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Kirchliches Musikalisches

„Ein bisschen Frieden“

Vor einigen Jahren habe ich – zusammen mit dem Kirchenmusiker Matthias Nagel (damals Beauftragter der Ev. Kirche von Westfalen für Popularmusik) – eine Tagung zum Thema „Kirche und Schlager“ veranstaltet, die dann auch in einer Buchveröffentlichung mit dem Titel „Ein bisschen Frieden… Schlager und Kirche im Gespräch dokumentiert wurde.

Immer mal wieder gab und gibt es Anfragen dazu. Am 14. November 2022 hat der Bayrische Rundfunk für seine Sendung „Theologik“ ein spannendes Interview mit mir geführt. Die Sendung ist als Podcast auch nach der Ausstrahlung verfügbar (etwa ab der 20. Minute komme ich dazu). Es ging, natürlich, um Nicole („Ein bisschen Frieden“) und den biblischen Schalom, es ging um Karat („Über sieben Brücken musst du gehn“) und Psalm 23, es ging um Tiefgang und Oberflächlichkeit, um Familienbilder und Gesellschaftsentwürfe. Ganz im Sinne dessen, was ich in der Einleitung zum Buch 2014 geschrieben habe:

Wie eine Blume am Winterbeginn / so wie ein Feuer im eisigen Wind,
wie eine Puppe, die keiner mehr mag, / fühl ich mich am manchem Tag.
Dann seh ich die Wolken, die über uns sind, / und höre die Schreie der Vögel im Wind.
Ich singe aus Angst vor dem Dunkel mein Lied / und hoffe, dass nichts geschieht.

So beginnt Nicoles legendärer Schlager aus dem Jahr 1982: Ein bisschen Frieden. Damals gewann sie als 17jährige im adretten Kleid mit ihrer weißen Gitarre das, was heute „ESC“ heißt und damals Grand Prix Eurovision de la Chanson, der Große Preis des europäischen Schlagers. 32 Jahre später, also nach einer Generation, fragen wir: Wie ist das mit dem „und“ zwischen Schlager und Kirche? Passt das dahin? Oder gerade nicht? Und warum?
Anders als Nicole hoffen wir aber nicht, „dass nichts geschieht“. Sondern wir hoffen, dass etwas geschieht. Und damit meinen wir nicht nur die Frage, ob Schlagersänger in einer Kirche auftreten dürfen. Das hat Nicole schon getan, die 2009 erstmals auf eine Kirchentournee ging. Und im vergangenen Jahr 2013 gab es in Minden und darüber hinaus etwas Unruhe, als Heino in der St. Marien-Kirche auftrat.
Aber uns geht es nicht um Kirchgebäude als besonders coole Location für weltliche Schlagermusiker. Sondern wir wollen tiefer ansetzen. Für die meisten Pfarrer und Pfarrerinnen, für die meisten hauptberuflichen Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker wird das etwas sein, was sie nicht regelmäßig tun. Denn sie gehören einem Milieu an, dass sich musikalisch oft durch den Satz charakterisieren lässt: „Ich höre alles außer Schlager“. Aber wenn der Schlager zu den populärsten Musikformen gehört, wie die Albumcharts im Januar 2014 zeigen, die von Helene Fischer („Farbenspiel“, Platz 1) angeführt werden, Andrea Berg folgt bald danach („Atlantis“, Platz 4) – und wenn das auch viele Gemeindeglieder so empfinden und also unsere Kirchengemeinden zu einem großen Anteil aus Schlagerhörern bestehen – warum sollten wir uns kategorisch davon distanzieren?
Eine Beschäftigung mit dem Schlager ist bisher in der Kirche zumeist unterblieben, wenn es doch geschah, dann meistens in abgrenzender Form. Wir wollen das ändern – und vielleicht gibt es als Ergebnis dieser Beschäftigung so etwas wie „ein bisschen Frieden“ zwischen Kirche und Schlager.
Aber was ist das eigentlich, ein Schlager? Ich gebe offen zu, mich damit erst im letzten Jahr wirklich intensiver beschäftigt zu haben. Denn auch ich gehöre dem Milieu an, das von sich behauptet: „Ich höre alles, außer Schlager“. Aber was höre ich denn nicht? Was ist ein Schlager? Wie fast immer, wenn man einfache Fragen stellt, sind die Antworten gar nicht so einfach. Es sind kluge Abhandlungen darüber verfasst worden, was denn wann als Schlager verstanden worden ist. Das variiert nämlich sehr, je nachdem, ob man sich im 19., im 20. oder im 21. Jahrhundert befindet, je nachdem ob man musikalisch, soziologisch, psychologisch, ökonomisch oder gar theologisch denkt. Möglicherweise war der erste Schlager „An der schönen blauen Donau“ 1867. Damals ist der Begriff „Schlager“ vor allem für solche Musikstücke verwendet worden, in denen den Zuhörern in sprachlichen Anspielungen eine gewisse frivol-erotische Doppeldeutigkeit schlagartig bewusst wurde.
In den 1920er Jahren differenzierte man zwischen „Gassenhauern“ und „Schlagern“ – manche haben damals den Gassenhauer als kulturell höherwertig verstanden, weil er aus dem Volk heraus entstand und diesem nicht übergestülpt werde. So schrieb ein entsprechender Kritiker 1924: „Die massenpsychologische Wirkung des Schlagers beruht auf dem Gesetz des geringsten Aufwandes musikalischer Energie. Wiederholung der gleichen akustischen Einwirkung wirkt energiesparend und ist lustbetont [und das ist dann natürlich negativ zu bewerten]; je primitiver musikalisch empfunden wird, desto sicherer die Wirkung.“
Wenn heutzutage Schlagermusik und Volksmusik oft in eins gesetzt werden, dann irritiert ein Blick in die 1940er Jahre, als innerhalb der nationalsozialistischen Ideologie der Schlager zum Inbegriff aller sogenannten volksfremden Musik wurde, deren Urheber selbstverständlich im Judentum lokalisiert wurden.
Seit den 1950er Jahren wird der Begriff „Schlager“ als eine „Kurzform leicht eingängiger Tanz- und Unterhaltungsmusik“ oder als Bezeichnung für „einfache liedartige Melodien, die leicht zu behalten sind“ bezeichnet. Vielleicht lassen sich diese Formulierungen als Arbeitsdefinition verwenden. Wobei der Begriff weiterhin schwer zu umgrenzen und damit an den Rändern durchaus unscharf bleibt. So konnte das „Fach“magazin „Prisma“ in einem Artikel über „Andreas Gabalier und die Rückkehr des Schlager“ im August 2013 titeln: „Rock’n’Roll in Lederhosen“. Ja, was denn nun: Schlager oder Rock’n’Roll? Oder hat vielleicht doch die Deutsche Bahn recht, als sie in ihrem Kundenmagazin im Dezember 2013 anlässlich eines Artikels über Helene Fischer titelte: „Schlager wird Pop“?
Eine grundlegende Kritik am Schlager kam von Theodor Adorno. Er sah den Schlager als Teil der Kulturindustrie und wies auf den zunehmenden Warencharakter der Kultur hin. Besonders bei der Musik beeinflusse die Industrie in ihrer Rolle als Vermittler zwischen Werk und Konsument das Subjekt stark. Musik mutiere zum Massenprodukt des Amüsements. Popular music war Adorno ein besonderer Dorn im Auge. Sie führe zu einer Regression des Hörens. Der Rezipient sei gar nicht mehr in der Lage, Werke zu beurteilen, denn, so schreibt Adorno, „die Bekanntheit des Schlagers setzt sich an Stelle des ihm zugesprochenen Wertes“. Der Hörer setze das Wiedererkennen eines Stückes an Stelle des Wertens. Er sei also gar nicht mehr fähig aus seiner von „standardisierten Musikwerken“ umzingelten Situation herauszubrechen und die Musik objektiv zu betrachten. Der Einfluss der Medien und der Industrie mache den Bürger unmündig. Adorno formulierte seine Kritik in einer Zeit eines musikalischen Umbruchs, nämlich des Einbruchs der internationalen Pop- und Rockmusik in die deutsche und damit deutschsprachige Musikszene.
Die Deutschsprachigkeit scheint ein ganz wichtiges Kriterium des Schlagers zu sein. Während 1962 noch fast alle Hits in Deutschland auf Deutsch gesungen wurden, waren es zum Ende dieses bewegten Jahrzehnts nur noch 5-10%. Und lange Jahre blieb das auch so, vielleicht kurz unterbrochen von der Neuen Deutschen Welle in den frühen 80ern. Mit einem Blick auf die heutigen Charts und auf die Beliebtheit mancher traditioneller Schlagersender kann man fragen: Sind wir wieder auf dem Weg in die 50er? Oder ist der Schlagerhype nur gehypt? Tatsächlich ist es ja so, dass auf den sogenannten Schlagersendern viel Englisches gespielt wird und manches, was eindeutig nicht aus dem Bereich des Schlagers kommt, der Generation Ü40 aber dennoch in ähnlicher Weise vertraut ist.
Was hat das Ganze nun mit der Kirche zu tun? Das hat in ähnlicher Weise schon 2002 die EKD-Kulturdenkschrift „Räume der Begegnung“ gefragt. Und sie hat damals als eines der Ziele der Begegnung von Kirche und Kultur das „Ernstnehmen des Trivialen“ propagiert. In ihrer Analyse des Trivial-Populären haben die Autoren der Denkschrift Adorno widersprochen: „Die kulturindustriellen Produktionsformen, die der Gewinnmaximierung dienen, mindern weder automatisch die Qualität eines Produkts noch bestimmen sie die Werte, die es vermittelt.“ Die Denkschrift vermeidet es klug, das Religiöse und das Triviale zu identifizieren – oder auf unserer Thema übertragen: den Schlager und die Kirche. Sie stehen zu einer Beziehung zueinander, aber sie sind nicht eins. Wieso sollte sich die evangelische Kirche mit etwas so Trivialem wie dem Schlager beschäftigen? Ich zitiere die EKD-Denkschrift auch deshalb, weil sie mein eigenes Interesse trifft: „Es liegt in der Technik, Komplexität in emotionale Eindeutigkeit zu übersetzen. Oder anders gesagt: Das Triviale ist einer von mehreren Wegen, der protestantischen Verkopfung zu ent-gehen.“ Von anderen lernen, heißt es also wieder einmal.
Oder haben wir das schon längst getan? Hat nicht mit dem sogenannten Neuen Geistlichen Lied der Schlager schon Einzug in die Kirche gehalten? „Danke für diesen guten Morgen“ (EG 334) hat nicht umsonst nicht nur in der Kirche, sondern auch auf Schlager-CDs seinen Platz gefunden, bis hin zu der Sammlung von Partykrachern eines Mickie Krause. Und als wir im Landeskirchenamt 2012 im „Jahr der Kirchenmusik“ alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach ihrem Lieblingslied im Gesangbuch gefragt haben, kam ein kirchlicher Schlager auf Platz 1: „Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer“ (EG RWL 663). Ist das ein Grund zum Spotten oder heißt das nur, dass die Menschen im LKA gar nicht so abgehoben von der kirchlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit sind, wie manchmal vermutet wird?
Jedenfalls erscheint es notwendig, dass in der Kirche Berührungsängste und Vorurteile gegenüber dem Schlager abgebaut werden. Wenn wir populäre Musik wie Jazz, Rock und Pop als ernstzunehmenden Teil der Kirchenmusikszene ansehen, wie weit gilt das dann auch für den Schlager? Eines ist allerdings klar, bei allen Formen von klassischer und populärer Kirchenmusik: Wir müssen auf Qualität achten und in der Aus-, Fort- und Weiterbildung auch selbst dafür sorgen. Gegebenenfalls auch beim Schlager.
In seiner Autobiographie berichtet Marcel Reich-Ranicki von einem Erlebnis aus seiner Schulzeit, das diese Hochschätzung der Qualität auch außerhalb der Hochkultur anschaulich macht: „Als die Schüler, die ein Instrument beherrschten, etwas zum besten geben sollten und einer – und zwar ein Jude – im Unterschied zu den anderen, die mit klassischen Stücken aufwarteten, einen miserablen Schlager klimperte, befürchteten wir, [unser Lehrer] Steineck werde ihn streng zu-rechtweisen. Doch was vorgefallen war, hatte ihn nicht empört, sondern nur betrübt. Er sagte ganz leise: ‚Dies war schlechte Musik. Aber auch schlechte Musik kann man anständig spielen.‘“

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Gott ist groß

Predigt zum 125+1. Jubiläum des Chorverbands in der Evangelischen Kirche von Westfalen,
St. Reinoldi-Kirche Dortmund, 25.09.2021

(hier geht’s zum Video des Festgottesdienstes, die Predigt gibt’s ab 33:40)

Liebe Gemeinde, hier und heute in der Dortmunder Reinoldi-Kirche oder später an den Bildschirmen!

„Gott ist groß! Kein Mensch kann ihn so sehn! Gott ist groß! Ihn als Ganzes verstehn? Denn Gott ist groß, denn Gott ist groß! Größer als jeder Geist das wohl jemals begreift!“

So haben wir den Text von Benedikt Preiß in der Vertonung von Matthias Nagel gerade gehört. Eine ganz frische Verbindung von Theologie und Kirchenmusik. Aber keine völlig neue Erfahrung. „Gott ist groß! Kein Mensch kann ihn so sehn!“ –  das ist eine Erfahrung, die schon viele Menschen vorher gemacht haben. Eine dieser Erfahrungen ist in der Bibel, im Alten Testament niedergeschrieben.

Die Mose-Geschichten erzählen von einem Mann mit einer besonderen Beziehung zu Gott. Im 2. Buch Mose steht, dass Gott sich mit ihm unterhalten hat, wie wenn ein Mann sich mit einem Freund unterhält. Und wohl deshalb hat Mose dann eine ganz unerhörte Bitte an Gott gehabt:
18 „Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“ 19Und Gott sprach: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will ausrufen den Namen des Herrn vor dir: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. 20Und er sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. 21Und der Herr sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. 22Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. 23Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen.

Liebe Chorverbandsjubiläumsgemeinde,

Mose wollte Gottes Herrlichkeit sehen – wollen Sie das auch? Will ich das auch? Manchmal wünsche ich mir, Gott nicht nur zu sehen, sondern auch vorzeigen zu können. Seit Jahren treten immer mehr Menschen aus der Kirche aus, als in die Kirche ein. Und wenn wir den Studien Glauben schenken können, wird das auch weiter so bleiben. Manchmal wünsche ich mir dann, Gott sehen zu können. Und ihn auch anderen zeigen zu können, ihn und seine Herrlichkeit. Manchmal wünsche ich mir, die Überzeugungsarbeit für die Kirche, die ich ja doch leisten müsste, auf einen beweisbaren und vorzeigbaren Gott abschieben zu können. Wenn ich mich nicht groß genug fühle, dann würde ich gerne den großen Gott mit all seiner Herrlichkeit sichtbar an meiner Seite wissen.

Und doch bin ich mir nicht sicher, ob ich wirklich Gottes Herrlichkeit sehen wollte. Schon ein direkter Blick in die Sonne blendet und schädigt die Augen. Nicht umsonst gibt es selbst für Sonnenfinsternisse diese kleidsamen Sofi-Brillen.

Wieviel mehr müsste ein direkter Blick in Gottes Herrlichkeit blenden und die Augen schädigen! Schon die unmittelbare Konfrontation mit der Wahrheit ist oft kaum auszuhalten. Wieviel mehr die unmittelbare Konfrontation mit Gottes Größe! Und dafür gibt es keine Sofi-Brille.

In der Erzählung der Begegnung von Mose und Gott hat Gott in andere Weise Rücksicht genommen auf den Zusammenhang ihrer Beziehung. Eben ohne Sofi-Brille.

Zunächst einmal: Gott weist Mose einen Ort zu. Erst das macht ihre Begegnung möglich. Kein besonderer, heiliger Ort, sondern ein ganz normaler Fels. Gott begegnet dem Menschen nicht nur im Tempel oder in der Kirche. Dort auch – und besonders, wenn es eine so wunderbare Kirche wie St. Reinoldi ist. Aber vor allem begegnet Gott dem Menschen an ganz normalen Orten. Und zu ganz normalen Zeiten. So kann auch der Alltag unserer normalen Beschäftigungen zum Ort der Gottesbegegnung werden.

Und dann ist da noch eine zweite Art und Weise, wie Gott den Zusammenhang seiner Beziehung zu Mose beachtet.
Mose bekommt Gott nicht von vorn zu sehen. Da hält Gott seine schützende Hand davor. Mose bekommt Gott nur von hinten zu sehen. Selbst Mose, selbst diesem Menschen mit der so intensiven Gottesbeziehung, ist eine direkte Gotteserkenntnis nicht möglich. Erst im Hinterherblicken erkennt er Gott.

Vielleicht ist es Ihnen schon mal ähnlich ergangen: Erst in der Rückschau wurde deutlich: Hier ist Gott gewesen. In dem Moment, in dem ich im Auto gerade noch an einem Unfall vorbeigekommen bin, denke ich an vieles, wohl kaum aber an Gott. Erst später wird klar, wessen schützende Hand hier im Spiel war. Wie oft erkenne ich Gottes Präsenz nicht im Präsens, sondern in der Vergangenheit.

Wo haben Sie hier ähnliche Erfahrungen gemacht? Wo haben Sie die Spuren von Gottes Gegenwart rückblickend im eigenen Leben erkannt?

Auch die Geschichte des Chorverbands in der Evangelischen Kirche von Westfalen kann so eine Möglichkeit sein, Gottes Spuren rückblickend zu erkennen. Auch wenn böse Zungen behaupten „Westfalia non cantat“ – Westfalen singe nicht –, gibt es hier natürlich schon lange Musik und auch Kirchenmusik. Von der Reformation bis heute war und ist evangelischer Glaube ohne Gesang nicht denkbar.

Martin Luther hat einmal gesagt: „Die Musica ist eine schöne und herrliche Gabe Gottes.“ Und in seinem Weihnachtslied „Vom Himmel hoch“ heißt es: „Davon ich singen und sagen will…“ Davon ich singen und sagen will – in der Reihenfolge: Musik als erstes Medium der Verkündigung! Schon in der Reformation wurde fleißig zum Lobe Gottes gesungen.

Etwa seit dem 17. Jahrhundert gibt es Chöre im heutigen Sinne. Und 1895 fand die Gründungsversammlung des westfälischen Chorverbands statt. Ganz im Sinne dessen, was die neutestamentlichen „Einsetzungsworte der Kirchenmusik“ in Kolosser 3,16 uns aufgetragen haben: „Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in eurem Herzen“.

Und so können wir heute dankbar auf 125 Jahre +1 Chorgeschichte, Chorverbandsgeschichte in Westfalen zurückblicken. Und in diesen 125+1 Jahren Gottes Spuren suchen und finden. Ein Grund, Gott dankbar in unseren Herzen singen!

„Denn Gott ist groß, denn Gott ist groß! Größer als jeder Geist das wohl jemals begreift!“ Sie merken: Ich bin nach dem Umweg über die Kirchengeschichte wieder in der Gegenwart angekommen, beim heute uraufgeführten Gloria:

„Gott ist groß! Kein Mensch kann ihn so sehn! Gott ist groß! Ihn als Ganzes verstehn?“ Diese Frage müssen wir wohl weiterhin aushalten. Das gilt nämlich nicht nur für Mose und die Menschen des Alten Testaments. Das gilt auch für Christinnen und Christen: „Niemand hat Gott je gesehen“, heißt es zu Beginn des Johannes-Evangeliums. Die Gemeinde des Neuen Bundes ist hier kaum weiter als die Gemeinde des Alten Bundes. Im 13. Kapitel des 1. Korintherbriefs schreibt Paulus: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“

Auf dieses „dann aber“ warten Christen wie Juden weiterhin. Sie warten darauf, wir warten darauf, dass Gott diese Welt und ihre Erkenntnis zu ihrem Ziel, nein, zu seinem Ziel führen wird. Wir warten auf den Tag, an dem wir alle Gott von Angesicht zu Angesicht sehen können. Bis dahin müssen wir akzeptieren, dass wir Gott nicht direkt sehen können, dass wir ihn nicht sichern, nicht vereinnahmen können. Dazu ist er zu groß.

Aber bis dahin können wir Gott loben mit allen Stimmen, die wir haben, mit allen Instrumenten, die wir spielen können, mit allen Taten der Liebe, die wir tun können. Bis dahin haben wir Gottes Zusage, sein Versprechen in seinem Namen: „Ich bin gnädig, wem ich gnädig bin, und ich erbarme mich, wessen ich mich erbarme.“ Auf diese Gnade, auf dieses Erbarmen hoffe ich.

Amen.

Predigtlied: „Wind kannst Du nicht sehen“ (Text: Markus Jenny, Melodie Erhard Wikfeldt;  EG 568, 1-5)

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Liederkarussell „Praise’n’Worship, NGL & Co.“

Albert Frey, Matthias Nagel, Fritz Baltruweit und Timo Böcking auf einer Bühne.

Ein Video von Bernd Becker (Unsere Kirche).


Zum Hintergrund:

Fachtagung „Praise’n’Worship, NGL & Co.“ über die Kirchenmusik der Zukunft

„Die Gemeinde braucht singbare Lieder“

Die Kirchenmusik muss breiter aufgestellt werden. Das ist das Ergebnis einer Fachtagung der Evangelischen Kirche von Westfalen. Moderne Formen wie Neues Geistliches Lied, Gospel und Worship haben im Gemeindealltag längst ihren Platz erobert. Die Ausbildung von Kirchenmusikerinnen und -musikern muss diesen Bereich neben der traditionellen klassischen Musik sehr viel stärker berücksichtigen.

„Es ist an der Zeit, das Schubladendenken aufzugeben“, sagte der Leiter des Instituts für Aus-, Fort- und Weiterbildung der westfälischen Kirche, Peter Böhlemann, am Donnerstag in Witten. „Nur wenn sie gemeinsam auftritt, hat die Kirchenmusik eine Zukunft“, betonte auch der in der Landeskirche zuständige Dezernent, Landeskirchenrat Vicco von Bülow. Die Evangelische Kirche von Westfalen sieht er dabei auf einem guten Ergebnis: Mit der Evangelischen Popakademie Witten und der Ausbildung von Popkantorinnen und -kantoren habe man die Weichen in die richtige Richtung gestellt.

Mehr als 100 Pfarrerinnen und Pfarrer, Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker sowie interessierte Gemeindemitglieder diskutierten im Lukaszentrum Witten unter dem Titel „Praise’n’Worship, NGL & Co.“ die Frage: „Welche Popularmusik braucht die Gemeinde?“. Die Antwort war eindeutig: Die Gemeinde braucht singbare Lieder, es macht dabei keinen Unterschied, aus welcher Zeit oder Kategorie sie stammen. 

Referenten und Teilnehmer berichteten, wie sehr Richtungskämpfe und Abgrenzungen die Entwicklung von Gottesdiensten und Gemeinden blockieren können. Neben dem Streit, ob der klassische Orgelchoral oder moderne Bandmusik geeigneter sei, kämen auch Auseinandersetzungen um neuere Formen der Musik hinzu. So sehe sich die Worshipmusik, die an vielen Stellen für volle Kirchen sorgt, oft innerkirchlicher Kritik ausgesetzt. „Die Lobpreisszene verengt das biblische Gottesbild auf den Vater und König, und sie hat die Tendenz, den christlichen Glauben ganz auf das individuelle Wohlgefühl im Moment der Anbetung zu reduzieren“, bemängelte etwa der Publizist Andreas Malessa. Vielen Kirchenmusikern und Pfarrerinnen sei sie auch musikalisch zu simpel in Aufbau und Textform. „Da wird ein Vers dreimal wiederholt und nur ein Wort dabei ersetzt“, so Malessa.

Neues geistliche Lieder stammt aus den 60ern

Allerdings seien auch andere, vermeintlich moderne Formen der Kirchenmusik für weite Teile der Bevölkerung längst veraltet. „Das sogenannte neue geistliche Lied stammt aus den 60ern, die Musik, die wir im Radio oder Internet hören, ist längst weitergegangen“, erklärte Experte Malessa. Notwendig sei es aber nicht, derartige Ansätze wie Worship, Gospel oder NGL aufzugeben, sondern sie weiterzuentwickeln. Außerdem werde es immer wichtiger, Musik nicht nur vorzutragen, sondern die Gemeinde anzusprechen, ihre Emotionen zu wecken und sie zum Mitsingen zu bringen, so Malessa. 

An dieser Stelle betonten etliche der anwesenden Kirchenmusikerinnen und – musiker, dass ihre Ausbildung sie auf derartige Aufgaben nicht vorbereite. Ansätze wie der Evangelischen Kirche von Westfalen, inzwischen auch Pop-Kantoren auszubilden, seien ein Schritt in die richtige Richtung. Notwendig sei aber, nicht nur Teilzeitstellen, sondern ausreichend 100-Prozentstellen einzurichten. Wo das einer Gemeinde alleine nicht möglich sei, solle man über Kooperationen  mit Nachbargemeinden nachdenken. Dabei dürfe auch die Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche kein Tabu sein. (Gerd-Matthias Hoeffchen)


Auf dem Podium diskutierten (v.l.): Andreas Malessa, Kirchenmusikerin Vera Hotten, Prof. Hartmut Naumann, Stefan Glaser (Beauftragter des Bistums Essen), Landeskirchenrat Vicco von Bülow und Musikerlegende Albert Frey. Foto: gmh