber was ist das eigentlich, ein Schlager? Ich gebe offen zu, mich damit erst im letzten Jahr wirklich intensiver beschäftigt zu haben. Denn auch ich gehöre dem Milieu an, das von sich behauptet: „Ich höre alles, außer Schlager“. Aber was höre ich denn nicht? Was ist ein Schlager? Wie fast immer, wenn man einfache Fragen stellt, sind die Antworten gar nicht so einfach. Es sind kluge Abhandlungen darüber verfasst worden, was denn wann als Schlager verstanden worden ist. Das variiert nämlich sehr, je nachdem, ob man sich im 19., im 20. oder im 21. Jahrhundert befindet, je nachdem ob man musikalisch, soziologisch, psychologisch, ökonomisch oder gar theologisch denkt. Möglicherweise war der erste Schlager „An der schönen blauen Donau“ 1867. Damals ist der Begriff „Schlager“ vor allem für solche Musikstücke verwendet worden, in denen den Zuhörern in sprachlichen Anspielungen eine gewisse frivol-erotische Doppeldeutigkeit schlagartig bewusst wurde.
In den 1920er Jahren differenzierte man zwischen „Gassenhauern“ und „Schlagern“ – manche haben damals den Gassenhauer als kulturell höherwertig verstanden, weil er aus dem Volk heraus entstand und diesem nicht übergestülpt werde. So schrieb ein entsprechender Kritiker 1924: „Die massenpsychologische Wirkung des Schlagers beruht auf dem Gesetz des geringsten Aufwandes musikalischer Energie. Wiederholung der gleichen akustischen Einwirkung wirkt energiesparend und ist lustbetont [und das ist dann natürlich negativ zu bewerten]; je primitiver musikalisch empfunden wird, desto sicherer die Wirkung.“
Wenn heutzutage Schlagermusik und Volksmusik oft in eins gesetzt werden, dann irritiert ein Blick in die 1940er Jahre, als innerhalb der nationalsozialistischen Ideologie der Schlager zum Inbegriff aller sogenannten volksfremden Musik wurde, deren Urheber selbstverständlich im Judentum lokalisiert wurden.
Seit den 1950er Jahren wird der Begriff „Schlager“ als eine „Kurzform leicht eingängiger Tanz- und Unterhaltungsmusik“ oder als Bezeichnung für „einfache liedartige Melodien, die leicht zu behalten sind“ bezeichnet. Vielleicht lassen sich diese Formulierungen als Arbeitsdefinition verwenden. Wobei der Begriff weiterhin schwer zu umgrenzen und damit an den Rändern durchaus unscharf bleibt. So konnte das „Fach“magazin „Prisma“ in einem Artikel über „Andreas Gabalier und die Rückkehr des Schlager“ im August 2013 titeln: „Rock’n’Roll in Lederhosen“. Ja, was denn nun: Schlager oder Rock’n’Roll? Oder hat vielleicht doch die Deutsche Bahn recht, als sie in ihrem Kundenmagazin im Dezember 2013 anlässlich eines Artikels über Helene Fischer titelte: „Schlager wird Pop“?
Eine grundlegende Kritik am Schlager kam von Theodor Adorno. Er sah den Schlager als Teil der Kulturindustrie und wies auf den zunehmenden Warencharakter der Kultur hin. Besonders bei der Musik beeinflusse die Industrie in ihrer Rolle als Vermittler zwischen Werk und Konsument das Subjekt stark. Musik mutiere zum Massenprodukt des Amüsements. Popular music war Adorno ein besonderer Dorn im Auge. Sie führe zu einer Regression des Hörens. Der Rezipient sei gar nicht mehr in der Lage, Werke zu beurteilen, denn, so schreibt Adorno, „die Bekanntheit des Schlagers setzt sich an Stelle des ihm zugesprochenen Wertes“. Der Hörer setze das Wiedererkennen eines Stückes an Stelle des Wertens. Er sei also gar nicht mehr fähig aus seiner von „standardisierten Musikwerken“ umzingelten Situation herauszubrechen und die Musik objektiv zu betrachten. Der Einfluss der Medien und der Industrie mache den Bürger unmündig. Adorno formulierte seine Kritik in einer Zeit eines musikalischen Umbruchs, nämlich des Einbruchs der internationalen Pop- und Rockmusik in die deutsche und damit deutschsprachige Musikszene.
Die Deutschsprachigkeit scheint ein ganz wichtiges Kriterium des Schlagers zu sein. Während 1962 noch fast alle Hits in Deutschland auf Deutsch gesungen wurden, waren es zum Ende dieses bewegten Jahrzehnts nur noch 5-10%. Und lange Jahre blieb das auch so, vielleicht kurz unterbrochen von der Neuen Deutschen Welle in den frühen 80ern. Mit einem Blick auf die heutigen Charts und auf die Beliebtheit mancher traditioneller Schlagersender kann man fragen: Sind wir wieder auf dem Weg in die 50er? Oder ist der Schlagerhype nur gehypt? Tatsächlich ist es ja so, dass auf den sogenannten Schlagersendern viel Englisches gespielt wird und manches, was eindeutig nicht aus dem Bereich des Schlagers kommt, der Generation Ü40 aber dennoch in ähnlicher Weise vertraut ist.
Was hat das Ganze nun mit der Kirche zu tun? Das hat in ähnlicher Weise schon 2002 die EKD-Kulturdenkschrift „Räume der Begegnung“ gefragt. Und sie hat damals als eines der Ziele der Begegnung von Kirche und Kultur das „Ernstnehmen des Trivialen“ propagiert. In ihrer Analyse des Trivial-Populären haben die Autoren der Denkschrift Adorno widersprochen: „Die kulturindustriellen Produktionsformen, die der Gewinnmaximierung dienen, mindern weder automatisch die Qualität eines Produkts noch bestimmen sie die Werte, die es vermittelt.“ Die Denkschrift vermeidet es klug, das Religiöse und das Triviale zu identifizieren – oder auf unserer Thema übertragen: den Schlager und die Kirche. Sie stehen zu einer Beziehung zueinander, aber sie sind nicht eins. Wieso sollte sich die evangelische Kirche mit etwas so Trivialem wie dem Schlager beschäftigen? Ich zitiere die EKD-Denkschrift auch deshalb, weil sie mein eigenes Interesse trifft: „Es liegt in der Technik, Komplexität in emotionale Eindeutigkeit zu übersetzen. Oder anders gesagt: Das Triviale ist einer von mehreren Wegen, der protestantischen Verkopfung zu ent-gehen.“ Von anderen lernen, heißt es also wieder einmal.
Oder haben wir das schon längst getan? Hat nicht mit dem sogenannten Neuen Geistlichen Lied der Schlager schon Einzug in die Kirche gehalten? „Danke für diesen guten Morgen“ (EG 334) hat nicht umsonst nicht nur in der Kirche, sondern auch auf Schlager-CDs seinen Platz gefunden, bis hin zu der Sammlung von Partykrachern eines Mickie Krause. Und als wir im Landeskirchenamt 2012 im „Jahr der Kirchenmusik“ alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach ihrem Lieblingslied im Gesangbuch gefragt haben, kam ein kirchlicher Schlager auf Platz 1: „Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer“ (EG RWL 663). Ist das ein Grund zum Spotten oder heißt das nur, dass die Menschen im LKA gar nicht so abgehoben von der kirchlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit sind, wie manchmal vermutet wird?
Jedenfalls erscheint es notwendig, dass in der Kirche Berührungsängste und Vorurteile gegenüber dem Schlager abgebaut werden. Wenn wir populäre Musik wie Jazz, Rock und Pop als ernstzunehmenden Teil der Kirchenmusikszene ansehen, wie weit gilt das dann auch für den Schlager? Eines ist allerdings klar, bei allen Formen von klassischer und populärer Kirchenmusik: Wir müssen auf Qualität achten und in der Aus-, Fort- und Weiterbildung auch selbst dafür sorgen. Gegebenenfalls auch beim Schlager.
In seiner Autobiographie berichtet Marcel Reich-Ranicki von einem Erlebnis aus seiner Schulzeit, das diese Hochschätzung der Qualität auch außerhalb der Hochkultur anschaulich macht: „Als die Schüler, die ein Instrument beherrschten, etwas zum besten geben sollten und einer – und zwar ein Jude – im Unterschied zu den anderen, die mit klassischen Stücken aufwarteten, einen miserablen Schlager klimperte, befürchteten wir, [unser Lehrer] Steineck werde ihn streng zu-rechtweisen. Doch was vorgefallen war, hatte ihn nicht empört, sondern nur betrübt. Er sagte ganz leise: ‚Dies war schlechte Musik. Aber auch schlechte Musik kann man anständig spielen.‘“