„Aber man hat schon das Gefühl gehabt, wenn er sitzt und herumguckt, dass er immer alles genau beobachtet. Irgendwo musste er das Material für seine Filme und Sketche herbekommen.“
Zum 100. Geburtstag von Loriot hat mich das Kölner Domradio interviewt. Das Interview ist hier online zu finden.
Ob in Kirchen, am Wanderweg oder auf Friedhöfen: Die Bank hat es dem Menschen angetan. #bänketesten!
Plötzlich war die Idee da. „Bänke! Die werden total unterschätzt.“ Es war in den ersten Monaten des Lockdowns. Vicco von Bülow, im Beruf Landeskirchenrat der Evangelischen Kirche von Westfalen, daheim Vater von Kindern, die beschäftigt werden wollten, war viel unterwegs. Spazieren. Wandern. „Rausgehen war gut“, erzählt von Bülow. Frische Luft, austoben, keine Viren – „mit den Kindern haben wir die Umgebung noch mal ganz neu entdeckt“.
Und irgendwann passierte es. Verschnaufpause. Eine Bank im Wald. „Hey, hier sitzt man echt gut!“, meldete sich der Jüngste lautstark zu Wort, „dafür gebe ich sieben von zehn Punkten.“ Alle grinsten. Die Idee des „Bänke testen“ war geboren.
„Seitdem haben wir bei unseren Touren ganz anders auf Bänke geachtet“, erzählt Vicco von Bülow. Irgendwann postete der Familienvater dann auch auf Instagram ein Foto von sich auf so einer Bank – und war perplex, wieviele Rückmeldungen es gab. „,Tolle Bank. Wo steht die? Was machst du da?‘ Da merkte ich, dass Bänke offenbar etwas auslösen.“
Und so veröffentlichte Vicco von Bülow in der Folgezeit weitere Fotos von Bänken. Und gebrauchte dabei einen Kniff, der in den sozialen Medien des Internet große Wirkung zeigt: In der Bildzeile zu jedem Foto setzte er das Doppelkreuz #. Und gleich dahinter das Wort „bänketesten“. Die Kombination mit dem # („hashtag“ auf englisch) sorgt dafür, dass fortan alle Beiträge auf einer gemeinsamen Seite zusammengeführt werden – egal, wer sie veröffentlicht oder wo das geschieht. Hauptsache, der Text enthält das Wort #bänketesten.
Eine Aktion war geboren. Und viele machen seitdem mit.
Zum Beispiel Burkhard Leich. „Ich fand die Idee witzig.“ Der Diplompädagoge aus Herford ist viel mit dem Fahrrad unterwegs, und er fotografiert leidenschaftlich gerne. „Als ich von der Aktion hörte, dachte ich mir: Klar, da bin ich dabei.“ Was ihm daran so gefällt? „Die Sache hat eine Leichtigkeit. Eine Unbeschwertheit.“
Es muss eben nicht immer alles einen ganz tiefen Sinn haben. Manchmal dürfen Dinge einfach auch nur Spaß machen. Und so finden sich unter dem hashtag #bänketesten seit Anfang 2021 immer mehr Fotos von Bänken. Vor Kirchen. In Kirchen. In Parks. Auf Friedhöfen. Fußgängerzonen. Oder auch vom Urlaub an der Nordsee. Bänke stehen halt an vielen Orten herum.
Aber: Bänke sind nicht nur fast überall verfügbar. Sie sind – bei näherer Betrachtung – auch faszinierend.
Zum Beispiel für Politikerinnen und Politiker. Als die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel den US-Präsidenten Barack Obama empfing, musste eines der offiziellen Pressefotos sein: die beiden auf einer Bank im Grünen. Ähnlich kürzlich noch Friedrich Merz und Markus Söder. Die Bank strahlt Ruhe aus, steht für: Kraft tanken; sie symbolisiert Nähe und Bodenständigkeit. Anders als ihre aufgehübschten Geschwister Sofa und Couch geizt die Bank mit Komfort und bietet stattdessen klare Kante und Konzentration auf das Wesentliche: Halt geben. Neue Kräfte verleihen.
Wohl nicht von ungefähr spricht man auch von einer „sicheren Bank“. Das kann übertragen gemeint sein (so kann etwa ein zuverlässiger Fußballspieler als „sichere Bank“ bezeichnet werden). Aber auch ein Finanzinstitut kann eine „sichere Bank“ sein. Tatsächlich haben beide, Sitzmöbel und Geldhaus, nicht nur den gleichen Namen (Tipp fürs Teekesselchen-Spiel!), sondern die gleiche Wortherkunft: „Bank“ meinte ursprünglich den Sitz und auch den Tisch, über den das Geld gewechselt wurde.
Eine ganz sichere Bank gibt es auch in der Kirche. Mag mancherorts das alte Holzgestühl auch durch flexiblere Einzelsitze ersetzt worden sein: Ganz überwiegend gehört die Kirchenbank zum Gotteshaus fast genauso dazu wie das Amen in der Kirche.
Allerdings war das nicht immer so. Im Grunde sorgte erst die Reformation dafür, dass sich die Bank in der Kirche durchsetzte: Als die Protestanten plötzlich die Wortverkündung in den Mittelpunkt des Gottesdienstes stellten, die Ansprachen nicht mehr in Latein hielten, sondern in der üblichen Landessprache, da musste die Gemeinde mit einem Mal zuhören. Und zwar zum Teil recht lange. So kamen die Bänke in die Kirche. In der römisch-katholischen Messe dagegen standen und knieten die Menschen dagegen noch recht lange. Bis auch hier die Bank sich durchsetzte – praktischerweise mit einem extra Niederkniebrett. Das gibt es bis heute.
Die Bank: eine echte Erfolgsgeschichte. Die Menschen lieben sie. Sie brauchen sie. Egal, wo man hinkommt: Die Bank ist meist schon da.
Also: Nicht auf die lange Bank schieben! Sondern mitmachen! Schauen Sie demnächst genauer hin, wenn Sie an einer Bank vorbeikommen.
Machen Sie vielleicht sogar ein Foto davon, wenn sie Ihnen gefällt. Und posten Sie sie auf Instagram oder Facebook mit dem hashtag #bänketesten.
Und wenn Sie das nicht wollen oder können: Schicken Sie Ihr Foto an uns, die UK-Redaktion, gemeinsam mit ein paar kurzen Angaben zu sich und der Bank. Wir werden die Fotos dann gern für Sie im Internet veröffentlichen.
„Also die Familie von Bülow ist eine der zahlreichsten Adelsfamilien in Europa. Wir haben erstmal ein paar Jahrhunderte Zeit gehabt, uns zu vermehren. Haben das auch ganz gut hingekriegt.“
2011 hat mich die Journalistin Heike Mund für ihr Feature „Adelswelten – Eine Klasse für sich. Adel verpflichtet“ innerhalb der WDR-Sendereihe „Tiefenblick“ interviewt. Der Satz ist ein Zitat aus der Sendung.
In der Mediathek ist die Sendung nicht mehr verfügbar, aber das Manuskript ist noch nachlesbar, z.B. hier.
Es funktioniert immer. Garantiert. Immer, wenn ich einen Vortrag halte an einem Ort, wo ich vorher noch nicht war. Ich beginne mit dem Satz: „Vielen Dank, dass Sie mich eingeladen haben. Mein Name ist Vicco von Bülow.“ Und dann: „Und um die erste Frage zu beantworten…“ Pause. Verblüffte Gesichter: Welche Frage denn? Weiter im Text: „Ja, aber nur entfernt.“ Gelächter im Publikum.
Es funktioniert immer. Auch 10 Jahre nach Loriots Tod am 22. August 2011. Aber auch heute ist er noch im Bewusstsein vieler Menschen präsent. Erst jüngst hat die Literaturfachzeitschrift „text und kritik“ ihm ein Sonderheft[1] gewidmet. Und die Süddeutsche Zeitung hat gleich ein SZ-extra[2] daraus gemacht. Denn Loriot sei „unvergesslich“. Und tatsächlich: Noch 2018 kannten 92 Prozent der deutschen Bevölkerung Loriot, und zwar sowohl in West wie in Ost.[3]
„Sind Sie mit Loriot verwandt?“[4] Diese Frage kenne nicht nur ich, sondern jede(r), der den Nachnamen von Bülow trägt. Bei mir kommt noch der gleiche Vorname hinzu: „Vicco“ kommt vom skandinavischen „Viggo“ (der Krieger), nicht vom lateinischen Viktor (der Sieger). Aber ich bin nicht nach ihm benannt worden, der Name ist seit dem 15. Jahrhundert in unserer Familie heimisch. Die erste Erwähnung der Bülowschen Familie datiert auf das Jahr 1229,[5] die letzten gemeinsamen Vorfahren von Loriot und mir haben um 1400 gelebt – kirchengeschichtlich gesehen also vorreformatorisch, was eine eher weitläufige Verwandtschaft ergibt. Aber wir haben uns, wie alle Mitglieder unserer weitläufigen Familie, miteinander verwandt gefühlt. Und auf einigen der alle zwei Jahre stattfindenden Familientage haben wir uns persönlich getroffen. Unter den bis zu 200 Bülows war dann auch er, ein netter, freundlicher älterer Herr, offen und gesprächsbereit, völlig unprätentiös und überhaupt nicht eitel.
Auf einem dieser Familientage hat er mir er als Theologen ein besonderes Geschenk gemacht: ein Knollennasenmännchen mit Beffchen und Heiligenschein. Ein Unikat. Ein ganz besonderes Andenken, das ich aber aus Urheberrechtsgründen nicht öffentlich zeigen kann. Seine Knollennasenmännchen waren und sind unverwechselbar. Seine TV-Sketche sind Klassiker schon zu Lebzeiten gewesen, die beiden Herren in der Badewanne, Weihnachten mit Hoppenstedts oder der Lottogewinner Erwin Lindemann (dessen Tochter mit dem Papst eine Herrenboutique in Wuppertal eröffnen wollte). Seine Filme „Ödipussi“ und „Pappa ante portas“ haben gezeigt, dass er auch das große Format „konnte“. Er beherrschte diese verschiedenen Formate meisterlich. Aber seine eigentliche Stärke war die Beobachtung. Sein scharfer Blick für menschliche Charakterzüge verband sich mit einem milden Tadel für diese Schwächen. Zumindest war die Milde sein Mittel, damit seine kritischen Anmerkungen zu der Gesellschaft seiner Zeit von möglichst vielen Mitgliedern dieser Gesellschaft auch wahrgenommen wurde.[6]
Wie so viele in Deutschland und auch in der evangelischen Kirche habe ich seine Sketche, Zeichnungen, Filme, Inszenierungen mit großem Vergnügen gesehen; viele Formulierungen haben sich auch bei mir in den alltäglichen Sprachgebrauch eingeschlichen, zum Beispiel das schlichte „Ach, was?!“. Sein feiner Sinn für die menschlichen Stärken und Schwächen hat vermutlich nicht nur mich dabei immer wieder wie in einen Spiegel schauen lassen.[7] Dass er – anders als so manche(r) andere Comedian – schlechte Witze über Gott und die Kirche unterlassen hat, verstärkt aus meiner Sicht nur das Niveau seines Humors, der nicht nur seiner familiären Herkunft wegen vornehm genannt werden kann. Andere haben seine Grundhaltung auch zutreffend als „gelassen, heiter, verzweifelt“[8]bezeichnet. Von seinen Kollegen wurde er als „Komikklassiker“ (Robert Gernhardt)[9] oder als „beliebtester deutscher Komiker“ (Otto Waalkes)[10] bezeichnet.
Mit 87 Jahren ist er 2011 in einem biblischen Alter gestorben. In Psalm 90,10 heißt es „Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre.“ In seinen letzten Lebensjahren hatte er sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und trat nicht mehr aktiv als Humorist in Erscheinung. Zwei Jahre nach seinem Tod wurden über 400 unveröffentlichte Zeichnungen von Loriot in einer großen „Spätlese“ veröffentlicht. Die als „Nachtschattengewächse“ im Schlussteil des Werks bezeichneten Bilder entstanden in schlaflosen Nächten und sind anders als der Rest, nämlich kubistisch, dadaistisch, verquer und weniger offensichtlich komisch.
Fünf Jahre vor seinem Tod wurde er in einem Streiflicht der „Süddeutschen Zeitung“ dahingehend zitiert, dass er ab und an mit Frau und Freunden über Friedhöfe marschiere und nach einer geeigneten letzten Ruhestätte Ausschau halte. Solches abschiedliche Leben war keineswegs makaber, sondern zeigte die fröhliche Gelassenheit, mit der er dem Tod ins Auge blickte. „Ich glaube“, hat Loriot damals gesagt, „dass der liebe Gott lachen kann“.[11] Auch wenn wir darüber trauern, dass wir nicht mehr mit dem lebenden Loriot lachen können, so können wir uns doch darüber freuen, dass er mit dem lebendigen Gott lachen kann.
[1] Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur IV/21, Nr. 230: Loriot. [2] SZ-extra „Kultur und Zeitvertreib“ vom 12. Mai 2021. [3] Vgl. Max Wellinghaus, Loriot. Kleine Anekdoten aus dem Leben eines großen Humoristen, München 2. Aufl. 2018, S. 7. [4] „‘Sind Sie mit Loriot verwandt?‘ – diesen Satz kennt jede(r) Bülow hierzulande. Die Frage kann immer mit gutem Gewissen bejaht werden.“ Angelika v. Bülow, „Alle Diemirs sind verwandt“, in: Daniel Keel (Hg.), Loriot und die Künste. Eine Chronik unerhörter Begebenheiten aus dem Leben des Vicco von Bülow zu seinem 80. Geburtstag, Zürich 2003, S. 28-30, Zitat S. 28. [5] Vgl. Daniel Faustmann, unter Mitarbeit von Henning und Detlev Werner von Bülow, Vierzehn Kugeln auf blauem Schild. Die Bülows in der Geschichte, hg. durch den von Bülow’schen Familienverband. Schwerin 2014. [6] „Das geladene Publikum lacht. Die Ehrengäste aus Politik, Wirtschaft und Kultur lachen. Jeder einzelne glaubt von sich, nicht gemeint zu sein. Wenn sie sich da mal nicht irren.“ Eckhardt Pabst, „Das Bild hängt schief!“ Loriots TV-Sketche als Modernisierungskritik, in: text und kritik (Anm. 1), S. 34-52, Zitat S. 50. [7] „Er hält unserem Gesprächsverhalten auf komische, überzogene, ja groteske, niemals pädagogisierende Weise den Spiegel vor und zeigt uns das Absurde daran.“ Ulla Fix, Was ist das „Loriot’sche“ an Loriot? Eine Betrachtung seiner „Ehe-Szenen“ aus der Perspektive der kommunikativen Ethik, in: text und kritik (Anm. 1), S. 86-95, Zitat S. 95. [8] Reinhard Baumgart, Gelassen, heiter, verzweifelt, in: text und kritik (Anm. 1), S. 59-69. [9] Robert Gernhardt, Klassiker!, in: Daniel Keel (Anm. 4), S. 52-54, Zitat S. 53. [10] Otto Waalkes, Zum Quietschen schön. Interview mit Susanne Hermannski, in: SZ-extra (Anm. 2). [11] Vgl. Loriots Antwort im Interview mit Franziska Sperr / Jan Weiler, „Altern ist eine Zumutung“. Ein Gespräch, in: Daniel Keel (Anm. 4), S. 154-177, Zitat S. 172: „Was kommt nach dem Tod? Der Himmel, hoffe ich. Ich habe mir meinen Kinderglauben an den lieben Gott bewahrt. – Wissen Sie, was auf Ihrem Grabstein stehen soll? Zweckmäßig wäre es, wenn der Name darauf stünde.“
„Herr von Bülow, was gehört für Sie zu einem guten Gottesdienst?“ – um diese Frage ging es im Podcast „Lebenszeichen“, in dem ich am 6. Dezember 2020 zu Gast war (Lebenszeichen #19, 06.12.2020)
„Lebenszeichen“ ist der Titel des Podcasts der evangelischen Marienkirchengemeinde Stiftberg Herford. Aike Schäfer und Simon Hillebrecht besprechen mit wechselnden Gästen buchstäblich Gott und die Welt – samt allem dazwischen. Musikalisch untermalt wird jede Folge von den (großartigen!) Künstlerinnen und Künstlern der Marienkirchengemeinde.
In der 19. Folge fahren wir nach Bielefeld und besuchen im Landeskirchenamt den Landeskirchenrat Dr. Vicco von Bülow – Dezernent für Kirchliches Leben, Gottesdienst, Theologie und Kirchenmusik. Mit ihm sprechen wir über Gottesdienstzeiten, Trauungen und die Ehe für Alle – und gehen der Frage nach, was zu einem wirklich guten Gottesdienst gehört.
Moderation: Simon Hillebrecht und Aike Schäfer Intro/Outro: Dariia Lytvishko
Das Küchenradio in meiner Schöneberger Studentenwohnung verkündete krächzend das Ergebnis: 292 von 525 Abgeordneten des Deutschen Bundestags stimmten am 25. Februar 1994 dem Antrag „Verhüllter Reichstag – Projekt für Berlin“ zu. Das Künstlerehepaar Christo und Jeanne-Claude war kurz davor, ihren seit 1971 gehegten Traum zu verwirklichen, den Berliner Reichstag zu verhüllen. 223 Abgeordnete sprachen sich dagegen aus und auch in Berlin waren die Meinungen geteilt. Ich selbst hatte lange Zeit keinen rechten Zugang zur Kunst Christos gefunden, aber im Zuge der Werbeveranstaltungen im Vorfeld der Abstimmung einen Vortrag von ihm gehört, der mit einer Ausstellung von ersten Entwürfen begleitet wurde. Und hatte einige dieser Bilder einfach nur ästhetisch schön gefunden. Das wiederum hatte mich dafür geöffnet, mich auch inhaltlich näher mit seinem Konzept von Kunst im öffentlichen Raum zu beschäftigen.
Bei seinem Vortrag hatte Christo angekündigt: Wenn das Projekt realisiert wird, können die Berliner mitwirken. Das fand ich spannend und so schrieb ich eine Postkarte an die Reichstagsverwaltung (in Vor-Internet-Zeiten war es nicht so einfach, an Christos eigene Adresse zu kommen…). Nach einiger Zeit erhielt ich eine Antwort vom Projektbüro des Verhüllten Reichstags, ich könnte als „Monitor“ im Bereich Touristenbetreuung und Wachdienste mitwirken, wenn es soweit sei.
Etwas mehr als ein Jahr später war es soweit. Vom 24. Juni bis zum 7. Juli 1995 wurde das Gebäude des Reichstags mit einer silbrig glänzenden Hülle aus aluminiumbedampftem Propylengewebe verhüllt. Und ich war zwei Wochen lang dabei, als kleines Rädchen in einem großen Getriebe. Jeden Tag sechs Stunden: Wechselnd von 11 bis 17, von 17 bis 23, von 23 bis 5 oder von 5 bis 11 Uhr. Unabhängig von Wind und Wetter (das erfreulicherweise je länger, desto sommerlicher wurde). Das Team sollte auf den Reichstag aufpassen, ihn vor Graffiti-Sprayern oder sonstigen Anschlägen schützen, die zu Beginn befürchtet wurden, dann aber doch nicht kamen. So war es unsere Hauptaufgabe, Touristen zu informieren und die 5x5cm großen Gewebestücke zu verteilen, die als Giveaway vorgesehen waren. Zwei Wochen lang umstanden wir den Reichstag, immer mit demselben Teammitgliedern, die an den unterschiedlichsten Punkten ihres Lebens standen und zu diesem einen Punkt zusammengekommen waren. Ein Holländer musste ständig erklären, dass er trotz der Namensgleichheit nicht mit dem Marinus van der Lubbe verwandt war, der 1934 als Mittäter des Reichstagsbrands hingerichtet worden war. Eine Amerikanerin hatte 1991 bei Christos „Umbrella“-Projekt in den USA mitgemacht und war ihm nun nach Berlin hinterhergereist. Die meisten von uns waren Studentinnen und Studenten aus Deutschland.
Nach jeder Schicht gab es feines Essen im Reichstagspräsidentenpalais an der Ostseite. Christo und Jeanne-Claude waren dort, der Cheforganistor Roland Specker, der Fotograf Wolfgang Volz; der Koch, so hieß es, arbeitete sonst im Golfclub Wannsee. Das war eine willkommene Ergänzung zum insgesamt doch eher taschengeldähnlichen Lohn. Natürlich waren auch die einen oder anderen Prominenten vor Ort. Der Verleger Florian Langenscheidt hatte sich als „Monitor“ verpflichtet und schob wie alle anderen seine Schichten. Der SPD-Vorsitzende Rudolf Scharping wiederum wurde vom diensthabenden „Monitor“ nicht erkannt, als er sich ohne Ausweis Zutritt zum Reichstagsgebäude verschaffen wollte. Und wer wissen will, was ich mitten in der Nacht mit dem Schauspieler und Regisseur Dani Levy erlebte, kann sich Folge 11 des Podcasts „Irgendwas dazwischen“ anhören.
Manche der insgesamt 1200 „Monitore“ machten weitere Kasse, indem sie die originalsignierten Drucke oder T-Shirts verkauften, die wir von Christo und Jeanne-Claude bekamen. Eine Frau aus meinem Team bekam 3.000 DM für ihr Shirt.
Aber darum ging es eigentlich nicht. Es ging um das Bewusstsein, an einem großen Kunstprojekt mitgewirkt zu haben (ja, Joseph Beuys hat Recht: „Jeder Mensch ist ein Künstler“), das 5 Millionen Zuschauer nach Berlin zog. Es ging um die Lust, mitten in einem mehrwöchigen und friedlichenVolksfest dabei gewesen zu sein, das elf Jahre vor der Fußball-WM ein ganz besonderes „Sommermärchen“ war. Es ging um eine veränderte Sicht auf ein politisches Gebäude, das eine höchst komplexe Vergangenheit und eine ungewisse Zukunft hatte. Und es ging um Schönheit.
Und das war und ist umstritten: Darf moderne Kunst einfach nur schön sein, oder genauer: als schön empfunden werden? Ich finde keinen Grund, warum sie es nicht darf. Ich finde Schönheit schön. Oder darf ich das nicht? In den Kulturheologischen Leitfragen der Evangelischen Kirche von Westfalen (2019) wird diese Frage so gestellt und beantwortet:
„Wer entscheidet, was schön ist und was nicht? Zuerst und zuletzt: dein eigenes Empfinden. Um Immanuel Kant zu variieren: Habe den Mut, dich deines eigenen Geschmacks zu bedienen. Denn erst das Geschmacksurteil, so Kant, ist das wirklich freie Urteil: Gerade weil es „kein Erkenntnisurteil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch“ ist, kann es „nicht anders als subjektiv sein“, und gerade weil es vollkommen subjektiv ist, ist es frei. Natürlich gibt es, will man Kunst von Kunst unterscheiden, ästhetische Kriterien: Man kann nach der Durchgestaltung eines Werkes fragen, nach Maßstäblichkeit und technischem Vermögen, nach Originalität und Reflexivität im Blick auf das, was vorher war und andere schufen, man kann danach fragen, ob ein Werk einlädt oder sich verschließt, ob es sich ausdeuten lässt oder etwas zurück behält, ob es raunt oder spricht, geradlinig ist oder verwickelt, eingängig oder verworren, hölzern oder beseelt, geistlos oder geheimnisvoll, ob ein Plot ungelenk ist oder verblüffend, eine Figur komplex oder plump, eine Pointe überraschend oder absehbar, ob eine Melodie schal ist oder einleuchtend, eine Harmonie gefällig oder wundersam, ein Rhythmus animiert oder befiehlt und so weiter: Wo ein Kriterium ist, ist auch sein Gegenteil, wo Tiefsinn herrscht, zählt Aufmachung, wo Einmaligkeit zählt, gilt Serialität, wo das Gesetz der Serie gilt, punktet die Unterbrechung, wo Klassik punktet, zählt Punk, und jetzt wieder Kant: Jedes ästhetische Urteil, schrieb er, habe seinen Bestimmungsgrund in einer Empfindung, „die mit dem Gefühle der Lust und Unlust unmittelbar verbunden ist“. Und das ist biblisch gedacht: Bereits der Apfel am Baum der Erkenntnis war eine Lust für die Augenund deshalb verlockend, weil er klug machte. Lustgefühle sind ein paradiesisches Erbe, sie versprechen Geist. Auch Unlustgefühle drängen darauf, klüger zu machen – unvermittelt geweckt, teilen sie sich unvermittelt mit, mimisch, akustisch, körpersprachlich, und schon lässt sich über Geschmack wie über nichts anderes streiten. Es ist ein Streit unterm Baum der Erkenntnis: Wo immer es um Wahrheit geht, geht es zuerst (und womöglich auch zuletzt) um ein ästhetisches Empfinden. Wenn aber, müssen wir lernen, über Geschmack zu streiten, wir müssen lernen, einen Geschmack für Demokratie zu entwickeln, es ist dringend: Auch die Ästheten der Barbarei haben ein Geschmacksurteil gefällt, auch sie entscheiden subjektiv und frei aus ihrem eigenen Vermögen.“ Also entscheide ich mich dafür, den Verhüllten Reichstag weiterhin schön zu finden. Wer will, kann ja mit mir darüber streiten.
Auch diese Frage ist umstritten: Darf moderne Kunst populär sein? Ist es nicht geradezu ein Zeichen, dass etwas keine Kunst ist, wenn es populär ist? Schnell kam und kommt der Kitschverdacht auf. „Das ist trivial“ – schallte und schallt es vorwurfsvoll aus der Avantgardisten-Ecke. Hier ist mir die EKD-Kulturdenkschrift „Räume der Begegnung“ (2002) wichtig geworden, die interessante Gedanken zum Trivialen formuliert: „Das Triviale stiftet Gemeinschaft und begleitet die Menschen durch ihren Alltag, es nimmt sie in ihrem Bedürfnis nach Nähe und Entdifferenzierung ernst. In der Art und Weise, wie das Triviale emotional wirkt, ist es der Religion viel näher, als man auf den ersten Blick annehmen möchte. Das Triviale weiß um diese Nähe: Es ist reich an religiösen Metaphern; kirchliche Inszenierungen und Rituale gehören selbstverständlich in sein Repertoire. Umgekehrt könnte der Umgang mit dem Trivialen auch für die Religion Gewinn bringen, weil sie hier etwas darüber erfährt, wie Menschen sich emotional berühren lassen und wie Sicherheit beim Gebrauch von Metaphern und Ritualen entsteht.“ In diesem Sinne kann der „Verhüllte Reichstag“ von Christo und Jeanne-Claude meinetwegen gerne trivial sein: Er hat Gemeinschaft und Nähe gestiftet, indem er einen Raum der Begegnung geschaffen hat. Er hat Menschen emotional berührt. Und er hat religiöse Metaphern genutzt, die ich biographisch nachvollziehen kann: Das Austeilen der oblatengroßen Gewebestücke durch den „Monitor“ (1995) ist voll von Analogien zum Austeilen des Brots beim Abendmahl durch den Vikar (ab 1997) und Pfarrer (ab 2000). Ein symbolischer – und doch nicht nur symbolischer, sondern ganz konkret materieller – Anteil an dem großen Geschehen, auf das es verweist. Manchmal wünsche ich mir dann als Theologe, die Abendmahlsteilnehmer in der Kirche heute würden sich mit der gleichen Emotionaliät und Sehnsucht über die Abendmahlsoblaten freuen wie seinerzeit die Touristen über die Gewebestücke des Verhüllten Reichstags. Auch wenn vermutlich die meisten dieser „Stofffetzen“ inzwischen im Müll entsorgt wurden oder in den hinteren Ecken unbenutzter Schubladen vor sich hin stauben…
Bei mir blieb die Begeisterung für Christo und seine Kunst. Allerdings habe ich mir nur eines seiner weiteren Projekte vor Ort anschauen können: Die Mauer aus 13.000 Ölfässern im Gasometer Oberhausen. Die anderen Projekte habe ich nur durch die Medien vermittelt bekommen. Und mit der Zeit wanderten die von ihm signierten Drucke von der Wohnzimmerwand ins Dachgeschoss.
Doch als am 31. Mai 2020 die Nachricht vom Tod Christos als Eilmeldung durch die Presse ging und er später dort ausführlich gewürdigt wurde, war jener Sommer 1995 in Berlin wieder voll und ganz präsent, den die Nachricht aus dem Küchenradio in der Studentenwohnung angekündigt hatte.
Gott und die Welt? Flachwitz oder Heiliger Ernst? Klare Kante oder Kirchendiplomatie? Bernd Tiggemann oder Vicco von Bülow?
Na, irgendwas dazwischen! So heißt der Podcast, an dem Bernd und ich uns versuchen. Wir plaudern über alles, was uns so durch den Kopf geht. Über Gott und die Welt und – eben! – irgendwas dazwischen. Und hoffen, dass jemand zuhört.