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Kirchliches

Theologie und Öffentlichkeitsarbeit

Nach 12 ½ Jahren im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Westfalen war es für mich Zeit für Neues. Seit dem 1. November 2023 bin ich Referent für Theologie und Öffentlichkeitsarbeit in der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen. Diese Konföderation hat nichts mit Star Wars oder dem amerikanischen Bürgerkrieg zu tun, sondern ist der Zusammenschluss der fünf evangelischen Kirchen auf dem Gebiet des Landes Niedersachsen. Sie vertritt die evangelischen Interessen gegenüber dem Land und übernimmt gemeinsame Aufgaben der beteiligten Landeskirchen. Im Dezember bin ich dann auch liturgisch in meine neue Stelle eingeführt worden.

Dazu meldete die Konföderation:

Dr. Vicco von Bülow (56) wurde von der Bevollmächtigen Dr. Kerstin Gäfgen-Track in sein neues Amt als Referent der Konföderation für Theologie und Öffentlichkeitsarbeit eingeführt. Der Gottesdienst stand unter dem Bibelwort aus Psalm 37,5: „Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohlmachen.“

Bei der Einführung assistierten Bischof Thomas Adomeit (Oldenburg), Kirchenrätin Daniela Fricke (Bielefeld) und OStR i.K. Dorothea Otte (Hannover).

Pastor von Bülow ist seit dem 1. November 2023 als Referent für die Bereiche Theologie und Öffentlichkeitsarbeit in der Geschäftsstelle der Konföderation zuständig. Der gebürtige Westfale war zuvor Referent für Theologie und Kultur im Kirchenamt der EKD und danach theologischer Dezernent im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Westfalen. Er beschreibt sich als Buchliebhaber, Ehemann, Jazzfan, Jogger, Kirchenhistoriker, Klassikverehrer, Ostfriesenteetrinker, Pastor und Pfarrer, Podcaster, Theologe, Vater (dreier Kinder), Wanderfreund und Whiskygenießer. Mit seinem Namensvetter Loriot ist er nur entfernt verwandt.

Auch die Internetseite reformiert-info nahm diese Meldung auf.

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Kirchliches Musikalisches

Hochschule für Kirchenmusik Bochum beschlossen

In den letzten Jahren habe ich mich als Kirchenmusikdezernent der Evangelischen Kirche von Westfalen sehr für die Zusammenführung der beiden Standorte unserer Hochschule für Kirchenmusik von Herford und Witte nach Bochum eingesetzt.

Nun hat die westfälische Kirchenleitung endlich den entsprechenden Beschluss gefasst. In zwei Radio-Interviews habe ich mich dazu geäußert:

  • Am 30. August wurde ich in WDR 3 Tonart interviewt, das Interview ist in der Mediathek verfügbar.
  • Auf Antenne Thüringen und LandesWelle Thüringen lief am 31. August ein Beitrag, den der Internationale Audiodienst Frankfurt (iad) produziert hat. Auch er ist online nachzuhören.

Grundlage war die Pressemitteilung der Evangelischen Kirche von Westfalen:

Westfälische Kirchenleitung beschließt Neubau der Hochschule für Kirchenmusik

Projekt mit großer Strahlkraft

Jetzt ist es sicher: Bochum wird neuer Standort der Hochschule für Kirchenmusik. Auf ihrer Sitzung am 24. August beschloss die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW), in Bochum den Hochschulneubau zu errichten.Darin werden die beiden Studienzweige der klassischen Kirchenmusik, die seit vielen Jahren in Herford gelehrt wird, und der kirchlichen Popularmusik, die Studierende bislang in Witten lernen können, in einer gemeinsamen kirchlichen Musikhochschule zusammengeführt.

Schon im vergangenen Jahr hatte sich die Kirchenleitung grundsätzlich für das Hochschulprojekt ausgesprochen und sich auf Bochum als möglichen Standort festgelegt. Anfang dieses Jahres gab sie die professionelle Projektplanung in Auftrag, verbunden mit der Aufgabe, unter realistischen Bedingungen die Einhaltung der Budgetvorgaben von maximal 14,2 Millionen Euro zu prüfen. Nachdem jetzt Planung und Prüfergebnis vorlagen, machte die Kirchenleitung mit ihrer Entscheidung den Weg für den Neubau frei.

Die neue Hochschule für Kirchenmusik wird in Bochum auf dem Campus der Evangelischen Hochschule entstehen. Auf drei Etagen bietet sie in Räumen mit anspruchsvoller Akustik und ansprechender Gestaltung Studienmöglichkeiten für jeweils rund 40 Studierende. Erstmals sollen junge Frauen und Männer zum Wintersemester 2026/27 ihr Studium am neuen Hochschulstandort aufnehmen können.

Dass in Bochum künftig klassische und populare Kirchenmusik gemeinsam gelehrt wird, ist einzigartig in der deutschen Kirchenmusiklandschaft. Hochschulrektor Jochen Kaiser verspricht sich davon eine gegenseitige künstlerische Inspiration beider Studienrichtungen. Er hatte im Frühjahr das Amt als Hochschulrektor übernommen mit dem Ziel, die bisher parallellaufenden Kirchenmusik-Studienfächer räumlich und konzeptionell zusammenzuführen (zum Interview mit Jochen Kaiser).

Mit der Entscheidung für den Hochschulneubau und das künftige Konzept setzt die Kirchenleitung ein Zeichen für die besondere Bedeutung der Kirchenmusik in Westfalen. „Diese neue Hochschule wird ein Projekt mit kultureller Strahlkraft sein – und das weit über Westfalen hinaus“, zeigt sich die Präses der EKvW, Annette Kurschus, überzeugt. Gerade in Zeiten knapper werdender Finanzmittel beschreibt die Kirchenleitung damit nicht zuletzt eines der kirchlichen Handlungsfelder, denen sie für die Zukunft Priorität einräumt.

(Medieninfo 6/2023)

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Kirchliches

Intelligentes Grußwort

Grußwort auf der VV der Prädikant:innen und Laienprediger:innen am 3.6.23 in Haus Villigst


Liebe Prädikant:innen und Laienprediger:innen der evangelischen Kirche von Westfalen,

es ist mir eine große Ehre und Freude, Ihnen anlässlich Ihrer diesjährigen Vollversammlung ein herzliches Grußwort zu übermitteln. Diese Zusammenkunft ist eine wunderbare Gelegenheit, um gemeinsam auf das vergangene Jahr zurückzublicken, Erfahrungen auszutauschen und neue Impulse für unsere Arbeit in der Kirche zu erhalten.
Als Prädikanten und Laienprediger spielen Sie eine unverzichtbare Rolle in unserer Gemeinschaft. Mit Ihrer Hingabe und Ihrem Engagement vermitteln Sie die frohe Botschaft des Evangeliums und tragen maßgeblich zur geistlichen Entwicklung unserer Gemeinden bei. Ihre Predigten, Gottesdienste und seelsorgerischen Tätigkeiten sind von unschätzbarem Wert und haben einen positiven Einfluss auf das Leben vieler Menschen.

In Zeiten des Wandels und der Herausforderungen ist es von großer Bedeutung, dass wir als Gemeinschaft zusammenstehen und uns gegenseitig unterstützen. Die Vollversammlung bietet uns die Möglichkeit, unser Wissen zu erweitern, neue Ideen zu entwickeln und gemeinsam Lösungen für die Fragen und Anliegen unserer Zeit zu finden. Lassen Sie uns diese Stunden intensiv nutzen, um voneinander zu lernen, uns zu ermutigen und gestärkt in unsere Gemeinden zurückzukehren.
Ich wünsche Ihnen allen eine inspirierende und bereichernde Vollversammlung. Möge dieser Austausch von Erfahrungen und Ideen neue Perspektiven eröffnen und Sie mit frischer Motivation für Ihren wichtigen Dienst erfüllen. Gemeinsam werden wir weiterhin das Evangelium verkündigen und die frohe Botschaft der Liebe und Hoffnung in unsere Gemeinden tragen.
Mit den besten Wünschen und Gottes Segen,


[Pause]

Liebe Geschwister,

vielen Dank für die freundliche Aufnahme meines Grußworts. Sie haben soeben einer künstlichen Intelligenz applaudiert. Das, was ich vorgelesen habe, hat der künstliche Sprachbot „ChatGPT“ verfasst. Auf die Aufgabe: Schreibe ein Grußwort für die Vollversammlung der Prädikanten und Laienprediger in der evangelischen Kirche von Westfalen. Mehr Informationen habe ich nicht gegeben. Das könnte man noch komplexer machen: Schreibe ein Grußwort für die die Vollversammlung der Prädikanten und Laienprediger in der evangelischen Kirche von Westfalen und berücksichtige folgendes Schwerpunktthema. Oder und schreibe es in einem humorvollen Tonfall. Da gibt es viele Möglichkeiten, die ich alle nicht genutzt habe.

So ist Ihnen das Grußwort vielleicht etwas blass und aussagearm vorgekommen, aber sind das Grußworte nicht immer? Oder zumindest oft? Vielleicht haben Sie auch nicht so genau zugehört – ist ja nur ein Grußwort… Jedenfalls finde es erstaunlich, wie gut eine künstliche Intelligenz den Tonfall eines menschlichen Grußworts imitieren kann. Wie finden Sie das? Erschreckend? Begeisternd?

Es ist aber fast schon egal, wie Sie es finden. Es ist nämlich Realität. Das, was man künstliche Intelligenz nennt, ist Teil unserer Welt. Und wird sie mehr und mehr beeinflussen. Nicht nur bei Grußworten, sondern in fast allen Feldern unseres Lebens. Neulich war in der Süddeutschen Zeitung ein interessanter Artikel darüber zu lesen, wieso ChatGPT noch nicht richtig als journalistischer Praktikant für eine Zeitung taugt. Aber ich bin mir sicher: Das wird sich ändern, und zwar schneller als wir denken.

Unsere Welt insgesamt wird sich ändern, und zwar schneller als wir denken. Unsere Kirche wird sich ändern, und zwar schneller als wir denken.

Auf der Landessynode im Mai haben wir über die Veränderungen gesprochen, die aus der steigenden Zahl der Kirchenaustritte resultieren. Die Entwicklung der Mitgliederzahlen, aber darüber hinaus auch die veränderten Rahmenbedingungen für die Kirche insgesamt, das führt zur Frage, ob der Begriff „Volkskirche“ noch die kirchliche Realität widerspiegelt. Aufgrund schwindender Ressourcen ist es schwieriger geworden, in der Fläche große Gruppen mit unseren Angeboten zu erreichen.

Volkskirche im Sinne der Kirche des Volkes sind wir nicht, aber können wir weiterhin wie in den letzten 100 Jahren Volkskirche als Kirche für das ganze Volk sein? Ich bin mir nicht mehr sicher. Und deshalb will ich den Begriff Volkskirche nicht mehr verwenden, obwohl ich vieles gut finde, was der Begriff meint: Offenheit, Vielfältigkeit etc. Er verschleiert aber die Einsicht: Wir sind eine evangelische Kirche im Übergang von der „Volkskirche“ in eine Kirchenform, für die Begrifflichkeit und Gestalt erst noch erarbeitet werden müssen.

Was wird jetzt aus der Kirche? Wenn ich ehrlich bin: Ich weiß ich nicht. Und wenn Sie ehrlich sind, wissen Sie es auch nicht. Lassen Sie uns gemeinsam danach suchen und das, was wir können, miteinander gestalten. Das wird nicht immer einfach. Aber unausweichlich. Und in jeder Herausforderung liegen Chancen. Lassen Sie uns die gemeinsam nutzen.

Die praktische Theologin Uta Pohl-Patalong hat gesagt: „Die aktuelle Situation der Kirche braucht den Mut, mit kleinen Schritten zu beginnen, ohne zu wissen, ob sie zu einer langfristig tragfähigen Lösung führen.“ Diesen Mut wünsche ich uns allen.

Bei all dem vertraue ich darauf, dass der HERR seine Kirche bewahren wird. Er hat nur nicht versprochen, dass er ausgerechnet die Form bewahren wird, die wir gerade kennen.

Zum Schluss. Eines hat Chat GPT in seinem Grußwort nicht aufgenommen, weil ich die KI nicht darüber informiert habe: Es soll eine neue Leitung für die Prädikant:innen und die Laienprediger:innen geben. Dazu werden Sie im weiteren Verlauf der Tagesordnung beraten und beschließen.

Peter Winkemann hat diese Aufgabe schon innegehabt, als ich die Zuständigkeit für die Prädikantenarbeit im Landeskirchenamt übernommen habe. Er war also schon da. Und es gibt Menschen, die behaupten: Er sei immer schon da gewesen als Sprecher der Prädikanten und Laienprediger. Das wird historisch nicht ganz zutreffend sein. Ich habe da sowas von 16 Jahren gehört. Es gibt aber eine Wahrnehmung wieder, die für Fakten steht: Peter, Du hast mit deinem Einsatz und deiner Leidenschaft die Prädikanten und Laienprediger der EKvW über Jahre hinweg begleitet und unterstützt. Dein Wissen, Deine Fähigkeiten und Dein Engagement haben für viele eine Inspiration und Ermutigung bedeutet, ihren Dienst mit Freude und Begeisterung auszuüben. Nun kannst Du das alles als Mitglied der Kirchenleitung in unsere Kirche einbringen. Bei aller Traurigkeit darüber, dass Du nicht mehr als Sprecher dieses Kreises hier weitermachen wirst, freue ich mich persönlich, dass wir uns dort weiterhin sehen.

Und nun nach vorne geschaut. Und noch ein paar Worte an, ja an wen denn genau? Wer auch immer Mitglied des angedachten Sprecherrats werden soll – es gibt ja schon Überlegungen dazu -: Ich freue mich auf die gute Zusammenarbeit mit Ihnen. Und komme auf die Abschlussformulierung von ChatGPT zurück: „Gemeinsam werden wir weiterhin das Evangelium verkündigen und die frohe Botschaft in unsere Gemeinden tragen.“ Das mache ich mir hiermit zu eigen.

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Kirchliches

Abendmahl_digital

Ein Beitrag zu kirche_digital für die Landessynode 2022 der Evangelischen Kirche von Westfalen. Grundlage für den gleichnamigen Podcast im Gespräch mit Pfarrer Moritz Gräper.

1. Lockdown Ostern 2020
Im Frühjahr 2020 überraschte die Corona-Pandemie die Gesellschaft und auch die Kirchen. Kurz vor Ostern wurde ein deutschlandweiter Lockdown ausgesprochen, in einigen Bundesländern wurden Gottesdienste explizit verboten, in anderen Bundesländern – zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen – verzichteten die Kirchen auf Bitten des Staates darauf, Präsenzgottesdienste durchzuführen. Das digitale Streamen von Gottesdiensten blieb aber möglich. Manche Gemeinden waren gut darauf
vorbereitet, andere gingen die Aufgabe spontan mit viel Engagement an. Schnell kam die Frage auf: Was ist mit dem Abendmahl? Am Gründonnerstag? Am Ostersonntag? Geht das auch digital? In einigen Landeskirchen wurde explizit von der online-Feier des Abendmahls abgeraten, andere ermunterten explizit dazu. In Westfalen gab es keine kirchenleitende Vorgabe. Ich selbst habe damals gedacht, dass ein zweiwöchiges Abendmahlsfassten zumutbar wäre. Schließlich ist nach evangelischem Verständnis ein Wortgottesdienst genauso viel wert wie ein Abendmahlsgottesdienst. Und vielleicht wäre nach einer Fastenzeit das Abendmahl den Christinnen und Christen um so wertvoller geworden.
Nun dauert die Fastenzeit nicht nur zwei Wochen, sondern zwei Jahre. Es geht nicht mehr um die Frage, was in der Notsituation erlaubt, möglich oder sinnvoll ist beziehungsweise was nicht erlaubt, nicht möglich oder nicht sinnvoll ist, sondern um die grundsätzliche Frage: Wenn digitale Gottesdienste mehr und mehr zum regulären Gottesdienstangebot gehören, gilt das dann auch für das digitale Abendmahl?


2. Kein neues Thema
Im Frühjahr 2020 gab es schnell eine intensive Debatte, ob so ein digitales Abendmahl überhaupt möglich sei. Interessanterweise wurde die Auseinandersetzung oft so geführt, als seien die theologischen Fragen völlig neu.
Dabei gab es schon vorher Überlegungen, auf die man hätte zurückgreifen können. Der alte Streit zwischen den griechischen Philosophen Platon und Aristoteles, in welchem Verhältnis Bilder und Wirklichkeit zueinander stehen. Die Auseinandersetzung der Reformatoren Luther und Zwingli darüber, wie denn nun die Präsenz von Leib und Blut Christi in den Elementen Brot und Wein beim Abendmahl zu denken sei. Aber auch jüngere Überlegungen zu der Frage, was die Digitalisierung mit der Gesellschaft macht. Auch in der Kirche gab es Menschen, die dazu vorgedacht hatten. Aber die Debatten darüber blieben zumeist im Raum weniger digitaler Insider. Das ist nun anders: Die Frage berührt weite Kreise der Kirche. Und es gibt noch keinen Konsens, wie die Antwort darauf lautet.
Manche haben „die Kirche“ in der Pandemie kritisiert, dass sie geschwiegen habe. Ich glaube, dass das auch für die wissenschaftliche Theologie gilt. Und angesichts einer Jahrhundertkrise dürfen auch Theologie und Kirche erst einmal ratlos sein.
Aber wir sollten uns nun gemeinsam beraten. Ich freue mich über alle, die an so etwas wie einem gelingenden Praxis-Theorie-Diskurs beteiligt sind. Und nicht an erfahrungsfreier deduktiver Theologie oder an theorieblinden Praxisexperimenten.


3. Wichtige Fragen
Nach meiner Beobachtung gibt es eine Reihe von wichtigen Fragen, die geklärt werden müssen. Und interessanterweise hat die erste Frage beim digitalen Abendmahl mit dem Abendmahl an sich zu tun.

3.1. Abendmahl und Gemeinschaft
Was ist eigentlich das Abendmahl? Schon vom Neuen Testament her gab es unterschiedliche mögliche Schwerpunktsetzungen. Im 20. Jahrhundert hat sich besonders der Gemeinschaftsaspekt im Abendmahl ins Zentrum gestellt. Und auch beim digitalen Abendmahl wurde zunächst vor allem über die Frage diskutiert, ob es online überhaupt eine Gemeinschaft geben
könne. Einige sagten, dass sie digital Gemeinschaft erfahren hätten und dass es deshalb selbstverständlich auch ein Online-Abendmahl gebe. Andere erwiderten: Für die Feier der Gemeinschaft, oder: für die Feier in der Gemeinschaft reiche auch das Agapemahl. Das Abendmahl brauche mehr als nur Gemeinschaft, nämlich die Präsenz Christi in den Elementen, also in der Materie.

3.2. Abendmahl und Präsenz
Es gibt verschiedene Formen eines medial übertragenen Abendmahls (Übertragungsabendmahl, z.B. im Fernsehgottesdienst – Hybrid-Abendmahl in Kirche und am Bildschirm – Konferenz-Abendmahl z.B. im Zoom-Gottesdienst u.a.). Vorausgesetzt wird bei allen Formen, dass beim digitalen Abendmahl tatsächlich Brot und Wein oder Traubensaft gegessen und getrunken werden. (Es geht hier also nicht um reine Avatar-„Abendmahle“ z.B. in Second Life. Dort fehlt jegliche Materialität der Elemente.)
Dann gibt es vor allem zwei Fragen, die geklärt werden müssen:
-Ist eine raumzeitliche (Ko-)Präsenz der versammelten Gemeinde nötig?
– Ist eine raumzeitliche (Ko-)Präsenz zu den Elementen und zu ihrer Einsetzung nötig?

Es gibt Theolog:innen, die beide Fragen bejahen. Für sie ist ein digitales Abendmahl nicht möglich, allenfalls in einer „Schwundstufe“ als Agapemahl.
Ich gehöre zu denen, die ein digitales Abendmahl für möglich halten. Und zwar nicht nur, weil es praktiziert wurde, sondern auch, weil es theologisch denkbar ist. Darüber muss aber gestritten werden. Und wer die Geschichte der evangelischen Theologie und Kirche anschaut, merkt, dass der Streit über das digitale Abendmahl gut evangelisch ist: Vielleicht ist über kein
Thema so viel theologisch gestritten worden wie über das Abendmahl – von der Trennung zwischen Luther und Zwingli 1529 in Marburg bis zur Debatte über das Abendmahl für Kinder und mit Traubensaft in der EKvW zuletzt 2015 bis 2019.

3.2.1. Ist eine raumzeitliche (Ko-)Präsenz der versammelten Gemeinde nötig?
Schon die Liturgie der traditionellen Abendmahlsfeier zeigt auf, dass das Abendmahl theologisch Zeit und Raum überschreitet: „Darum preisen wir dich mit allen Engeln und Heiligen und singen vereint mit ihnen das Lob deiner Herrlichkeit.”
Wer online-Gottesdienste mitgefeiert hat, wird zweierlei erfahren haben: Es gibt Gemeinschaft der versammelten Gemeinde in dieser digitalen Form. Und: Es ist eine defizitäre Gemeinschaft. Das gilt auch für das digitale Abendmahl: Es fehlt etwas.
Aber es ist zu Recht darauf hingewiesen worden (u.a. von Matthias Kreplin), dass auch das traditionelle Präsenz-Abendmahl defizitär war und ist: Angefangen davon, dass es nicht mehr wie in biblischen Zeiten ein Sättigungsmahl am Abend ist, bis hin dazu, dass die verbreitete Form des Wandelabendmahls auch nur eine reduzierte Gleichzeitigkeit ist. Und umgekehrt ist trotz aller reduzierten Nähe in der digitalen Variante in vielen online-Varianten eine stärkere Interaktion möglich, sind Kameras
so nah an Gesichtern, dass Nähe empfunden wird. Und rezeptionsästhetisch ist diese Empfindung von Nähe durchaus auch
theologisch bedeutsam.

3.2.2. Ist eine raumzeitliche (Ko-)Präsenz zu den Elementen und zu ihrer Einsetzung nötig?
Die Einsetzung von Brot und Wein als Leib und Blut ist beim online-Abendmahl medial vermittelt. Und ebenso gilt doch: „Entscheidend für eine stiftungsgemäße Abendmahlsfeier ist nach evangelischem Verständnis, dass das (biblisch) bezeugte Wort der Zusage Christi erklingt und von allen, die es kommunizieren, gehört bzw. ‚verstanden‘ werden kann“ (Jochen Arnold). Das ist im digitalen Abendmahl möglich.
Sicher bleibt im derzeitigen Verständnis von digitalen Abendmahlsformen manche Frage nach der genauen Präsenz Christi in den Elementen offen. Aber das, was die Leuenberger Konkordie zur Überwindung der Gegensätze zwischen reformiertem und lutherischem Abendmahlsverständnis gesagt hat, gilt auch für die Frage nach der Präsenz Christi im digitalen Abendmahl. In Artikel 19 der Leuenberger Konkordie heißt es: „Die Gemeinschaft mit Jesus Christus in seinem Leib und Blut können wir nicht vom Akt des Essens und Trinkens trennen. Ein Interesse an der Art der Gegenwart Christi im Abendmahl, das von dieser
Handlung absieht, läuft Gefahr, den Sinn des Abendmahls zu verdunkeln.“
Von diesem Akt des Essens und Trinkens her gedacht: Nach lutherischem Verständnis werden Brot/Wein (Traubensaft) erst im Akt des Glaubens (des Empfängers!) zu Fleisch/Blut. Das ist ein enormer Schritt. Kann der Glaube nicht auch den Schritt gehen und über die digitale Distanz hinweg Christus als präsent empfangen? So groß scheint dieser zweite Schritt im Vergleich zum ersten gar nicht mehr zu sein.

4. Noch wichtigere Fragen
Seit dem Beginn der Pandemie scheint das Abendmahl generell an Bedeutung verloren zu haben. In den Zeiten ohne Präsenzgottesdienste und in denen mit einschränkenden Regeln (Maske, Abstand, Testung) gab es in der EKvW viele Fragen nach dem Singen und wie es trotzdem möglich sein könnte. Es gab ebenfalls viele Fragen nach dem Segen mit Handauflegen und wie er trotzdem möglich sein könnte, aber nur wenige Fragen nach dem Abendmahl und wie es trotzdem möglich sein könnte. Beobachter haben eine „eucharistische Appetitlosigkeit“ diagnostiziert. Die zentrale Frage scheint mir derzeit nicht zu sein, ob ein digitales Abendmahl sinnvoll oder gar erlaubt sein kann, sondern wie die Christ:innen in unseren Gemeinden überhaupt wieder entdecken, dass Abendmahl sinnvoll sein kann und gut tut, dass sie wieder Appetit auf das Abendmahl
bekommen und dadurch entdecken, was an Gemeinschaft, was an Segen, was an Heil im Abendmahl liegen kann.
Wenn das digitale Abendmahl dazu beiträgt, dann halte ich es nicht nur für erlaubt, sondern für erwünscht. Nicht als einzige, aber als eine Form des Abendmahls. Was mir aber wichtig ist: Dass wir wissen, was wir tun. Und dass wir das, was wir tun, würdig tun. Was würdige Formen des digitalen Abendmahls sind, das lohnt sich m.E. zu erproben.

Weiteres zum Thema:

  • Digital – parochial – global?! Ekklesiologische Perspektiven im Digitalen Workshopreihe der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Kooperation mit der Evangelischen Akademie im Rheinland und der Evangelischen
    Akademie der Pfalz: Workshop II – Abendmahl, 29. Januar 2021, epd-Dokumentation Nr. 11/2021.
  • Christoph Markschies, Gottesdienst und Medialität (Vortrag bei der Liturgischen Konferenz, Hildesheim, 6. September 2021), in: epd-Dokumentation Nr. 38/2021
  • Christoph Schrodt, Abendmahl: digital. Alte und neue Fragen – nicht nur in Zeiten der Pandemie, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 118 (2022), 495-515
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Kirchliches

#kirche_digital

Ein neuer Podcast zu Kirche_digital: Was soll, kann und muss Kirche in sozialen Medien tun? Was bringt die Netzwerkidee für unser Verständnis von Kirche? Kann es Abendmahl auch per Videocall geben? Wie genau ist es mit der Präsenz und Gemeinschaft im digitalen Raum? Und was können wir empirisch schon über digitale Kirche wissen? Wie ist das Ganze theologisch zu verstehen? Diesen und anderen Fragen nähern wir uns im Auftrag der Landessynode der Evangelischen Kirche von Westfalen dem Thema angemessen in einem Podcast. Dazu gibt es ein Papier, das wichtige inhaltliche Eckpunkte festhält.

Wir wollen mit unseren Gedanken einen Beitrag dazu leisten, Digitalität und Kirche konstruktiv zusammen zu denken und theologisch zu reflektieren. So wie Kirche mehr ist, als sonntags um 10:00 Uhr, wenn die Glocken läuten, ist Digitalität eben auch mehr als nur Internet, Apps und technischer Schnickschnack. Wir sind inmitten von digitalem Leben und Wandel und unsere Aufgabe ist somit nicht, uns für oder gegen „das Digitale“ zu entscheiden, sondern die zugrundeliegenden Dynamiken des digitalen Wandels zu verstehen und zu lernen, diese Dynamiken für uns zu gestalten und zu nutzen.

Dieser Podcast wurde im Auftrag der Evangelischen Kirche von Westfalen vorbereitet und aufgenommen von Jan-Dirk Döhling, Moritz Gräper, Andreas Hahn, Christine Jürgens, Bjarne Thorwesten und mir.

Musik: Hans-Werner Scharnowski
Titel und Abspann: Dennis Mohme
Artwork | Fotos | Produktion: Lukas Pietzner

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Kirchliches Wissenschaftliches

Nach Gott fragen angesichts der Pandemie

Die Corona-Pandemie hat erhebliche Auswirkungen auch auf die Kirchen und ihre theologischen Äußerungen. Mancher Vorwurf über „das Schweigen der Bischöfe“ meint die ganze Kirche und vermisst öffentliche Deutungen durch Kirche und Theologie.

Der von Annette Kurschus, Traugott Jähnichen und mir herausgegebene Band „Nach Gott fragen angesichts der Pandemie. Von Gott reden – mit Gott reden“ (Luther-Verlag Bielefeld 2022, 164 Seiten, Paperback, 14,95€, ISBN 978-3-7858-0808-5) dokumentiert theologische Äußerungen aus der Evangelischen Kirche von Westfalen in den Jahren 2020-2022, die deutlich machen: Krisenerfahrungen theologisch zu deuten heißt nicht, Antworten auf alle Fragen zu wissen, sondern die Frage nach Gott als eine eigene Perspektive in die Öffentlichkeit einzubringen. Von Gott reden heißt vor allem: nach Gott fragen und mit Gott reden.

Ulrich Körtner schreibt in seiner Rezension im Magazin zeitzeichen: „Warum also weiter von Gott reden? Wie von Gott und wie zu ihm reden?Mit diesen Fragen setzen sich die Beiträge des vorliegenden Bandes redlich auseinander […]. Sein Ziel ist es, das Gespräch in den Gemeinden und Kirchenkreisen anzustoßen“.

Harald Schroeter-Wittke hat den Band auf evangelisch.de rezensiert. Er schließt mit dem Lob: „So darf dieses Buch mit Fug und Recht ein theologisches Kompendium angesichts der jüngsten Corona-Erfahrungen genannt werden, das hoffentlich viele Menschen erreicht und sie ebenso zu begeistern vermag wie mich.“ 

Inhalt:

Annette Kurschus – Vorwort. Gott in der Pandemie
Traugott Jähnichen / Vicco von Bülow – Nach Gott fragen und mit Gott reden. Theologische Herausforderungen im Kontext der Corona-Pandemie
Annette Kurschus – Die ernsthafte Frage nach Gott
Annette Kurschus – Die schöpferische Kraft des Geistes. Theologische Zeitansage
Ständiger Theologischer Ausschuss der Evangelischen Kirche von Westfalen – Die Frage nach Gott in der Pandemie. Krisenerfahrungen theologisch deuten
Thorsten Moos – Die Frage nach Gott und die theologische Fatigue in Zeiten der Pandemie
Ralf Stolina – Beten
Carsten Haeske – Das gottesdienstliche Gebet – und wie Corona es verändert hat
Martin Treichel – Ein Gott, der Hilfe braucht. Weihnachtspredigt in schlimmen Zeiten

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Kirchliches Wissenschaftliches

Volkskirche ja – aber wie?

Das Konzept der „Volkskirche“ steht zunehmend in der Diskussion. Insbesondere vor dem Hintergrund abnehmender Kirchenmitgliedschaft stellen sich Fragen nach seinen Ursprungsideen und der gesellschaftlichen Rolle einer solchen Volkskirche, deren diakonisches Handeln und religiöse Dienstleistungsangebote gleichwohl in der Öffentlichkeit weiterhin hoch im Kurs stehen.

Am 31. März und 1. April 2022 lud die Kommission für kirchliche Zeitgeschichte der Evangelischen Kirche von Westfalen dazu ein, gesellschaftlich relevante Dimensionen des komplexen Untersuchungsgegenstands „Volkskirche“ in einem historischen Zugriff auszuloten.

Zu Beginn konnte ich die Teilnehmer:innen (wenn auch coronabedingt nur aus der Quarantäne und vertreten durch Archivleiterin Ingrun Osterfinke) begrüßen:

Im Namen der Evangelischen Kirche von Westfalen und als Vorsitzender der landeskirchlichen Kommission für Kirchliche Zeitgeschichte begrüße ich Sie sehr herzlich zu unserer Tagung über das „Modell Volkskirche“.

Die Tagung, so heißt es im Einladungsflyer, „will in einem historischen Zugriff gesellschaftlich relevante Dimension des komplexen Untersuchungsgegenstands ‚Volkskirche‘ ausloten“. Das wollen wir auf verschiedenen Wegen gemeinsam tun.

  • Wir wollen uns dem Begriff „Volkskirche“ nähern. Im Flyer haben Sie die Trias des Praktischen Theologen Kristian Fechtner gelesen, der Volkskirche als „Strukturbegriff“, als „Praxisbegriff“ und als „Konzeptbegriff“ versteht.[1] Wie erweist sich diese Differenzierung als tauglich zum Verstehen gegenwärtiger und historischer Phänomene?
  • Vom kanadischen Wissenschaftstheoretiker und Sprachphilosophen Ian Hacking stammt die Erkenntnis: „Begriffe haben Erinnerungen an Ereignisse, die wir vergessen haben.“[2] Welche Ereignisse sind im Begriff Volkskirche angelegt? Welche Zeitphasen, welche Personen, welche Gremien sind unseres Erinnerns wert?
  • Kirchengeschichte ist immer dann besonders ertragreich, wenn sie ereignis- und theologiegeschichtliche Ansätze miteinander verbindet. Deshalb sollen theologische Konzeptionen – und ihre Kritik! – im historischen Kontext analysiert werden. Um den theologischen Binnenraum zu verlassen, sollen auch juristische und soziologische Sichtweisen zu Wort kommen.
  • In einem Essay zur Kirchlichen Zeitgeschichte im jüngsten Heft der Theologischen Literaturzeitung wird von „der geradezu erdrutschartigen Erosion der Volkskirche“[4] gesprochen. Wie gehen diejenigen, die diese Kirche gegenwärtig leiten, mit dieser Situation um? Dazu werden in einer Podiumsdiskussion Leitende Geistliche aus verschiedenen Regionen Deutschlands befragt. Und den evangelischen Binnenraum verlassen wir mit einem Vertreter der katholischen Kirche. Sie alle machen in besonderer Weise deutlich, dass die „Volkskirche“ auch in einer veränderten Form Thema für die Kirche heute ist.

Ich möchte meine Begrüßung nutzen, um Schlaglichter auf zwei Theologen aus der Kirchengeschichte zu werfen, die ich aus unterschiedlichen Gründen für beachtenswert halte.

Von dem einem Theologen stammt das Zitat: „Bei uns ist die Gestalt der ‚Volkskirche‘ die überkommene. Wir können uns ohne sie weder die Kirchengeschichte noch auch die Völkergeschichte des Abendlands im letzten Jahrhundert vorstellen.“ [4]

Viel höher kann man die Bedeutung der Volkskirche kaum ansetzen. Aber das Zitat ist schon wieder Teil der Kirchengeschichte geworden. Es stammt aus dem Jahr 1949 und zwar von dem reformierten Theologen Otto Weber aus seinem Büchlein „Versammelte Gemeinde“. Weber war sich der problematischen Seite des Volkskirchenbegriffs bewusst geworden: „Wo zwischen Kirche und Volk ein Gleichheitszeichen tritt, da läßt sich die entstehende Gleichung nach beiden Seiten lesen. Es kann also dann auch behauptet werden, das Volk – versteht sich: das ‚christliche‘, ‚abendländisch-christliche‘ Volk sei (in irgendeinem Sinn) ‚Kirche’. Wo dies geschieht, zeigt der bisher in Betracht gezogene Begriff der ‚Volkskirche‘ seine gefährlichste Seite. […] Wir haben es bei uns an dem Begriff des ‚arteigenen Christentums‘ zu erfahren bekommen, was das heißt.“ Und doch, so Weber, „verbirgt sich in dem Gedanken der Volkskirche ein Moment, das in ganz andere Richtung weist, als wir es bisher bedachten. Es ist das Moment der öffentlichen Verantwortlichkeit der Kirche.“ Wo die Kirche versammelte Gemeinde sei, könne sie in dem Sinne ihre öffentliche Verantwortlichkeit wahrnehmen, dass sie sich mit dem Menschen, mit dem Volk, mit der Welt auf eine diakonische Art und Weise solidarisch zeige. Volkskirche als „Kirche Gottes für das Volk, für die Völker, für die Welt.“[5] Diese Interpretation der Volkskirche als weltbezogene Kirche für das Volk hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre Auswirkung gehabt. Sie motivierte beispielsweise Jürgen Moltmann 1975 (also 9 Jahre nach Webers Tod) zu einer Neuauflage der „Versammelten Gemeinde“.[6]

Und auch in Westfalen hat die „Versammelte Gemeinde“ ihre Auswirkungen gehabt. Präses Ernst Wilm verwies in seinen „Tätigkeitsbericht auf der Tagung der westfälischen Landessynode im Oktober 1960“ mehrfach darauf.[7] Der Titel dieses Berichts lautete „Volkskirche – Last und Verheißung“. Wilm hatte für diesen „Tätigkeitsbericht“ (der eigentlich keiner war, sondern eine theologische Zeitansage) viele Theologen in Westfalen nach ihrer Haltung zur Volkskirche befragt. Warum das überhaupt ein besonderes westfälisches Thema sei, darauf ging er explizit ein: „Unter den Merkmalen der Volkskirche, wie sie sich bei uns vorfindet, sind zu nennen: ihre regionale Struktur, über die auch ihr Name ‚Evangelische Kirche von Westfalen‘ aussagt“. Er hatte aufmerksam wahrgenommen, dass in Westfalen die Volkskirche nicht unumstritten war: „Die junge Generation und vor allem die junge Theologengeneration fragt sehr dringend, ob die Form der Volkskirche, wie wir sie haben, nicht überholt und rückständig, wenn nicht gar unwahrhaftig und darum nicht mehr verantwortbar ist.“ Manch andere Kritik an der Volkskirche gab er ebenfalls wieder – aber auch viele Wortmeldungen, die ihre Vorteile betonten. Und deshalb kam Wilm zu dem Fazit: „Die volkskirchliche Form ist der Gemeinde von Schrift und Bekenntnis her nicht als die einzig mögliche Form der Kirche geboten. Sie ist ihr aber auch nicht verboten.“ Anders als Otto Weber war die Öffentlichkeitskirche für Ernst Wilm nicht die entscheidende Deutungskategorie eines recht verstandenen Volkskirchenbegriffs – und auch das Konzept der „versammelten Gemeinde“ überzeugte ihn nicht völlig. Er betonte, „daß wir immer beides zugleich sind: versammelte Gemeinde und ausgesandte Boten. Ja, man muß es noch radikaler sagen: Wir, d.h. diese gegenwärtige Volkskirche, sind sogar ‚Kirche‘ und ‚Welt‘ zugleich. Wir sind nicht nur in der Welt, sondern die Welt ist auch in uns.“ In dieser Spannung sah sich Wilm, der die Volkskirche bejahte und gleichzeitig fragte: „‘Volkskirche ja! – aber wie?`“

„Aber wie?“ Eine Frage, der wir uns auch heute stellen müssen, wenn wir die Spannung nicht nach einer Seite auflösen wollen. Und in dieser Tagung wollen wir uns ihr stellen.

Zahlreiche Referentinnen und Referenten beleuchteten die historische Dimension der Volkskirche des zurückliegenden Jahrhunderts aus unterschiedlichen Blickwinkeln; das Programm der Tagung findet sich hier. Von den theologischen, juristischen und politischen Grundlagen einer Volkskirche, ihrer Etablierung als Körperschaft des öffentlichen Rechts in der Weimarer Reichsverfassung, reichte die Betrachtung über deren Entwicklung in der Zeit des Nationalsozialismus und in beiden deutschen Staaten nach 1949 bis hin zum Ausblick auf die volkskirchliche Zukunft.

Der Jurist Prof. Dr. Hinnerk Wißmann (Münster) eröffnete die Tagung mit einem Blick auf „die Volkskirche als Resonanzraum des Religionsverfassungsrechts“. Er nahm die staatskirchlichen Elemente der Volkskirche ernst und warnte vor einem Rückzug der Kirche aus der Fläche. Dagegen hielt der Theologe Prof. Dr. Traugott Jähnichen (Bochum) die Diskussion über alternative Modelle für dringend angebracht. Der Begriff „Volkskirche“ sei obsolet geworden. Merkmale und Aufgaben der historischen „Volkskirche“ müssten zum Teil aufgegeben (Homogenität des Volkes), reduziert (Universalitätsansprüche der räumlichen und sozialen Präsenz sowie der Sonderstellung in der Öffentlichkeit) oder neu strukturiert werden.

In einer Podiumsdiskussion fragten Kirchenpräsident Joachim Liebig (Anhalt), der Bischöfliche Generalvikar Klaus Pfeffer (Essen) und der westfälische Vizepräsident i.R. Albert Henz nach ‚Konfessionellen Prägungen – gemeinsamen Perspektiven?‘ Diese vom zeitzeichen-Chefredakteur Reinhard Mawick moderierte Podiumsdiskussion bildete auch die Grundlage für einen Bericht von Wolfram Scharenberg über die Tagung, der mit dem Titel „Modell Volkskirche – ein Auslaufmodell?“ überschrieben war.


[1] Kristian Fechtner, Späte Zeit der Volkskirche. Praktisch-theologische Erkundungen, Stuttgart 2010, 13-15.
[2] Ian Hacking, Vom Gedächtnis der Begriffe, in: Joachim Schulte / Uwe Justus Wenzel (Hg.), Was ist ein philosophisches Problem?, Frankfurt a. M. 2001, 72-86, Zitat 85.
[3] Thomas Martin Schneider, Kirchliche Zeitgeschichte – evangelisch. Entwicklung, Probleme, Aufgaben, in: ThLZ 147 (2022), Heft 1/2, Sp. 1-26, Zitat 18.
[4] Otto Weber, Versammelte Gemeinde. Beiträge zum Gespräch über Kirche und Gottesdienst. M.E. Einführung von Jürgen Moltmann, [1. Aufl. 1949), Neukirchen-Vluyn 2. Aufl. 1975, 137. Die folgenden Zitate a.a.O., 156. 156f.
[5] „Die Kirche baut sich nicht aus der Welt, aus dem Menschen, aus dem Volke auf. Aber sie ist der Leib dessen, der sich mit dem Menschen solidarisch gemacht, der unser Fleisch – endgültig – angenommen hat, und darum (und insofern) ist sie gewiesen, sich ihrerseits mit dem Menschen solidarisch zu machen! […] Indem die Kirche dies tut – in ihrem Wort wie in ihrer umfassenden diakonia – ist sie in einem neuen, echten Sinn ‚Volkskirche‘: Kirche Gottes für das Volk, für die Völker, für die Welt.“ (a.a.O, 157f.)
[6] „Erst in der versammelten Gemeinde wird aus der ‚Kirche für das Volk‘ die Kirche des Volkes, und das Volk Gottes wird zum handlungsfähigen Subjekt seiner eigenen Geschichte in der Geschichte Gottes.“ (Jürgen Moltmann, Einführung, in a.a.O., S. 7-10, Zitat 9).
[7] [Ernst] Wilm, Volkskirche – Last und Verheißung. Tätigkeitsbericht auf der Tagung der westfälischen Landessynode im Oktober 1960, Bielefeld o. J. [1960]. Die folgenden Zitate a.a.O., 9f. 4f. 30. 76. 68.

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Aktuelle Abendmahlsfragen aus evangelischer Sicht

Vortrag bei der AG Abendmahl der Liturgischen Konferenz, 22.03.2022

0. Einleitung

„Das Sakrament des Heiligen Abendmahls nimmt einen außerordentlichen Stellenwert im evangelischen Gottesdienst ein.“ So heißt es in den 2020 verabschiedeten Abendmahlsrichtlinien der Evangelischen Kirche von Westfalen. Und weil das nicht nur in Westfalen so ist, ist es gut, wenn wir uns in der Liturgischen Konferenz in einem Ausschuss dazu verständigen, was das denn nun heißt. Und zwar in der für die LK typischen Art des Dialogs zwischen Professor:innen, Gemeindepfarrer:innen und landeskirchlichen Verwaltungstheolog:innen wie mir. Ich bin also weder in der Position, so intensiv über die Grundlagen des Abendmahls nachdenken zu können wie die universitären Vertreter:innen, noch in der Position, es so regelmäßig vorzubereiten und zu feiern wie die Pfarrer:innen aus den Kirchengemeinden.

So bringe ich nun „aktuelle Abendmahlstfragen aus evangelischer Sicht“ in den ökumenischen Dialog ein. Kundige werden erkennen, dass manche Bezugspunkte zu dem großartigen ökumenischen Text „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ bestehen, auch wenn ich die nicht explizit markiert habe.

Genug der Vorrede. Was sind aus der Sicht eines evangelischen Theologen im Landeskirchenamt in Bielefeld die aktuellen Abendmahlsfragen? Da gibt es durchaus einige wichtige Fragen:

  1. Wer teilt das Abendmahl aus oder verwaltet es?
  2. Wer nimmt das Abendmahl zu sich oder ist dazu zugelassen?
  3. Was oder welche Elemente werden beim Abendmahl ausgeteilt und zu sich genommen?
  4. Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf den Gemeinschaftskelch?
  5. Gibt es ein digitales Abendmahl?
  6. Das Wichtigste zum Schluss

1.
Wer teilt das Abendmahl aus oder verwaltet es?

Die Frage ist noch relativ leicht zu beantworten. Zur Verwaltung des Abendmahls muss man rite vocatus sein, um mit CA XIV zu sprechen. In Westfalen und den anderen EKD-Gliedkirchen gibt es zwei Gruppen von Menschen, die solch eine ordnungsmäße Berufung haben: Die Pfarrerinnen und Pfarrer, die ordiniert werden. In Vorbereitung auf die Ordination auch die Vikarinnen und Vikare. Sowie die Prädikanten und Prädikantinnen, die in Westfalen zur Sakramentsverwaltung beauftragt werden. Die Älteren von uns erinnern sich an die Debatten über das VELKD-Papier „Ordnungsgemäß berufen“ in den Nuller Jahren. Diese Debatte ist nach meinem Eindruck abgeflaut und aus der Herrenhäuser Straße höre ich Signale, dass sich EKD, UEK und VELKD auf eine Einigung zubewegen. Mehr als die Frage „Sollen Prädikanten ordiniert oder beauftragt werden?“ stellt sich derzeit die Frage „Wie können wir gewährleisten, dass Prädikanten nicht nur ordnungsgemäß berufen, sondern auch ordentlich ausgebildet werden? Denn sie werden die kirchliche Verkündigung in den nächsten Jahren schon rein quantiativ mehr und mehr prägen: Derzeit gibt es in Westfalen 1490 ordinierte Pfarrer:innen und 715 beauftragte Prädikant:innen. Die erste Gruppe wird immer kleiner, die zweite immer größer.

2.
Wer nimmt das Abendmahl zu sich oder ist dazu zugelassen bzw. eingeladen?

Die Frage ist schon etwas komplexer. In Westfalen lautete der entsprechende Kirchenordnungsartikel (185) bis zum Jahr 2019: „1 ) Die Zulassung zum Abendmahl kann denen erteilt werden, die über das Sakrament hinreichend unterrichtet worden sind und vor der Gemeinde oder in einer entsprechenden Feier ein Bekenntnis des Glaubens abgelegt haben. ( 2 ) Auf Beschluss des Presbyteriums können getaufte Kinder nach angemessener Vorbereitung vor der Konfirmation in dieser Kirchengemeinde am Abendmahl teilnehmen.“

Dazu ein kleiner Exkurs: Die westfälische Kirchenordnung ist 1953 verabschiedet worden. In ihr spiegeln sich Erfahrungen des Kirchenkampfes. Ich versuche das mal bildlich auszudrücken: Wir hier in der Kirche sitzen in einem Raum und verwalten das uns offenbarte Heilige. Und draußen vor der Tür stehen ganz viele Menschen, wollen rein und irgendwas mit dem Heiligen machen. Es im schlimmsten Fall missbrauchen. Die braunen Horden und die Deutschen Christen zum Beispiel. Also müssen wir einen Türhüter installieren, der kontrolliert, wer rein darf und wer nicht. Das ist die Konfirmation. Denn wer von uns unterrichtet wurde, wer von uns geprüft wurde und wer in einer öffentlichen Feier sein unterrichtetes und geprüftes Glaubensbekenntnis abgelegt hat, der darf rein. Wer konfirmiert ist, hat die Zulassung zum Abendmahl. Wer zum Abendmahl zugelassen ist, hat hier drinnen die kirchlichen Rechte.

Nun sind wir heute in einer anderen Situation als im Kirchenkampf. Vor der Tür stehen gar keine Massen mehr, die unkontrolliert reinwollen. Wenn wir die Kirchentür missionarisch aufmachen, stellen wir fest: Da steht ja gar keiner mehr. Im Gegenteil: Ständig gehen Menschen durch diese Tür hinaus – im letzten Jahr in Westfalen ein Minus von 2,3%. Unser Konfirmandenunterricht heißt schon seit einiger Zeit Konfirmandenarbeit, wird zumeist nicht durch eine Prüfung, sondern durch einen Vorstellungsgottesdienst abgeschlossen und versteht sich weniger als Wissensvermittlung, sondern im Sinne einer kirchlichen Begleitung von Jugendlichen in einer bestimmten Lebensphase. Das hat auch Auswirkungen auf die „Zulassung“ zum Abendmahl. Die Konfirmation ist kein Türhüter für das kirchliche Leben mehr. Nach einem längeren Diskussionsprozess ist sie heute in Westfalen nicht mehr als Zulassungsbedingung zum Abendmahl vorgeschrieben. So heißt es seit 2020 in der westfälischen Kirchenordnung: „Alle Getauften sind zum Abendmahl eingeladen.“ (Art. 185). Damit ist eine lange Debatte zum Abschluss gekommen, die unsere Landessynode spätestens seit Anfang der 1980er Jahre beschäftigt hat: Sind getaufte Kinder zum Abendmahl eingeladen oder nicht? Zwischendurch gab es die typisch westfälische Kompromisslösung, dass das die Entscheidung der Presbyterien vor Ort für ihre je eigene Gemeinde ist. Jetzt gilt es generell in allen Gemeinden. Und nun ist es laut der dazugehörigen Abendmahlsrichtlinien Aufgabe des Presbyteriums, „das Abendmahl so zu gestalten, dass Kinder gut und gerne daran teilnehmen können. Das Abendmahl, an dem Kinder teilnehmen, ist das eine Abendmahl der Gemeinde. Den Kindern soll ein ihrem Alter angemessenes Verständnis des Heiligen Abendmahls ermöglicht werden.“

Im Zusammenhang der Debatte über die Einladung von getauften Kindern zum Abendmahl kam auch die Frage wieder auf, wie es mit der Teilnahme von ungetauften Kindern, ja mit ungetauften Menschen überhaupt sei. Und wie mit der Teilnahme von aus der Kirche ausgetretenen Menschen zu verfahren sei. Keine neue Frage übrigens: Bereits 1994 hatte die Vollversammlung der Leuenberger Kirchengemeinschaft das Problem so beschrieben: „Entsprechend der Ordnung unserer Kirchen ist die Taufe die Voraussetzung für die Teilnahme am Abendmahl … Aufgrund der Urbanisierung und Säkularisierung sowie eines weitgehenden Wegfalls der Anmeldung zum Abendmahl stellen sich jedoch heute zwei Probleme. Zum einen ist nicht mehr überschaubar, wer von den Teilnehmern am Abendmahl getauft ist. Für diesen Fall bieten sich folgende Möglichkeiten an: Die Wiedereinführung der Anmeldepraxis oder ein Hinweis bei der Einladung zum Abendmahl auf die Voraussetzung der Taufe und der Kirchenmitgliedschaft, der dann den Gang zum Abendmahl in die Verantwortung des einzelnen stellt. Diese zweite Möglichkeit erscheint als die angemessenere. Zum anderen erwächst bei Menschen, die neu den Zugang zur Kirche suchen, der Wunsch, auch ohne vorhergehende Taufe am Abendmahl teilnehmen zu können. In diesem Fall gehen wir grundsätzlich davon aus, dass die Aufnahme in die Gemeinde Jesu Christi durch die Taufe den Zugang zum Tisch des Herrn eröffnet. Dennoch sollte der Wunsch nicht einfach zurückgewiesen werden. In besonderen Fällen und Situationen ist eine Entscheidung in pastoraler Verantwortung zu treffen.“

Das ist ja die klassische evangelische Variante: Wir haben eine Regel. Aber keine Regel ohne Ausnahme. Und welche Ausnahmen es gibt, legen wir nicht fest, sondern überlassen es der pastoralen Kompetenz der Pfarrer:in vor Ort.

Wie auch immer: Das Thema stellt sich in den letzten Jahren in erhöhter Dringlichkeit. Mehr und mehr evangelische Eltern lassen ihre Kinder nicht taufen, sondern sagen „die sollen das später mal selbst entscheiden“. Und so nehmen mehr und mehr ungetaufte Kinder an unseren Kindergottesdiensten und am Konfirmandenunterricht teil. Gleichzeitig gibt es immer wieder getaufte Menschen, die sich nach ihrem Kirchenaustritt wieder der Kirche annähern und ohne wieder eingetreten zu sein, am Abendmahl teilnehmen wollen.

Und es gibt Menschen wie Agim Ibishi. Der ist Muslim und seine Familie stammt aus Bosnien. Er selbst ist in Bünde bei Herford geboren und aufgewachsen. Hier hat er in der Berufsschule am Religionsunterricht teilgenommen, den der evangelische Berufsschul- und Diakoniepfarrer gehalten hat. Nach einem Studium an der Fachhochschule für Diakonie in Bethel tauchte er bei diesem Pfarrer als fertiger Sozialarbeiter wieder auf. Und arbeitet nun als Suchtberater für die Diakonie im Kirchenkreis Herford. Er ist höchst interessiert an religiösen Fragen, auch über seine eigene Religion hinaus. Eine Großmutter in Bosnien war katholisch, eine weitere enge Verwandte orthodox. Und so näherte er sich auch der evangelischen Kirche, ohne ihr zwingend auf formale Weise angehören zu wollen. War bei kirchlich-diakonischen Veranstaltungen dabei, auch bei Gottesdiensten. Zum Beispiel als der Kirchenkreis Herford 2019 Vorbereitungen für das abschließende Abendmahl beim Kirchentag in Dortmund traf. Agim Ibishi fuhr mit nach Dortmund. Und als es dann zum Abendmahl kam, stellte sich die Frage: „Was hindert’s, dass ich am Abendmahl teilnehme? Ich gehöre doch dazu.“

Kundige Menschen sehen hinter diesem Beispiel (das es wirklich gibt!) die ganze Debatte um believing before belonging oder belonging before believing.

Wir in Westfalen haben uns so entschieden:
Das Abendmahl ist und bleibt das Mahl der christlichen Gemeinde, für alle, die durch ihre Taufe in den Leib Christi, in die Gemeinschaft der Christenheit, aufgenommen sind. Eine Teilnahme von Ungetauften kann dennoch möglich sein, wenn sie als nicht ausgesprochenes Taufbegehren und Teilhabenwollen gedeutet wird. Dieses Zeichen soll durch die Pfarrerin/den Pfarrer wahrgenommen und – am besten außerhalb des gottesdienstlichen Rahmens – in eine klärende wie einladende Begleitung überführt werden. So wird in Westfalen auch (noch) ungetauften Menschen die Möglichkeit geschaffen, am Abendmahl teilzunehmen. In unseren Abendmahlsrichtlinien heißt es: „Im Heiligen Abendmahl wird die Gemeinschaft mit Jesus Christus und untereinander gefeiert, die in der Taufe ihre Bestätigung findet. Alle Getauften sind zum Abendmahl eingeladen. Taufe und Abendmahl stehen in einer engen Verbindung. Diese Verbindung ist nicht exklusiv. Wer sich durch Jesus Christus eingeladen weiß und auf dem Weg zur Taufe ist, kann am Abendmahl teilnehmen.“

Dabei steht der folgende Gedankengang im Hintergrund: Die Verkündigung als Ruf zum Glauben schließt die Einladung zur Taufe ein, weshalb Ungetaufte, indem sie die Einladung zum Abendmahl für sich annehmen und daran im Einzelfall teilnehmen, zugleich ihren Willen bekunden, sich taufen zu lassen.

Was die ausnahmsweise Möglichkeit von Ausgetretenen am Abendmahl angeht, so kann auf Überlegungen der EKD verwiesen werden, deren Kammer für Theologie 2003 festgestellt hatte: „Das Ziel der Taufe ist nach kirchlicher Lehre ein Dreifaches: Die Verherrlichung des dreieinigen Gottes, Leben und Seligkeit der Getauften und der Aufbau der Kirche. […] Aller Dienst der Kirche an den aus ihr Ausgetretenen muss dieses Ziel vor Augen haben. Dabei kann dieser Dienst daran anknüpfen, dass, trotz der Distanzierung von der Kirche oder des mit dem Kirchenaustritt gegebenen Bruchs, durch die Taufe dennoch eine Verbindung der Kirche mit dem Getauften bestehen bleibt.

An diese Verbindung kann bei der Abendmahlsteilnahme eines aus der Kirche ausgetretenen Getauften – auch missionarisch – angeknüpft werden. Eine kirchliche Kontrolle, wer sich wie weit auf dem Weg zur Taufe befindet, kann offensichtlich nicht erfolgen.

Wir sind in Westfalen dabei nicht allein. In den Bestimmungen der Nordkirche zum Abendmahl heißt es: „Nach dem Verständnis der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland ist die Taufe Voraussetzung für die Teilnahme am Abendmahl. Weil aber auch beim Abendmahl das Handeln des dreieinigen Gottes an erster Stelle steht, wird niemand, die bzw. der den ernsthaften Wunsch nach Teilnahme am Abendmahl äußert, abgewiesen.“ Und in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau heißt es in der Lebensordnung: „Die Einladung zum Abendmahl im Gottesdienst soll deutlich machen, dass alle, die sich von Christus eingeladen wissen und die Einladung in die christliche Gemeinde annehmen wollen, am Tisch des Herrn willkommen sind.“ Sie erinnern sich, zu welchen ökumenischen Kontroversen dies mit Rom im Vorfeld des Ökumenischen Kirchentags in Frankfurt 2021 geführt hat.

In der EKD-Orientierungshilfe zu Theologie und Praxis des Abendmahls von 2003 hieß es: „Eine grundsätzliche Öffnung des Abendmahls für Ungetaufte und eine undifferenzierte Einladung an alle entspricht jedenfalls nicht dem evangelischen Abendmahlsverständnis.“ Wir sind mittendrin in der Debatte, was denn eine „differenzierte“ Öffnung des Abendmahls für Ungetaufte heißen kann. Der systematische Theologe Philipp Stoellger hat im Theologischen Ausschuss der UEK in einer Diskussion zu diesem Thema davon gesprochen, dass die Zulassung Ungetaufter zum Abendmahl eine Irrlehre sei. Aber eine „kirchenerbauende Irrlehre“.

3.
Was oder welche Elemente werden beim Abendmahl ausgeteilt und zu sich genommen?

Auch diese Frage hat uns in Westfalen lange beschäftigt, in der Landessynode nachweisbar seit 1973.

Dabei ging es weniger um die Frage, welche Art von Brot für die Präsenz des Leibes Christi steht. Ob – wie in der Badischen Unionsurkunde von 1821 – zehn Zentimeter langes, geschnittenes Weißbrot, ob die klassischen Oblaten, Vollkorn- oder Weißbrot, glutenfrei oder nicht – der Möglichkeiten sind ja viele. Aber sie lassen sich alle unter dem Oberbegriff „Brot“ subsumieren.

Wir haben darüber diskutiert, welche Art vom „Gewächs des Weinstocks“ für die Präsenz des Blutes Christi steht. Nur Wein? Oder auch Traubensaft? Und wenn auch Traubensaft, dann nur als Ausnahme oder auch als Regelfall? Und man glaubt ja kaum, wieviel Energie die Debatte pro und contra Alkohol beim Abendmahl erzeugen kann.

Dabei wurde uns deutlich: Das heute gottesdienstlich gefeierte Abendmahl bezieht sich in einer relativ freien Form auf die neutestamentlichen Quellen. In der Kirchengeschichte wurden manche neutestamentlichen Elemente stark in den Vordergrund gerückt, andere zurückgedrängt oder sogar verdrängt: Der Zeitpunkt hat sich vom Abend auf den Morgen verschoben; der Mahlumfang und der Sättigungsaspekt sind zurückgetreten; der Gemeinschaftsaspekt wurde zum Teil reduziert; als Ort hat die Kirche das Haus ersetzt. Verstärkt hat die kirchliche Tradition die Bedeutung der Deuteworte und der Gebete. Äußere Umstände und neue Herausforderungen haben massiv auf die Entwicklung der Abendmahlsformen eingewirkt. Die Kirchen haben sich schon sehr früh eine gewisse Freiheit zur Weiter-, Um- und Rück-Gestaltung genommen.

Zu den heutigen Entwicklungen, auf die die Feier des Abendmahls reagieren muss, gehört nicht nur eine veränderte Bedeutung des Alkoholkonsums, sondern auch eine veränderte Sicht auf das Kind und die Familie in unserer Gesellschaft. Die westfälische Landessynode hat deshalb 2019 beschlossen, den Art. 184 der Kirchenordnung zu ändern: „Das Heilige Abendmahl wird nach der Einsetzung Jesu Christi gefeiert. Dabei werden die Einsetzungsworte gesprochen und Brot und Kelch gereicht.“ (vorher hieß es: Brot und Wein ausgeteilt). Durch die Änderung in beim Abendmahl nunmehr sowohl Wein als auch Saft gleichwertig zugelassen. Gemeinden können entweder nur mit Wein, mit Wein und Traubensaft, oder nur mit Traubensaft das Abendmahl feiern. Diese Vielfalt entspricht auch der Praxis in vielen westfälischen Kirchengemeinden. Die Landessynode der EKvW feiert das Abendmahl in der Zionskirche der von Bodelschwingschen Stiftungen Bethel regelmäßig nur mit Traubensaft. Für den Saft sprechen die größere Inklusivität — im Blick auf Kinder, im Blick auf Menschen mit Alkoholismus, in diakonischen Einrichtungen oder im Krankenhaus, wo oft aus medizinischen Gründen kein Alkohol beim Abendmahl gereicht wird. Für den Wein sprechen dessen traditionelle Bedeutung „als festliches Zeichen in Christus gewährter Lebens-Freude, Lebens-Fülle und Lebens-Hoffnung“ (Karl-Heinz Bieritz) sowie seine größere ökumenische Anschlussfähigkeit gerade im Hinblick auf die römisch-katholische Kirche, die den Gebrauch von Wein als Regelfall vorschreibt. In den meisten Freikirchen in Deutschland wird dagegen seit vielen Jahren fast nur noch Traubensaft beim Abendmahl verwendet.

Die oft behauptete „Stiftungsgemäßheit“ des Weins wurde intensiv bedacht. Wein wird in den Abendmahlstexten des Neuen Testaments als Inhalt des Kelchs bei Jesu‘ letztem Abendmahl nicht genannt, auch wenn Jesu und seine Jünger dabei Wein getrunken haben werden. Explizit spricht Jesus vom „trinken vom Gewächs des Weinstocks“ (Lk 22,18). Eine Konservierung des Safts „vom Gewächs des Weinstocks“ als Traubensaft ist vor 2000 Jahren nicht möglich gewesen. Insofern kann heute — wo die technischen Möglichkeiten zur Konservierung als Traubensaft gegeben sind — eine andere Praxis des „trinken vom Gewächs des Weinstocks“ auch als möglich anerkannt werden. Dass dies im Laufe der Geschichte in der weltweiten Kirche immer wieder praktiziert wurde (um von ganz anderen Getränken beim Abendmahl noch zu schweigen), hat der Anselm Schubert in seiner „kulinarischen Geschichte des Abendmahls“ mit dem prägnanten Titel „Gott essen“ deutlich gemacht.

4.
Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf den Gemeinschaftskelch?

Die westfälischen Abendmahlsrichtlinien wurden im Juni 2020 veröffentlicht. Ihr Text war aber schon Anfang des Jahres 2020 erstellt worden. In ihm hieß es: „Die Regelform der Austeilung von Wein oder Traubensaft ist der Gemeinschaftskelch. In ihm kommt die gemeinschaftsschenkende Kraft des Abendmahls sinnfällig zum Ausdruck. Andere Formen der Darreichung, z. B. die Intinctio oder Einzelkelche, sind möglich.

Traditionell wurde beim Abendmahl der Gemeinschaftskelch bevorzugt, weil dadurch die Gemeinschaft im Abendmahl am sinnenfälligsten zum Ausdruck kam. Durch die Corona-Pandemie seit März 2020 hat sich die Situation massiv geändert. Ich nehme derzeit flächendeckend große Zurückhaltung beim gemeinsamen Trinken aus dem Gemeinschaftskelch wahr. Und ich sehe nicht, dass sich das mittelfristig ändern wird.

In hygienisch sensiblen Zeiten wie derzeit kann die Gemeinschaft auch dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass der Wein oder Traubensaft aus einem gemeinschaftlichen Gießkelch in Einzelkelche gegossen wird, aus denen dann getrunken wird. Ein westfälischer Pfarrer entdeckte im Sommerurlaub in Dänemark solche Gießkelche, bei denen einem alten silbernen Kelch offensichtlich schon vor längerer Zeit eine Gießtülle hinzugefügt wurde. Auf seine Frage, warum und wann man denn das gemacht habe, bekam er zu Antwort: Das ist bei uns seit 100 Jahren so, seit der großen Spanischen Grippe.

Zur zeitweise beliebten Intinctio (also dem Eintauchen von Brot oder Oblate in den Kelch) haben die Liturgischen Ausschüsse von UEK und VELKD zu Recht angemerkt, „dass von der gängigen Praxis der Intinctio dringend abzuraten ist. Auch wenn viele Menschen hier ein besseres Gefühl haben, ist das Eintauchen der Hostien durch mehrere Personen während der Feier eine hygienisch fragwürdige Praxis: Das Halten der Oblate in der Hand kann Krankheitserreger auf die Oblate übertragen, die von dort auf die Oberfläche der Flüssigkeit im Kelch gelangen und von hier aus den Weg zum nächsten Kommunikanten finden.“

Insofern sehe ich derzeit den Einzelkelch als Regelform der Abendmahlsfeier (in manchen Fällen auch in Verbindung mit einem Gießkelch). In manchen Kirchengemeinden heißt das Arbeit für die örtliche Töpferei oder den Silberschmied in der Nachbarschaft.

Beim Brot ist es etwas einfacher, hygienische Standards zu wahren, aber auch hier ist oft liturgische Fantasie erforderlich.

5.
Gibt es ein digitales Abendmahl?

Die Corona-Pandemie hat noch eine weitere Auswirkung auf das Abendmahl gehabt. Kurz vor Ostern 2020 wurde ein deutschlandweiter Lockdown ausgesprochen, in einigen Bundesländern wurden Gottesdienste explizit verboten, in anderen Bundesländern – zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen – verzichteten die Kirchen auf Bitten des Staates darauf, Präsenzgottesdienste durchzuführen. Das digitale Streamen von Gottesdiensten blieb aber möglich. Manche Gemeinden waren gut darauf vorbereitet, andere gingen die Aufgabe spontan mit viel Engagement an. Schnell kam die Frage auf: Was ist mit dem Abendmahl? Am Gründonnerstag? Am Ostersonntag? Geht das auch digital?

In einigen Landeskirchen wurde explizit von der online-Feier des Abendmahls abgeraten, andere ermunterten explizit dazu. In Westfalen gab es keine kirchenleitende Vorgabe. Ich selbst habe damals gedacht, dass ein zweiwöchiges Abendmahlsfasten zumutbar wäre. [Schließlich ist nach evangelischem Verständnis ein Wortgottesdienst theologisch genauso viel wert wie ein Abendmahlsgottesdienst. Und vielleicht wäre nach einer Fastenzeit das Abendmahl den Christinnen und Christen um so wertvoller geworden.] Nun dauert die Fastenzeit nicht nur zwei Wochen, sondern zwei Jahre. Es geht nicht mehr um die Frage, was in der Notsituation erlaubt, möglich oder sinnvoll ist bzw. was nicht erlaubt, möglich oder sinnvoll ist, sondern um die grundsätzliche Frage: Wenn digitale Gottesdienste zum regulären Gottesdienstangebot gehören, gilt das auch für das digitale Abendmahl?

[Im Frühjahr 2020 gab es schnell eine intensive Debatte, ob das überhaupt möglich ist, so ein digitales Abendmahl. Interessanterweise wurde die Auseinandersetzung oft so geführt, als seien die theologischen Fragen völlig neu.
Dabei gab es schon vorher Überlegungen, auf die man hätte zurückgreifen können. Der alte Streit zwischen den griechischen Philosophen Platon und Aristoteles, in welchem Verhältnis Bilder und Wirklichkeit zueinander stehen. Die Auseinandersetzung der Reformatoren Luther und Zwingli darüber, wie denn nun die Präsenz von Leib und Blut Christi in den Elementen Brot und Wein beim Abendmahl zu denken sei. Aber auch jüngere Überlegungen zu der Frage, was die Digitalisierung mit der Gesellschaft macht. Auch in der Kirche gab es Menschen, die seit den 1990er Jahren dazu vorgedacht hatten. Aber die Debatten darüber blieben zumeist im Raum der Spezialisten. Das ist nun anders: Die Frage berührt weite Kreise der Kirche. Und es gibt noch keinen Konsens, wie die Antwort darauf lautet.]

Ich gehöre zu denen, die ein digitales Abendmahl für möglich halten. Und zwar nicht nur, weil es praktiziert wurde, sondern auch, weil es theologisch denkbar ist. [Dazu sind m.E. folgende Fragen zu klären: – Gibt es im digitalen Raum Gemeinschaft? Ich meine ja. – Müssen Elemente physisch vorhanden sein oder ist ein vollständiges Avatar-Abendmahl im Internet möglich? Ich meine ersteres. – Muss eine physische Ko-Präsenz der Feiernden mit den Elementen gegeben sein? Ich meine nein. – Muss eine Gleichzeitigkeit der Feiernden gegeben sein oder lässt sich ein online-Abendmahl auch zeitlich nachfeiern? Darüber sollten wir uns unterhalten, gerne auch kontrovers. – Und wer die Geschichte der evangelischen Theologie und Kirche anschaut, merkt, dass der Streit über das digitale Abendmahl gut evangelisch ist: Vielleicht ist über kein Thema in der evangelischen Kirche so viel theologisch gestritten worden wie über das Abendmahl – von der Trennung zwischen Luther und Zwingli 1529 in Marburg bis zur heutigen Sitzung unserer Arbeitsgruppe.]

6.
Das Wichtigste zum Schluss: Was tun gegen die „eucharistische Appetitlosigkeit“?

Seit dem Beginn der Pandemie scheint das Abendmahl generell an Bedeutung verloren zu haben. In den Zeiten ohne Präsenzgottesdienste und in denen mit einschränkenden Regeln (Maske, Abstand, Testung, Impfung) gab es viele Fragen an den westfälischen Coronastab nach dem Singen und wie es trotzdem möglich sein könnte. Viele Fragen nach Kirchencafé, nach Jugendarbeit, nach dem Wasserübergießen bei der Taufe. Aber nur wenige Fragen nach dem Abendmahl und wie es trotzdem möglich sein könnte. Beobachter haben eine „eucharistische Appetitlosigkeit“ diagnostiziert. Die zentrale Frage scheint mir derzeit nicht zu sein, ob welche Formen des Abendmahls sinnvoll oder erlaubt sein können. Sondern wie die Christ:innen in unseren Gemeinden überhaupt wieder Appetit auf das Abendmahl bekommen. Und dadurch entdecken, was an Gemeinschaft, was an Segen, was an Heil im Abendmahl liegen kann. Dazu kann es unterschiedliche Formen geben.

Was mir wichtig ist: Dass wir wissen, was wir tun. Und dass wir das, was wir tun, würdig tun. Was würdige Formen des Abendmahls in der Gegenwart sind, das lohnt sich immer wieder zu erproben.

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Vielfalt trotz Lockdown

Am Donnerstag, den 11. August 2021, veröffentlichte die Evangelische Kirche von Westfalen die Ergebnisse einer Umfrage zu den Gottesdiensten an den Weihnachtstagen 2020 mit dem Titel „Vielfalt trotz Lockdown“.

In meinem Vorwort (vom 2. Juli 2021) dazu habe ich den Kontext der Umfrage erläutert:

„Die Risikobewertung des RKI wurde angepasst. Das RKI schätzt nunmehr die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland insgesamt als sehr hoch ein.“ (täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit 2019 (COVID-19), 15. Dezember 2020 -aktualisierter Stand für Deutschland)
So fasste das Robert-Koch-Institut die aktuelle Lage am 15. Dezember 2020 in der Corona-Pandemie zusammen und präzisierte: „Aktuell ist weiterhin eine hohe Anzahl an Übertragungen in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Daher wird dringend appelliert, dass sich die gesamte Bevölkerung noch stärker als bisher für den Infektionsschutz engagiert. Seit dem 4. Dezember 2020 ist ein starker Anstieg der Fallzahlen zu beobachten. Die Inzidenz der letzten 7 Tage liegt deutschlandweit bei 174 Fällen pro 100.000 Einwohner.“ In Nordrhein-Westfalen betrug die 7-Tage-Inzidenz für an das RKI übermittelte COVID-19-Fälle 172.
In dieser Situation veröffentlichte die Evangelische Kirche von Westfalen „schweren Herzens“ ein Corona-Update, in dem eine von landeskirchlichem Corona-Stab und der Konferenz der Superintendentinnen und Superintendenten ausführlich diskutierte „dringende Empfehlung“ veröffentlicht wurde. Im Kern enthielt das Update diese beiden Punkte:
„Die Evangelische Kirche von Westfalen hält es angesichts der gegenwärtigen und deutlich veränderten Lage – trotz der bisher bewährten Schutzkonzepte – für ein Gebot der Vernunft, auf Versammlungen von Menschen möglichst zu verzichten, um Menschen nicht zu gefährden. Darin erkennen wir – im Respekt vor den Entscheidungen anderer Landeskirchen und Bistümer – zu diesem Weihnachtsfest unseren Auftrag, der Liebe Gottes zu den Menschen zu entsprechen. Deshalb empfehlen wir den Kirchengemeinden in der EKvW dringend, ab sofort und über die Weihnachtsfeiertage – voraussichtlich – bis zum 10. Januar 2021 auf alle Präsenzgottesdienste und andere kirchliche Versammlungen (in Gebäuden
und unter freiem Himmel) zu verzichten.“
Dies wurde gleichzeitig auch von Präses Dr. h. c. Annette Kurschus im WDR-Regionalfernsehen bekannt gegeben und erläutert.

Diese Empfehlung erregte naturgemäß einiges Aufsehen. Viele Rückmeldungen aus den westfälischen Kirchengemeinden zeigten: Die weitaus meisten Gemeinden verstanden die Empfehlung als konstruktive Hilfestellung in einer schwierigen Entscheidungssituation. Der Paderborner Theologieprofessor Harald Schroeter-Wittke äußerte öffentlich: „Ich bin stolz auf meine westfälische Kirche! Das ist nicht nur gesellschaftlich, sondern auch theologisch weitsichtig!“ (zitiert nach: Reinhard Mawick, „Stolz auf meine westfälische Kirche!“ Notizen um das Pro und Contra von Präsenzgottesdiensten am 24. Dezember, in: zeitzeichen vom 22. Dezember 2020).
Aber es gab auch Kritik an diesem Vorgehen, sowohl innerhalb wie außerhalb der EKvW. Mancher vermisste die Abstimmung der Landeskirche mit den eigenen Gemeinden oder mit anderen Kirchen, manche sah die eigenen, bisher bewährten Schutzkonzepte als ausreichend zur Infektionsvermeidung an.

Zweifellos handelte es sich um einen umstrittenen Entschluss. Denn es war klar, dass sich viele Menschen gerade in diesem Pandemie-Jahr besonders nach den Weihnachtsgottesdiensten und nach Gemeinschaft sehnten. Die Botschaft vom rettenden Kommen Gottes in unsere Welt blieb gerade dann wichtig. Deshalb wurde zum Beispiel bis zuletzt diskutiert, ob zumindest Freiluft-Gottesdienste empfohlen werden könnten. Die Entscheidung dagegen und somit ein vollständiges Umdenken und Umplanen war durch die Dynamik des Pandemiegeschehens motiviert. Der RKI-Appell lautete, Kontakte soweit wie möglich zu reduzieren oder ganz zu vermeiden. In dieser Situation das genaue Gegenteil zu tun und Menschen zu versammeln, schien der Evangelischen Kirche von Westfalen nicht angemessen. Das schloss die schmerzhafte Empfehlung ein, auf physische Versammlungen zum Gottesdienst zu verzichten.
Gleichzeitig war klar: Weil das Feiern von Gottesdiensten aufgrund der Religionsfreiheit in Deutschland nicht untersagt worden war, bestand weiterhin die Möglichkeit dazu. Landeskirchliche Verbote sieht das westfälische Kirchenrecht zu Präsenzgottesdiensten im Blick auf die diesbezügliche Eigenverantwortung der Kirchengemeinden nicht vor. Deshalb stand es Gemeinden frei, in der Weihnachtszeit 2020 verantwortlich zu einem Präsenzgottesdienst einzuladen.
Die Kirchengemeinden wurden ausdrücklich dazu ermuntert, statt der traditionellen Präsenzgottesdienste kreative andere Verkündigungsformate zu nutzen: digital übertragene Gottesdienste, Verteilmaterial für Weihnachtsandachten im häuslichen Kontext (ein dazu geplantes Magazin ließ sich leider landeskirchlich nicht realisieren), offene Kirchen als Orte der Stille und des Gebets sowie manches mehr. Die evangelische Kirche hat nicht geschwiegen, sie hat andere Formen der Kommunikation des Evangeliums praktiziert. Gottesdienste wurden nicht abgesagt, sie wurden anders gefeiert.
Wie genau diese Feier anders war, das wollte der Corona-Stab der EKvW Anfang 2021 wissen und befragte deshalb die evangelischen Kirchengemeinden in Westfalen mit einementsprechenden Fragebogen. Dieser Fragebogen wurde von Dr. Peter Jacobebbinghaus ausgewertet. Die im Fragebogen enthaltenen Antworten auf offene Fragen hat Pfarrer Carsten Haeske interpretiert. Beiden sei herzlich dafür gedankt

Wir hoffen, dass diese Broschüre dazu beitragen kann, zum besseren Verstehen der kirchlichen Lage beizutragen und so etwas Licht in „das Dunkel des gelebten Augenblicks“ (Ernst Bloch) zu bringen.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der ausgewerteten Umfrage liegt die 7-Tage-Inzidenz in Nordrhein-Westfalen bei 5,6. Angesichts steigender Impfquoten und bei weiterer Einhaltung von notwendigen Vorsichtsmaßnahmen erscheint die Hoffnung auf einen guten Sommer mit Präsenzgottesdiensten und Gemeindegesang als begründet. Aber ob angesichts von hoch ansteckenden Virus-Mutationen und in der kälteren Jahreszeit Weihnachtsgottesdienste 2021 anders als im Vorjahr wirklich wieder ohne Bedenken präsentisch gefeiert werden können, ist derzeit nicht mit Sicherheit zu sagen. Dass die Gemeinden, die positive Erfahrungen mit digitalen Gottesdiensten gemacht haben, dies auch zukünftig fortsetzen werden, ist dagegen nicht nur zu erwarten, sondern auch zu erhoffen. Denn die digitalen Gottesdienste gehören spätestens seit Weihnachten 2020 zur erfreulich selbstverständlichen Vielfalt von Gottesdienstformaten nicht nur in der Evangelischen Kirche von Westfalen.“

Die Broschüre kann auf der Download-Seite der EKvW als pdf-Datei heruntergeladen und in Papierform kostenlos im Kirchenshop Westfalen bestellt werden.