Kategorien
Wissenschaftliches

Sieben Jahrhunderte Christentumsgeschichte

Rezension von:
Wolf-Friedrich Schäufele, Kirchengeschichte II: Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart (Lehrwerk Evangelische Theologie 4), Leipzig Evangelische Verlagsanstalt 2021. XX und 544 Seiten, gebunden, ISBN 9783374954848; 48,00€

Erneut liegt ein Band aus der gelungenen Reihe „Lehrwerk Evangelische Theologie“ vor, der auf „eine Leserschaft, die Freude an theologischer Bildung hat“ (V) zielt. Der Marburger Kirchenhistoriker Wolf-Friedrich Schäufele zeichnet mit „Kirchengeschichte II: Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart“ die letzten 700 Jahre Christentumsgeschichte nach.

Wissend, dass Kirchengeschichte nicht immer den besten Ruf hat, betont Schäufele in seinem konzisen Vorwort, dass das Verständnis für die Zusammenhänge wichtiger sei als Detail- und Datenwissen. Denn die Aufgabe der Kirchengeschichte sei es, verständlich zu machen, welche Transformationen und Neukonfigurationen dazu beitragen haben, dass „das Christentum, eine vor zwei Jahrtausenden im Vorderen Orient entstandene Religion, noch heute im 21. Jahrhundert […] von einer Mehrheit der Weltbevölkerung als ein plausibles Angebot der Welt- und Selbstdeutung, der Sinnstiftung und der moralischen Orientierung empfunden wird“ (XVII). Dabei sei im vorliegenden Band eine Konzentration auf Europa und Deutschland sinnvoll, um „angehenden Pfarrerinnen und Pfarrern und Religionslehrerinnen und Religionslehrern ein historisch begründetes Verständnis eben jener Gestalt des Christentums zu erschließen, mit der sie in ihrem Wirkungskreis aktuell konfrontiert sind und für die sie in ihrem Amt einzustehen haben“ (XVIII).

Die Einteilung in Zeitabschnitte ist etwas kleinschrittiger als üblich, aber einleuchtend. Im 1. Kapitel „Kirche und Theologie im Spätmittelalter (1294-1517)“ wird deutlich, dass auch diese Zeit mit ihren gesellschaftlichen, kirchenpolitischen und theologischen Entwicklungen zur Geschichte der evangelischen Kirche gehört. Ein Schwerpunkt liegt aber auf dem 16. Jahrhundert, das im 2. Kapitel „Die Reformation im deutschsprachigen Raum (1517-1555), im 3. Kapitel „Die Reformation in Westeuropa (1520-1648)“ und im 4. Kapitel „Kirche und Theologie im Konfessionellen Zeitalter (1555-1648)“ behandelt wird. Als Westfale mag man die wenigen Zeilen zum Täuferreich in Münster (vgl. 103) zu kurz finden, aber angesichts des Anspruchs, die großen Linien und nicht die kleinen Details zu beachten, steht eine solche Anfrage wieder etwas zurück. Und die Zusammenfassung der Zusammenhänge gelingt Schäufele hier durchweg, beispielsweise in der Charakterisierung des Protestantismus als neuer Grundtyp des Christentums: „Charakteristisch dafür ist die Aufhebung der Unterscheidung von Klerus und Laien und die daraus resultierende Ausschaltung der sakramentalen priesterlichen Heilsvermittlung sowie die konsequente Individualisierung der religiösen Existenz im Sinne einer Gottunmittelbarkeit jedes einzelnen Gläubigen.“ (569)

Im 5. Kapitel „Kirche und Theologie im Zeitalter von Pietismus und Aufklärung (1648-1789)“ betont Schäufele das Verbindende dieser Bewegungen: erstens die Betonung des subjektiven Wahrheitsbewusstseins, zweitens die Orthopraxie statt der Orthodoxie und drittens die Abkehr von der polemischen Kontroverstheologie. Das wird deutlich gemacht durch den Abdruck eines sprechenden Bildes aus Johann Arndts „Vom Wahren Christentum“ (227); man hätte sich noch mehr solcher Abbildungen in diesem Lehrbuch gewünscht. Aber der Westfale wird gleich wieder durch die ausführliche Darstellung des Wittgensteiner Radikalpietismus (vgl. 263-265) versöhnt. In der Einleitung zum 6. Kapitel „Kirche und Theologie im langen 19. Jahrhundert (1789-1918)“ betont Schäufele zu Recht: „Vieles von dem, was für unsere Lebensweise und unser Lebensgefühl heute selbstverständlich erscheint, ist erst im 19. Jahrhundert unter teilweise heftigen Verwerfungen errungen worden“ (298). Diese Erkenntnis kann gerade in den heutigen kirchlichen Umbrüchen kaum genug betont werden: Die jetzige Gestalt der Kirche geht eben überwiegend nicht auf Reformation und Urchristentum zurück, sondern auf das 19. Jahrhundert. Gerade in diesem Kapitel überzeugt die Reihenfolge der behandelten Themen: zunächst die Politik, dann der Bereich Wirtschaft/Soziales, folgend die geistigen Umwälzungen und erst dann die Auswirkungen auf Christentum und Kirche. So tritt die Kirchengeschichte der Illusion entgegen, „als habe es die Theologie nur mit Theologie zu tun“ (Gerhard Ebeling). Auf das „lange“ 19. Jahrhundert folgt im 7. Kapitel „Kirche und Theologie im kurzen 20. Jahrhundert (1918-1990)“. Ob das Engagement von Kurt Gerstein wirklich „befremdlich“ (430) war und der Einfluss der 68er-Bewegung auf die evangelische Kirche wirklich „gering blieb“ (454), kann man fragen. Aber damit wäre man schon wieder im Bereich der Details und nicht in den Zusammenhängen, die auch für die Kirchliche Zeitgeschichte überzeugend dargestellt werden. Etwas angehängt wirkt das Unterkapitel 7.12 „Christsein in der Ökumene“, besonders der Exkurs 7.12.5 „Zur Geschichte der Ostkirchen in der Neuzeit“. Hier wäre eine bessere Synchronisation innerhalb der Lehrwerk-Reihe mit Ulrich Körtners Ökumenischer Kirchenkunde denkbar gewesen.

„Ein Wort zum Schluss“ bildet das 8. Kapitel; dort beobachtet Schäufele gegenwärtige Trends und kommt zu dem Schluss, die Geschichte der kirchlichen Transformationen werde fortgesetzt werden müssen: „Die hergebrachten volkskirchlichen Strukturen werden neuen Modellen weichen müssen […]. Innovative Lösungen sind gefragt“ (504). Doch er ist gerade nach dem Rückblick auf die letzten 7 Jahrhunderte überzeugt, dass dies den christlichen Kirchen mit der Hilfe Gottes auch zukünftig gelingen werde.

(Kirchliches Amtsblatt der EKvW Teil II Ausgabe 2/2023, S. 9f.)

Kategorien
Wissenschaftliches

Volkskirche im Wandel

Vicco von Bülow (Hg.), „Modell“ Volkskirche? Ein Jahrhundert im Wandel. Strukturen, Praxis, Perspektiven (Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte 49), Bielefeld 2022.
(auch als e-book erhältlich)

„Kirche verstehen“ als Grundlage für „Kirche gestalten“ – das gilt auch eine Kirche vom Übergang von der „Volkskirche“ in eine Kirchenform, für die Begrifflichkeit und Gestalt erst noch erarbeitet werden müssen. In dieser Übergangszeit gilt ganz pragmatisch: „Die aktuelle Situation der Kirche braucht den Mut, mit kleinen Schritten zu beginnen, ohne zu wissen, ob sie zu einer langfristig tragfähigen Lösung führen.“

Mit diesem Zitat von Uta Pohl-Patalong habe ich meine Einleitung zum Tagungsband „Modell“ Volkskirche? beendet, der in der Reihe Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte die Tagung der Kommission für Kirchliche Zeitgeschichte vom März/April 2022 dokumentiert.

Ich bin froh, dass das Buch – auch dank der Hilfe des Landeskirchlichen Archivs und der guten Arbeit des Luther-Verlags – noch in diesem Jahr erscheinen konnte. Und ich hoffe, dass es in dem von mir genannten Sinne zum Verstehen und zum Gestalten der Kirche hilfreich sein kann.

Wolf-Friedrich Schäufele hat in seinem aktuellen Lehrwerk zur Kirchengeschichtedie Kernaufgabe der Kirchengeschichte als theologischer Disziplin“ darin definiert, „angehenden Pfarrerinnen und Pfarrern und Religionslehrerinnen und Religionslehrern ein historisch begründetes Verständnis eben jener Gestalt des Christentums zu erschließen, mit der sie in ihrem Wirkungskreis aktuell konfrontiert sind und für die sie in ihrem Amt einzustehen haben.“ In diesem Sinne will ich auch dieses Buch zur Geschichte der Volkskirche in Westfalen verstanden wissen.

Aus dem Inhalt:

Vicco von Bülow
„Versammelte Gemeinde und ausgesandte Boten“ – Einleitung zum Tagungsband „Modell“ Volkskirche ? . . . . 11

Hinnerk Wißmann
Die Volkskirche als Resonanzraum des Religionsverfassungsrechts . . . . 23

Benedikt Brunner
Volkskirche – Konfigurationen und Potenziale eines evangelischen Grundbegriffs im 20. Jahrhundert . . . . 41

Norbert Friedrich
Wilhelm Zoellner, ein Mann der Kirche und der Diakonie zwischen Kaiserreich und Diktatur . . . . . 67

Ute Gause
„Den Pastoren leistet Ehrerbietung und Gehorsam.“ – Gemeindepflege der Sareptadiakonissen im Ruhrgebiet und in Westfalen . . . . 89

Jürgen Kampmann
Konkurrierende Konzeptionen von Volk, Kirche und Volkskirche in der nationalsozialistischen Zeit . . . . 103

Axel Noack
Von der Orientierung auf die Kerngemeinde zur Kirche in der Diaspora – Überlegungen zur „Volkskirche“ in der DDR . . . . 167

Tobias Sarx
Kirchenkritik um 1968 – Volkskirche als überholtes statisch-harmonisierendes Ferment der bürgerlichen Gesellschaft? . . . . 193

Christoph Kösters
Vom Wandel des katholischen Milieus und dem Ende der „Volkskirche“ nach 1945 – Deutungskonflikte um „Kirche“ und „Katholizismus“ in der Bundesrepublik . . . . 207

Gerhard Wegner
Die Entwicklung der Kirchenmitgliedschaft in der Evangelischen Kirche in Deutschland – Faktoren und Folgen . . . . 251

Traugott Jähnichen
Kirche im Volk – Transformationen volkskirchlicher Leitbilder seit dem 19. Jahrhundert . . . . 267

Antje Roggenkamp
Kirchbautag und Volkskirche – Strukturtheoretische Antinomien einer demokratisch konnotierten Begrifflichkeit . . . . 283

Kategorien
Kirchliches Wissenschaftliches

Nach Gott fragen angesichts der Pandemie

Die Corona-Pandemie hat erhebliche Auswirkungen auch auf die Kirchen und ihre theologischen Äußerungen. Mancher Vorwurf über „das Schweigen der Bischöfe“ meint die ganze Kirche und vermisst öffentliche Deutungen durch Kirche und Theologie.

Der von Annette Kurschus, Traugott Jähnichen und mir herausgegebene Band „Nach Gott fragen angesichts der Pandemie. Von Gott reden – mit Gott reden“ (Luther-Verlag Bielefeld 2022, 164 Seiten, Paperback, 14,95€, ISBN 978-3-7858-0808-5) dokumentiert theologische Äußerungen aus der Evangelischen Kirche von Westfalen in den Jahren 2020-2022, die deutlich machen: Krisenerfahrungen theologisch zu deuten heißt nicht, Antworten auf alle Fragen zu wissen, sondern die Frage nach Gott als eine eigene Perspektive in die Öffentlichkeit einzubringen. Von Gott reden heißt vor allem: nach Gott fragen und mit Gott reden.

Ulrich Körtner schreibt in seiner Rezension im Magazin zeitzeichen: „Warum also weiter von Gott reden? Wie von Gott und wie zu ihm reden?Mit diesen Fragen setzen sich die Beiträge des vorliegenden Bandes redlich auseinander […]. Sein Ziel ist es, das Gespräch in den Gemeinden und Kirchenkreisen anzustoßen“.

Harald Schroeter-Wittke hat den Band auf evangelisch.de rezensiert. Er schließt mit dem Lob: „So darf dieses Buch mit Fug und Recht ein theologisches Kompendium angesichts der jüngsten Corona-Erfahrungen genannt werden, das hoffentlich viele Menschen erreicht und sie ebenso zu begeistern vermag wie mich.“ 

Inhalt:

Annette Kurschus – Vorwort. Gott in der Pandemie
Traugott Jähnichen / Vicco von Bülow – Nach Gott fragen und mit Gott reden. Theologische Herausforderungen im Kontext der Corona-Pandemie
Annette Kurschus – Die ernsthafte Frage nach Gott
Annette Kurschus – Die schöpferische Kraft des Geistes. Theologische Zeitansage
Ständiger Theologischer Ausschuss der Evangelischen Kirche von Westfalen – Die Frage nach Gott in der Pandemie. Krisenerfahrungen theologisch deuten
Thorsten Moos – Die Frage nach Gott und die theologische Fatigue in Zeiten der Pandemie
Ralf Stolina – Beten
Carsten Haeske – Das gottesdienstliche Gebet – und wie Corona es verändert hat
Martin Treichel – Ein Gott, der Hilfe braucht. Weihnachtspredigt in schlimmen Zeiten

Kategorien
Kirchliches Wissenschaftliches

Volkskirche ja – aber wie?

Das Konzept der „Volkskirche“ steht zunehmend in der Diskussion. Insbesondere vor dem Hintergrund abnehmender Kirchenmitgliedschaft stellen sich Fragen nach seinen Ursprungsideen und der gesellschaftlichen Rolle einer solchen Volkskirche, deren diakonisches Handeln und religiöse Dienstleistungsangebote gleichwohl in der Öffentlichkeit weiterhin hoch im Kurs stehen.

Am 31. März und 1. April 2022 lud die Kommission für kirchliche Zeitgeschichte der Evangelischen Kirche von Westfalen dazu ein, gesellschaftlich relevante Dimensionen des komplexen Untersuchungsgegenstands „Volkskirche“ in einem historischen Zugriff auszuloten.

Zu Beginn konnte ich die Teilnehmer:innen (wenn auch coronabedingt nur aus der Quarantäne und vertreten durch Archivleiterin Ingrun Osterfinke) begrüßen:

Im Namen der Evangelischen Kirche von Westfalen und als Vorsitzender der landeskirchlichen Kommission für Kirchliche Zeitgeschichte begrüße ich Sie sehr herzlich zu unserer Tagung über das „Modell Volkskirche“.

Die Tagung, so heißt es im Einladungsflyer, „will in einem historischen Zugriff gesellschaftlich relevante Dimension des komplexen Untersuchungsgegenstands ‚Volkskirche‘ ausloten“. Das wollen wir auf verschiedenen Wegen gemeinsam tun.

  • Wir wollen uns dem Begriff „Volkskirche“ nähern. Im Flyer haben Sie die Trias des Praktischen Theologen Kristian Fechtner gelesen, der Volkskirche als „Strukturbegriff“, als „Praxisbegriff“ und als „Konzeptbegriff“ versteht.[1] Wie erweist sich diese Differenzierung als tauglich zum Verstehen gegenwärtiger und historischer Phänomene?
  • Vom kanadischen Wissenschaftstheoretiker und Sprachphilosophen Ian Hacking stammt die Erkenntnis: „Begriffe haben Erinnerungen an Ereignisse, die wir vergessen haben.“[2] Welche Ereignisse sind im Begriff Volkskirche angelegt? Welche Zeitphasen, welche Personen, welche Gremien sind unseres Erinnerns wert?
  • Kirchengeschichte ist immer dann besonders ertragreich, wenn sie ereignis- und theologiegeschichtliche Ansätze miteinander verbindet. Deshalb sollen theologische Konzeptionen – und ihre Kritik! – im historischen Kontext analysiert werden. Um den theologischen Binnenraum zu verlassen, sollen auch juristische und soziologische Sichtweisen zu Wort kommen.
  • In einem Essay zur Kirchlichen Zeitgeschichte im jüngsten Heft der Theologischen Literaturzeitung wird von „der geradezu erdrutschartigen Erosion der Volkskirche“[4] gesprochen. Wie gehen diejenigen, die diese Kirche gegenwärtig leiten, mit dieser Situation um? Dazu werden in einer Podiumsdiskussion Leitende Geistliche aus verschiedenen Regionen Deutschlands befragt. Und den evangelischen Binnenraum verlassen wir mit einem Vertreter der katholischen Kirche. Sie alle machen in besonderer Weise deutlich, dass die „Volkskirche“ auch in einer veränderten Form Thema für die Kirche heute ist.

Ich möchte meine Begrüßung nutzen, um Schlaglichter auf zwei Theologen aus der Kirchengeschichte zu werfen, die ich aus unterschiedlichen Gründen für beachtenswert halte.

Von dem einem Theologen stammt das Zitat: „Bei uns ist die Gestalt der ‚Volkskirche‘ die überkommene. Wir können uns ohne sie weder die Kirchengeschichte noch auch die Völkergeschichte des Abendlands im letzten Jahrhundert vorstellen.“ [4]

Viel höher kann man die Bedeutung der Volkskirche kaum ansetzen. Aber das Zitat ist schon wieder Teil der Kirchengeschichte geworden. Es stammt aus dem Jahr 1949 und zwar von dem reformierten Theologen Otto Weber aus seinem Büchlein „Versammelte Gemeinde“. Weber war sich der problematischen Seite des Volkskirchenbegriffs bewusst geworden: „Wo zwischen Kirche und Volk ein Gleichheitszeichen tritt, da läßt sich die entstehende Gleichung nach beiden Seiten lesen. Es kann also dann auch behauptet werden, das Volk – versteht sich: das ‚christliche‘, ‚abendländisch-christliche‘ Volk sei (in irgendeinem Sinn) ‚Kirche’. Wo dies geschieht, zeigt der bisher in Betracht gezogene Begriff der ‚Volkskirche‘ seine gefährlichste Seite. […] Wir haben es bei uns an dem Begriff des ‚arteigenen Christentums‘ zu erfahren bekommen, was das heißt.“ Und doch, so Weber, „verbirgt sich in dem Gedanken der Volkskirche ein Moment, das in ganz andere Richtung weist, als wir es bisher bedachten. Es ist das Moment der öffentlichen Verantwortlichkeit der Kirche.“ Wo die Kirche versammelte Gemeinde sei, könne sie in dem Sinne ihre öffentliche Verantwortlichkeit wahrnehmen, dass sie sich mit dem Menschen, mit dem Volk, mit der Welt auf eine diakonische Art und Weise solidarisch zeige. Volkskirche als „Kirche Gottes für das Volk, für die Völker, für die Welt.“[5] Diese Interpretation der Volkskirche als weltbezogene Kirche für das Volk hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre Auswirkung gehabt. Sie motivierte beispielsweise Jürgen Moltmann 1975 (also 9 Jahre nach Webers Tod) zu einer Neuauflage der „Versammelten Gemeinde“.[6]

Und auch in Westfalen hat die „Versammelte Gemeinde“ ihre Auswirkungen gehabt. Präses Ernst Wilm verwies in seinen „Tätigkeitsbericht auf der Tagung der westfälischen Landessynode im Oktober 1960“ mehrfach darauf.[7] Der Titel dieses Berichts lautete „Volkskirche – Last und Verheißung“. Wilm hatte für diesen „Tätigkeitsbericht“ (der eigentlich keiner war, sondern eine theologische Zeitansage) viele Theologen in Westfalen nach ihrer Haltung zur Volkskirche befragt. Warum das überhaupt ein besonderes westfälisches Thema sei, darauf ging er explizit ein: „Unter den Merkmalen der Volkskirche, wie sie sich bei uns vorfindet, sind zu nennen: ihre regionale Struktur, über die auch ihr Name ‚Evangelische Kirche von Westfalen‘ aussagt“. Er hatte aufmerksam wahrgenommen, dass in Westfalen die Volkskirche nicht unumstritten war: „Die junge Generation und vor allem die junge Theologengeneration fragt sehr dringend, ob die Form der Volkskirche, wie wir sie haben, nicht überholt und rückständig, wenn nicht gar unwahrhaftig und darum nicht mehr verantwortbar ist.“ Manch andere Kritik an der Volkskirche gab er ebenfalls wieder – aber auch viele Wortmeldungen, die ihre Vorteile betonten. Und deshalb kam Wilm zu dem Fazit: „Die volkskirchliche Form ist der Gemeinde von Schrift und Bekenntnis her nicht als die einzig mögliche Form der Kirche geboten. Sie ist ihr aber auch nicht verboten.“ Anders als Otto Weber war die Öffentlichkeitskirche für Ernst Wilm nicht die entscheidende Deutungskategorie eines recht verstandenen Volkskirchenbegriffs – und auch das Konzept der „versammelten Gemeinde“ überzeugte ihn nicht völlig. Er betonte, „daß wir immer beides zugleich sind: versammelte Gemeinde und ausgesandte Boten. Ja, man muß es noch radikaler sagen: Wir, d.h. diese gegenwärtige Volkskirche, sind sogar ‚Kirche‘ und ‚Welt‘ zugleich. Wir sind nicht nur in der Welt, sondern die Welt ist auch in uns.“ In dieser Spannung sah sich Wilm, der die Volkskirche bejahte und gleichzeitig fragte: „‘Volkskirche ja! – aber wie?`“

„Aber wie?“ Eine Frage, der wir uns auch heute stellen müssen, wenn wir die Spannung nicht nach einer Seite auflösen wollen. Und in dieser Tagung wollen wir uns ihr stellen.

Zahlreiche Referentinnen und Referenten beleuchteten die historische Dimension der Volkskirche des zurückliegenden Jahrhunderts aus unterschiedlichen Blickwinkeln; das Programm der Tagung findet sich hier. Von den theologischen, juristischen und politischen Grundlagen einer Volkskirche, ihrer Etablierung als Körperschaft des öffentlichen Rechts in der Weimarer Reichsverfassung, reichte die Betrachtung über deren Entwicklung in der Zeit des Nationalsozialismus und in beiden deutschen Staaten nach 1949 bis hin zum Ausblick auf die volkskirchliche Zukunft.

Der Jurist Prof. Dr. Hinnerk Wißmann (Münster) eröffnete die Tagung mit einem Blick auf „die Volkskirche als Resonanzraum des Religionsverfassungsrechts“. Er nahm die staatskirchlichen Elemente der Volkskirche ernst und warnte vor einem Rückzug der Kirche aus der Fläche. Dagegen hielt der Theologe Prof. Dr. Traugott Jähnichen (Bochum) die Diskussion über alternative Modelle für dringend angebracht. Der Begriff „Volkskirche“ sei obsolet geworden. Merkmale und Aufgaben der historischen „Volkskirche“ müssten zum Teil aufgegeben (Homogenität des Volkes), reduziert (Universalitätsansprüche der räumlichen und sozialen Präsenz sowie der Sonderstellung in der Öffentlichkeit) oder neu strukturiert werden.

In einer Podiumsdiskussion fragten Kirchenpräsident Joachim Liebig (Anhalt), der Bischöfliche Generalvikar Klaus Pfeffer (Essen) und der westfälische Vizepräsident i.R. Albert Henz nach ‚Konfessionellen Prägungen – gemeinsamen Perspektiven?‘ Diese vom zeitzeichen-Chefredakteur Reinhard Mawick moderierte Podiumsdiskussion bildete auch die Grundlage für einen Bericht von Wolfram Scharenberg über die Tagung, der mit dem Titel „Modell Volkskirche – ein Auslaufmodell?“ überschrieben war.


[1] Kristian Fechtner, Späte Zeit der Volkskirche. Praktisch-theologische Erkundungen, Stuttgart 2010, 13-15.
[2] Ian Hacking, Vom Gedächtnis der Begriffe, in: Joachim Schulte / Uwe Justus Wenzel (Hg.), Was ist ein philosophisches Problem?, Frankfurt a. M. 2001, 72-86, Zitat 85.
[3] Thomas Martin Schneider, Kirchliche Zeitgeschichte – evangelisch. Entwicklung, Probleme, Aufgaben, in: ThLZ 147 (2022), Heft 1/2, Sp. 1-26, Zitat 18.
[4] Otto Weber, Versammelte Gemeinde. Beiträge zum Gespräch über Kirche und Gottesdienst. M.E. Einführung von Jürgen Moltmann, [1. Aufl. 1949), Neukirchen-Vluyn 2. Aufl. 1975, 137. Die folgenden Zitate a.a.O., 156. 156f.
[5] „Die Kirche baut sich nicht aus der Welt, aus dem Menschen, aus dem Volke auf. Aber sie ist der Leib dessen, der sich mit dem Menschen solidarisch gemacht, der unser Fleisch – endgültig – angenommen hat, und darum (und insofern) ist sie gewiesen, sich ihrerseits mit dem Menschen solidarisch zu machen! […] Indem die Kirche dies tut – in ihrem Wort wie in ihrer umfassenden diakonia – ist sie in einem neuen, echten Sinn ‚Volkskirche‘: Kirche Gottes für das Volk, für die Völker, für die Welt.“ (a.a.O, 157f.)
[6] „Erst in der versammelten Gemeinde wird aus der ‚Kirche für das Volk‘ die Kirche des Volkes, und das Volk Gottes wird zum handlungsfähigen Subjekt seiner eigenen Geschichte in der Geschichte Gottes.“ (Jürgen Moltmann, Einführung, in a.a.O., S. 7-10, Zitat 9).
[7] [Ernst] Wilm, Volkskirche – Last und Verheißung. Tätigkeitsbericht auf der Tagung der westfälischen Landessynode im Oktober 1960, Bielefeld o. J. [1960]. Die folgenden Zitate a.a.O., 9f. 4f. 30. 76. 68.

Kategorien
Kirchliches Wissenschaftliches

Aktuelle Abendmahlsfragen aus evangelischer Sicht

Vortrag bei der AG Abendmahl der Liturgischen Konferenz, 22.03.2022

0. Einleitung

„Das Sakrament des Heiligen Abendmahls nimmt einen außerordentlichen Stellenwert im evangelischen Gottesdienst ein.“ So heißt es in den 2020 verabschiedeten Abendmahlsrichtlinien der Evangelischen Kirche von Westfalen. Und weil das nicht nur in Westfalen so ist, ist es gut, wenn wir uns in der Liturgischen Konferenz in einem Ausschuss dazu verständigen, was das denn nun heißt. Und zwar in der für die LK typischen Art des Dialogs zwischen Professor:innen, Gemeindepfarrer:innen und landeskirchlichen Verwaltungstheolog:innen wie mir. Ich bin also weder in der Position, so intensiv über die Grundlagen des Abendmahls nachdenken zu können wie die universitären Vertreter:innen, noch in der Position, es so regelmäßig vorzubereiten und zu feiern wie die Pfarrer:innen aus den Kirchengemeinden.

So bringe ich nun „aktuelle Abendmahlstfragen aus evangelischer Sicht“ in den ökumenischen Dialog ein. Kundige werden erkennen, dass manche Bezugspunkte zu dem großartigen ökumenischen Text „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ bestehen, auch wenn ich die nicht explizit markiert habe.

Genug der Vorrede. Was sind aus der Sicht eines evangelischen Theologen im Landeskirchenamt in Bielefeld die aktuellen Abendmahlsfragen? Da gibt es durchaus einige wichtige Fragen:

  1. Wer teilt das Abendmahl aus oder verwaltet es?
  2. Wer nimmt das Abendmahl zu sich oder ist dazu zugelassen?
  3. Was oder welche Elemente werden beim Abendmahl ausgeteilt und zu sich genommen?
  4. Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf den Gemeinschaftskelch?
  5. Gibt es ein digitales Abendmahl?
  6. Das Wichtigste zum Schluss

1.
Wer teilt das Abendmahl aus oder verwaltet es?

Die Frage ist noch relativ leicht zu beantworten. Zur Verwaltung des Abendmahls muss man rite vocatus sein, um mit CA XIV zu sprechen. In Westfalen und den anderen EKD-Gliedkirchen gibt es zwei Gruppen von Menschen, die solch eine ordnungsmäße Berufung haben: Die Pfarrerinnen und Pfarrer, die ordiniert werden. In Vorbereitung auf die Ordination auch die Vikarinnen und Vikare. Sowie die Prädikanten und Prädikantinnen, die in Westfalen zur Sakramentsverwaltung beauftragt werden. Die Älteren von uns erinnern sich an die Debatten über das VELKD-Papier „Ordnungsgemäß berufen“ in den Nuller Jahren. Diese Debatte ist nach meinem Eindruck abgeflaut und aus der Herrenhäuser Straße höre ich Signale, dass sich EKD, UEK und VELKD auf eine Einigung zubewegen. Mehr als die Frage „Sollen Prädikanten ordiniert oder beauftragt werden?“ stellt sich derzeit die Frage „Wie können wir gewährleisten, dass Prädikanten nicht nur ordnungsgemäß berufen, sondern auch ordentlich ausgebildet werden? Denn sie werden die kirchliche Verkündigung in den nächsten Jahren schon rein quantiativ mehr und mehr prägen: Derzeit gibt es in Westfalen 1490 ordinierte Pfarrer:innen und 715 beauftragte Prädikant:innen. Die erste Gruppe wird immer kleiner, die zweite immer größer.

2.
Wer nimmt das Abendmahl zu sich oder ist dazu zugelassen bzw. eingeladen?

Die Frage ist schon etwas komplexer. In Westfalen lautete der entsprechende Kirchenordnungsartikel (185) bis zum Jahr 2019: „1 ) Die Zulassung zum Abendmahl kann denen erteilt werden, die über das Sakrament hinreichend unterrichtet worden sind und vor der Gemeinde oder in einer entsprechenden Feier ein Bekenntnis des Glaubens abgelegt haben. ( 2 ) Auf Beschluss des Presbyteriums können getaufte Kinder nach angemessener Vorbereitung vor der Konfirmation in dieser Kirchengemeinde am Abendmahl teilnehmen.“

Dazu ein kleiner Exkurs: Die westfälische Kirchenordnung ist 1953 verabschiedet worden. In ihr spiegeln sich Erfahrungen des Kirchenkampfes. Ich versuche das mal bildlich auszudrücken: Wir hier in der Kirche sitzen in einem Raum und verwalten das uns offenbarte Heilige. Und draußen vor der Tür stehen ganz viele Menschen, wollen rein und irgendwas mit dem Heiligen machen. Es im schlimmsten Fall missbrauchen. Die braunen Horden und die Deutschen Christen zum Beispiel. Also müssen wir einen Türhüter installieren, der kontrolliert, wer rein darf und wer nicht. Das ist die Konfirmation. Denn wer von uns unterrichtet wurde, wer von uns geprüft wurde und wer in einer öffentlichen Feier sein unterrichtetes und geprüftes Glaubensbekenntnis abgelegt hat, der darf rein. Wer konfirmiert ist, hat die Zulassung zum Abendmahl. Wer zum Abendmahl zugelassen ist, hat hier drinnen die kirchlichen Rechte.

Nun sind wir heute in einer anderen Situation als im Kirchenkampf. Vor der Tür stehen gar keine Massen mehr, die unkontrolliert reinwollen. Wenn wir die Kirchentür missionarisch aufmachen, stellen wir fest: Da steht ja gar keiner mehr. Im Gegenteil: Ständig gehen Menschen durch diese Tür hinaus – im letzten Jahr in Westfalen ein Minus von 2,3%. Unser Konfirmandenunterricht heißt schon seit einiger Zeit Konfirmandenarbeit, wird zumeist nicht durch eine Prüfung, sondern durch einen Vorstellungsgottesdienst abgeschlossen und versteht sich weniger als Wissensvermittlung, sondern im Sinne einer kirchlichen Begleitung von Jugendlichen in einer bestimmten Lebensphase. Das hat auch Auswirkungen auf die „Zulassung“ zum Abendmahl. Die Konfirmation ist kein Türhüter für das kirchliche Leben mehr. Nach einem längeren Diskussionsprozess ist sie heute in Westfalen nicht mehr als Zulassungsbedingung zum Abendmahl vorgeschrieben. So heißt es seit 2020 in der westfälischen Kirchenordnung: „Alle Getauften sind zum Abendmahl eingeladen.“ (Art. 185). Damit ist eine lange Debatte zum Abschluss gekommen, die unsere Landessynode spätestens seit Anfang der 1980er Jahre beschäftigt hat: Sind getaufte Kinder zum Abendmahl eingeladen oder nicht? Zwischendurch gab es die typisch westfälische Kompromisslösung, dass das die Entscheidung der Presbyterien vor Ort für ihre je eigene Gemeinde ist. Jetzt gilt es generell in allen Gemeinden. Und nun ist es laut der dazugehörigen Abendmahlsrichtlinien Aufgabe des Presbyteriums, „das Abendmahl so zu gestalten, dass Kinder gut und gerne daran teilnehmen können. Das Abendmahl, an dem Kinder teilnehmen, ist das eine Abendmahl der Gemeinde. Den Kindern soll ein ihrem Alter angemessenes Verständnis des Heiligen Abendmahls ermöglicht werden.“

Im Zusammenhang der Debatte über die Einladung von getauften Kindern zum Abendmahl kam auch die Frage wieder auf, wie es mit der Teilnahme von ungetauften Kindern, ja mit ungetauften Menschen überhaupt sei. Und wie mit der Teilnahme von aus der Kirche ausgetretenen Menschen zu verfahren sei. Keine neue Frage übrigens: Bereits 1994 hatte die Vollversammlung der Leuenberger Kirchengemeinschaft das Problem so beschrieben: „Entsprechend der Ordnung unserer Kirchen ist die Taufe die Voraussetzung für die Teilnahme am Abendmahl … Aufgrund der Urbanisierung und Säkularisierung sowie eines weitgehenden Wegfalls der Anmeldung zum Abendmahl stellen sich jedoch heute zwei Probleme. Zum einen ist nicht mehr überschaubar, wer von den Teilnehmern am Abendmahl getauft ist. Für diesen Fall bieten sich folgende Möglichkeiten an: Die Wiedereinführung der Anmeldepraxis oder ein Hinweis bei der Einladung zum Abendmahl auf die Voraussetzung der Taufe und der Kirchenmitgliedschaft, der dann den Gang zum Abendmahl in die Verantwortung des einzelnen stellt. Diese zweite Möglichkeit erscheint als die angemessenere. Zum anderen erwächst bei Menschen, die neu den Zugang zur Kirche suchen, der Wunsch, auch ohne vorhergehende Taufe am Abendmahl teilnehmen zu können. In diesem Fall gehen wir grundsätzlich davon aus, dass die Aufnahme in die Gemeinde Jesu Christi durch die Taufe den Zugang zum Tisch des Herrn eröffnet. Dennoch sollte der Wunsch nicht einfach zurückgewiesen werden. In besonderen Fällen und Situationen ist eine Entscheidung in pastoraler Verantwortung zu treffen.“

Das ist ja die klassische evangelische Variante: Wir haben eine Regel. Aber keine Regel ohne Ausnahme. Und welche Ausnahmen es gibt, legen wir nicht fest, sondern überlassen es der pastoralen Kompetenz der Pfarrer:in vor Ort.

Wie auch immer: Das Thema stellt sich in den letzten Jahren in erhöhter Dringlichkeit. Mehr und mehr evangelische Eltern lassen ihre Kinder nicht taufen, sondern sagen „die sollen das später mal selbst entscheiden“. Und so nehmen mehr und mehr ungetaufte Kinder an unseren Kindergottesdiensten und am Konfirmandenunterricht teil. Gleichzeitig gibt es immer wieder getaufte Menschen, die sich nach ihrem Kirchenaustritt wieder der Kirche annähern und ohne wieder eingetreten zu sein, am Abendmahl teilnehmen wollen.

Und es gibt Menschen wie Agim Ibishi. Der ist Muslim und seine Familie stammt aus Bosnien. Er selbst ist in Bünde bei Herford geboren und aufgewachsen. Hier hat er in der Berufsschule am Religionsunterricht teilgenommen, den der evangelische Berufsschul- und Diakoniepfarrer gehalten hat. Nach einem Studium an der Fachhochschule für Diakonie in Bethel tauchte er bei diesem Pfarrer als fertiger Sozialarbeiter wieder auf. Und arbeitet nun als Suchtberater für die Diakonie im Kirchenkreis Herford. Er ist höchst interessiert an religiösen Fragen, auch über seine eigene Religion hinaus. Eine Großmutter in Bosnien war katholisch, eine weitere enge Verwandte orthodox. Und so näherte er sich auch der evangelischen Kirche, ohne ihr zwingend auf formale Weise angehören zu wollen. War bei kirchlich-diakonischen Veranstaltungen dabei, auch bei Gottesdiensten. Zum Beispiel als der Kirchenkreis Herford 2019 Vorbereitungen für das abschließende Abendmahl beim Kirchentag in Dortmund traf. Agim Ibishi fuhr mit nach Dortmund. Und als es dann zum Abendmahl kam, stellte sich die Frage: „Was hindert’s, dass ich am Abendmahl teilnehme? Ich gehöre doch dazu.“

Kundige Menschen sehen hinter diesem Beispiel (das es wirklich gibt!) die ganze Debatte um believing before belonging oder belonging before believing.

Wir in Westfalen haben uns so entschieden:
Das Abendmahl ist und bleibt das Mahl der christlichen Gemeinde, für alle, die durch ihre Taufe in den Leib Christi, in die Gemeinschaft der Christenheit, aufgenommen sind. Eine Teilnahme von Ungetauften kann dennoch möglich sein, wenn sie als nicht ausgesprochenes Taufbegehren und Teilhabenwollen gedeutet wird. Dieses Zeichen soll durch die Pfarrerin/den Pfarrer wahrgenommen und – am besten außerhalb des gottesdienstlichen Rahmens – in eine klärende wie einladende Begleitung überführt werden. So wird in Westfalen auch (noch) ungetauften Menschen die Möglichkeit geschaffen, am Abendmahl teilzunehmen. In unseren Abendmahlsrichtlinien heißt es: „Im Heiligen Abendmahl wird die Gemeinschaft mit Jesus Christus und untereinander gefeiert, die in der Taufe ihre Bestätigung findet. Alle Getauften sind zum Abendmahl eingeladen. Taufe und Abendmahl stehen in einer engen Verbindung. Diese Verbindung ist nicht exklusiv. Wer sich durch Jesus Christus eingeladen weiß und auf dem Weg zur Taufe ist, kann am Abendmahl teilnehmen.“

Dabei steht der folgende Gedankengang im Hintergrund: Die Verkündigung als Ruf zum Glauben schließt die Einladung zur Taufe ein, weshalb Ungetaufte, indem sie die Einladung zum Abendmahl für sich annehmen und daran im Einzelfall teilnehmen, zugleich ihren Willen bekunden, sich taufen zu lassen.

Was die ausnahmsweise Möglichkeit von Ausgetretenen am Abendmahl angeht, so kann auf Überlegungen der EKD verwiesen werden, deren Kammer für Theologie 2003 festgestellt hatte: „Das Ziel der Taufe ist nach kirchlicher Lehre ein Dreifaches: Die Verherrlichung des dreieinigen Gottes, Leben und Seligkeit der Getauften und der Aufbau der Kirche. […] Aller Dienst der Kirche an den aus ihr Ausgetretenen muss dieses Ziel vor Augen haben. Dabei kann dieser Dienst daran anknüpfen, dass, trotz der Distanzierung von der Kirche oder des mit dem Kirchenaustritt gegebenen Bruchs, durch die Taufe dennoch eine Verbindung der Kirche mit dem Getauften bestehen bleibt.

An diese Verbindung kann bei der Abendmahlsteilnahme eines aus der Kirche ausgetretenen Getauften – auch missionarisch – angeknüpft werden. Eine kirchliche Kontrolle, wer sich wie weit auf dem Weg zur Taufe befindet, kann offensichtlich nicht erfolgen.

Wir sind in Westfalen dabei nicht allein. In den Bestimmungen der Nordkirche zum Abendmahl heißt es: „Nach dem Verständnis der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland ist die Taufe Voraussetzung für die Teilnahme am Abendmahl. Weil aber auch beim Abendmahl das Handeln des dreieinigen Gottes an erster Stelle steht, wird niemand, die bzw. der den ernsthaften Wunsch nach Teilnahme am Abendmahl äußert, abgewiesen.“ Und in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau heißt es in der Lebensordnung: „Die Einladung zum Abendmahl im Gottesdienst soll deutlich machen, dass alle, die sich von Christus eingeladen wissen und die Einladung in die christliche Gemeinde annehmen wollen, am Tisch des Herrn willkommen sind.“ Sie erinnern sich, zu welchen ökumenischen Kontroversen dies mit Rom im Vorfeld des Ökumenischen Kirchentags in Frankfurt 2021 geführt hat.

In der EKD-Orientierungshilfe zu Theologie und Praxis des Abendmahls von 2003 hieß es: „Eine grundsätzliche Öffnung des Abendmahls für Ungetaufte und eine undifferenzierte Einladung an alle entspricht jedenfalls nicht dem evangelischen Abendmahlsverständnis.“ Wir sind mittendrin in der Debatte, was denn eine „differenzierte“ Öffnung des Abendmahls für Ungetaufte heißen kann. Der systematische Theologe Philipp Stoellger hat im Theologischen Ausschuss der UEK in einer Diskussion zu diesem Thema davon gesprochen, dass die Zulassung Ungetaufter zum Abendmahl eine Irrlehre sei. Aber eine „kirchenerbauende Irrlehre“.

3.
Was oder welche Elemente werden beim Abendmahl ausgeteilt und zu sich genommen?

Auch diese Frage hat uns in Westfalen lange beschäftigt, in der Landessynode nachweisbar seit 1973.

Dabei ging es weniger um die Frage, welche Art von Brot für die Präsenz des Leibes Christi steht. Ob – wie in der Badischen Unionsurkunde von 1821 – zehn Zentimeter langes, geschnittenes Weißbrot, ob die klassischen Oblaten, Vollkorn- oder Weißbrot, glutenfrei oder nicht – der Möglichkeiten sind ja viele. Aber sie lassen sich alle unter dem Oberbegriff „Brot“ subsumieren.

Wir haben darüber diskutiert, welche Art vom „Gewächs des Weinstocks“ für die Präsenz des Blutes Christi steht. Nur Wein? Oder auch Traubensaft? Und wenn auch Traubensaft, dann nur als Ausnahme oder auch als Regelfall? Und man glaubt ja kaum, wieviel Energie die Debatte pro und contra Alkohol beim Abendmahl erzeugen kann.

Dabei wurde uns deutlich: Das heute gottesdienstlich gefeierte Abendmahl bezieht sich in einer relativ freien Form auf die neutestamentlichen Quellen. In der Kirchengeschichte wurden manche neutestamentlichen Elemente stark in den Vordergrund gerückt, andere zurückgedrängt oder sogar verdrängt: Der Zeitpunkt hat sich vom Abend auf den Morgen verschoben; der Mahlumfang und der Sättigungsaspekt sind zurückgetreten; der Gemeinschaftsaspekt wurde zum Teil reduziert; als Ort hat die Kirche das Haus ersetzt. Verstärkt hat die kirchliche Tradition die Bedeutung der Deuteworte und der Gebete. Äußere Umstände und neue Herausforderungen haben massiv auf die Entwicklung der Abendmahlsformen eingewirkt. Die Kirchen haben sich schon sehr früh eine gewisse Freiheit zur Weiter-, Um- und Rück-Gestaltung genommen.

Zu den heutigen Entwicklungen, auf die die Feier des Abendmahls reagieren muss, gehört nicht nur eine veränderte Bedeutung des Alkoholkonsums, sondern auch eine veränderte Sicht auf das Kind und die Familie in unserer Gesellschaft. Die westfälische Landessynode hat deshalb 2019 beschlossen, den Art. 184 der Kirchenordnung zu ändern: „Das Heilige Abendmahl wird nach der Einsetzung Jesu Christi gefeiert. Dabei werden die Einsetzungsworte gesprochen und Brot und Kelch gereicht.“ (vorher hieß es: Brot und Wein ausgeteilt). Durch die Änderung in beim Abendmahl nunmehr sowohl Wein als auch Saft gleichwertig zugelassen. Gemeinden können entweder nur mit Wein, mit Wein und Traubensaft, oder nur mit Traubensaft das Abendmahl feiern. Diese Vielfalt entspricht auch der Praxis in vielen westfälischen Kirchengemeinden. Die Landessynode der EKvW feiert das Abendmahl in der Zionskirche der von Bodelschwingschen Stiftungen Bethel regelmäßig nur mit Traubensaft. Für den Saft sprechen die größere Inklusivität — im Blick auf Kinder, im Blick auf Menschen mit Alkoholismus, in diakonischen Einrichtungen oder im Krankenhaus, wo oft aus medizinischen Gründen kein Alkohol beim Abendmahl gereicht wird. Für den Wein sprechen dessen traditionelle Bedeutung „als festliches Zeichen in Christus gewährter Lebens-Freude, Lebens-Fülle und Lebens-Hoffnung“ (Karl-Heinz Bieritz) sowie seine größere ökumenische Anschlussfähigkeit gerade im Hinblick auf die römisch-katholische Kirche, die den Gebrauch von Wein als Regelfall vorschreibt. In den meisten Freikirchen in Deutschland wird dagegen seit vielen Jahren fast nur noch Traubensaft beim Abendmahl verwendet.

Die oft behauptete „Stiftungsgemäßheit“ des Weins wurde intensiv bedacht. Wein wird in den Abendmahlstexten des Neuen Testaments als Inhalt des Kelchs bei Jesu‘ letztem Abendmahl nicht genannt, auch wenn Jesu und seine Jünger dabei Wein getrunken haben werden. Explizit spricht Jesus vom „trinken vom Gewächs des Weinstocks“ (Lk 22,18). Eine Konservierung des Safts „vom Gewächs des Weinstocks“ als Traubensaft ist vor 2000 Jahren nicht möglich gewesen. Insofern kann heute — wo die technischen Möglichkeiten zur Konservierung als Traubensaft gegeben sind — eine andere Praxis des „trinken vom Gewächs des Weinstocks“ auch als möglich anerkannt werden. Dass dies im Laufe der Geschichte in der weltweiten Kirche immer wieder praktiziert wurde (um von ganz anderen Getränken beim Abendmahl noch zu schweigen), hat der Anselm Schubert in seiner „kulinarischen Geschichte des Abendmahls“ mit dem prägnanten Titel „Gott essen“ deutlich gemacht.

4.
Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf den Gemeinschaftskelch?

Die westfälischen Abendmahlsrichtlinien wurden im Juni 2020 veröffentlicht. Ihr Text war aber schon Anfang des Jahres 2020 erstellt worden. In ihm hieß es: „Die Regelform der Austeilung von Wein oder Traubensaft ist der Gemeinschaftskelch. In ihm kommt die gemeinschaftsschenkende Kraft des Abendmahls sinnfällig zum Ausdruck. Andere Formen der Darreichung, z. B. die Intinctio oder Einzelkelche, sind möglich.

Traditionell wurde beim Abendmahl der Gemeinschaftskelch bevorzugt, weil dadurch die Gemeinschaft im Abendmahl am sinnenfälligsten zum Ausdruck kam. Durch die Corona-Pandemie seit März 2020 hat sich die Situation massiv geändert. Ich nehme derzeit flächendeckend große Zurückhaltung beim gemeinsamen Trinken aus dem Gemeinschaftskelch wahr. Und ich sehe nicht, dass sich das mittelfristig ändern wird.

In hygienisch sensiblen Zeiten wie derzeit kann die Gemeinschaft auch dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass der Wein oder Traubensaft aus einem gemeinschaftlichen Gießkelch in Einzelkelche gegossen wird, aus denen dann getrunken wird. Ein westfälischer Pfarrer entdeckte im Sommerurlaub in Dänemark solche Gießkelche, bei denen einem alten silbernen Kelch offensichtlich schon vor längerer Zeit eine Gießtülle hinzugefügt wurde. Auf seine Frage, warum und wann man denn das gemacht habe, bekam er zu Antwort: Das ist bei uns seit 100 Jahren so, seit der großen Spanischen Grippe.

Zur zeitweise beliebten Intinctio (also dem Eintauchen von Brot oder Oblate in den Kelch) haben die Liturgischen Ausschüsse von UEK und VELKD zu Recht angemerkt, „dass von der gängigen Praxis der Intinctio dringend abzuraten ist. Auch wenn viele Menschen hier ein besseres Gefühl haben, ist das Eintauchen der Hostien durch mehrere Personen während der Feier eine hygienisch fragwürdige Praxis: Das Halten der Oblate in der Hand kann Krankheitserreger auf die Oblate übertragen, die von dort auf die Oberfläche der Flüssigkeit im Kelch gelangen und von hier aus den Weg zum nächsten Kommunikanten finden.“

Insofern sehe ich derzeit den Einzelkelch als Regelform der Abendmahlsfeier (in manchen Fällen auch in Verbindung mit einem Gießkelch). In manchen Kirchengemeinden heißt das Arbeit für die örtliche Töpferei oder den Silberschmied in der Nachbarschaft.

Beim Brot ist es etwas einfacher, hygienische Standards zu wahren, aber auch hier ist oft liturgische Fantasie erforderlich.

5.
Gibt es ein digitales Abendmahl?

Die Corona-Pandemie hat noch eine weitere Auswirkung auf das Abendmahl gehabt. Kurz vor Ostern 2020 wurde ein deutschlandweiter Lockdown ausgesprochen, in einigen Bundesländern wurden Gottesdienste explizit verboten, in anderen Bundesländern – zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen – verzichteten die Kirchen auf Bitten des Staates darauf, Präsenzgottesdienste durchzuführen. Das digitale Streamen von Gottesdiensten blieb aber möglich. Manche Gemeinden waren gut darauf vorbereitet, andere gingen die Aufgabe spontan mit viel Engagement an. Schnell kam die Frage auf: Was ist mit dem Abendmahl? Am Gründonnerstag? Am Ostersonntag? Geht das auch digital?

In einigen Landeskirchen wurde explizit von der online-Feier des Abendmahls abgeraten, andere ermunterten explizit dazu. In Westfalen gab es keine kirchenleitende Vorgabe. Ich selbst habe damals gedacht, dass ein zweiwöchiges Abendmahlsfasten zumutbar wäre. [Schließlich ist nach evangelischem Verständnis ein Wortgottesdienst theologisch genauso viel wert wie ein Abendmahlsgottesdienst. Und vielleicht wäre nach einer Fastenzeit das Abendmahl den Christinnen und Christen um so wertvoller geworden.] Nun dauert die Fastenzeit nicht nur zwei Wochen, sondern zwei Jahre. Es geht nicht mehr um die Frage, was in der Notsituation erlaubt, möglich oder sinnvoll ist bzw. was nicht erlaubt, möglich oder sinnvoll ist, sondern um die grundsätzliche Frage: Wenn digitale Gottesdienste zum regulären Gottesdienstangebot gehören, gilt das auch für das digitale Abendmahl?

[Im Frühjahr 2020 gab es schnell eine intensive Debatte, ob das überhaupt möglich ist, so ein digitales Abendmahl. Interessanterweise wurde die Auseinandersetzung oft so geführt, als seien die theologischen Fragen völlig neu.
Dabei gab es schon vorher Überlegungen, auf die man hätte zurückgreifen können. Der alte Streit zwischen den griechischen Philosophen Platon und Aristoteles, in welchem Verhältnis Bilder und Wirklichkeit zueinander stehen. Die Auseinandersetzung der Reformatoren Luther und Zwingli darüber, wie denn nun die Präsenz von Leib und Blut Christi in den Elementen Brot und Wein beim Abendmahl zu denken sei. Aber auch jüngere Überlegungen zu der Frage, was die Digitalisierung mit der Gesellschaft macht. Auch in der Kirche gab es Menschen, die seit den 1990er Jahren dazu vorgedacht hatten. Aber die Debatten darüber blieben zumeist im Raum der Spezialisten. Das ist nun anders: Die Frage berührt weite Kreise der Kirche. Und es gibt noch keinen Konsens, wie die Antwort darauf lautet.]

Ich gehöre zu denen, die ein digitales Abendmahl für möglich halten. Und zwar nicht nur, weil es praktiziert wurde, sondern auch, weil es theologisch denkbar ist. [Dazu sind m.E. folgende Fragen zu klären: – Gibt es im digitalen Raum Gemeinschaft? Ich meine ja. – Müssen Elemente physisch vorhanden sein oder ist ein vollständiges Avatar-Abendmahl im Internet möglich? Ich meine ersteres. – Muss eine physische Ko-Präsenz der Feiernden mit den Elementen gegeben sein? Ich meine nein. – Muss eine Gleichzeitigkeit der Feiernden gegeben sein oder lässt sich ein online-Abendmahl auch zeitlich nachfeiern? Darüber sollten wir uns unterhalten, gerne auch kontrovers. – Und wer die Geschichte der evangelischen Theologie und Kirche anschaut, merkt, dass der Streit über das digitale Abendmahl gut evangelisch ist: Vielleicht ist über kein Thema in der evangelischen Kirche so viel theologisch gestritten worden wie über das Abendmahl – von der Trennung zwischen Luther und Zwingli 1529 in Marburg bis zur heutigen Sitzung unserer Arbeitsgruppe.]

6.
Das Wichtigste zum Schluss: Was tun gegen die „eucharistische Appetitlosigkeit“?

Seit dem Beginn der Pandemie scheint das Abendmahl generell an Bedeutung verloren zu haben. In den Zeiten ohne Präsenzgottesdienste und in denen mit einschränkenden Regeln (Maske, Abstand, Testung, Impfung) gab es viele Fragen an den westfälischen Coronastab nach dem Singen und wie es trotzdem möglich sein könnte. Viele Fragen nach Kirchencafé, nach Jugendarbeit, nach dem Wasserübergießen bei der Taufe. Aber nur wenige Fragen nach dem Abendmahl und wie es trotzdem möglich sein könnte. Beobachter haben eine „eucharistische Appetitlosigkeit“ diagnostiziert. Die zentrale Frage scheint mir derzeit nicht zu sein, ob welche Formen des Abendmahls sinnvoll oder erlaubt sein können. Sondern wie die Christ:innen in unseren Gemeinden überhaupt wieder Appetit auf das Abendmahl bekommen. Und dadurch entdecken, was an Gemeinschaft, was an Segen, was an Heil im Abendmahl liegen kann. Dazu kann es unterschiedliche Formen geben.

Was mir wichtig ist: Dass wir wissen, was wir tun. Und dass wir das, was wir tun, würdig tun. Was würdige Formen des Abendmahls in der Gegenwart sind, das lohnt sich immer wieder zu erproben.

Kategorien
Wissenschaftliches

Kirchliche Zeitgeschichte _evangelisch

Eine Rezension.

Siegfried Hermle / Harry Oelke (Hg.), Kirchliche Zeitgeschichte _evangelisch.
Bd. 1: Protestantismus und Weimarer Republik (1918-1932) (CuZ 5), Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2019.
Bd 2.: Protestantismus und Nationalsozialismus (1933-1945) (CuZ 7), Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2020.
Bd. 3: Protestantismus in der Nachkriegszeit (1945-1961) (CuZ 9), Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2021.

Kirchliche Zeitgeschichte hat sich spätestens seit den 1990er Jahren unter diesem Begriff als zentrale Epoche der Kirchengeschichtsforschung etabliert. Sie bezeichnet die bis in unsere Gegenwart reichende Geschichtsperiode, für die es noch lebende Zeitzeug:innen gibt. Deshalb ist ihre Kenntnis vielfach besonders erhellend für die Gegenwart der Kirche.

Die von der Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte herausgegebenen drei Bände zur „Kirchlichen Zeitgeschichte_evangelisch“ bündeln handbuchartig die vorliegenden vielfältigen Einzelstudien. Sie beginnen mit der evangelischen Kirche in der Weimarer Republik, behandeln „die äußerst ambivalente Haltung des Protestantismus in der Zeit der NS-Herrschaft“ und die Kirchengeschichte der Nachkriegszeit bis 1961.  Ein vierter Band bis zum Jahr 1991 soll die Darstellung abrunden, dann auch hoffentlich mit einem ausführlicheren Blick über die Bundesrepublik hinaus auf die Kirchliche Zeitgeschichte in der DDR. Die Konzentration auf die evangelische Kirche wird im Titel vorgegeben, die Beschränkung auf die evangelischen Kirchen in Deutschland wird nur in den jeweiligen Kapiteln zu den ökumenischen Beziehungen durchbrochen.

Wer sich über die Geschichte der Kirche(n) im 20. Jahrhundert informieren, wer gut lesbare und fachlich fundierte Beiträge lesen, wer schnell bestimmte Themen in kompetenter Darstellung nachschlagen will – der wird hier fündig.

17 durchweg im Fachgebiet ausgewiesene Autor:innen behandeln die wichtigsten Themen der jeweiligen Zeit. An einzelnen Punkten werden persönliche Schwerpunkte gesetzt, insgesamt aber dominiert das Bestreben, den erzielten Forschungsstand möglichst objektiv wiederzugeben. Das Leitinteresse ist dabei die gesellschaftliche Vernetzung des Protestantismus. Zumeist wird diese Vernetzung eher institutionengeschichtlich als biographisch aufgezeigt, eher kirchenpolitisch als theologiegeschichtlich.

Für die „Gesamtschau“, also den einleitenden Überblicksartikel, zeichnet in allen drei Bänden der Münchener Kirchenhistoriker Harry Oelke in souveräner Weise verantwortlich. Lesenswert sind die Beiträge zu „Protestantismus und Politik“ von Claudia Lepp (der Leiterin der Forschungsstelle der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte) und zu „Kirchlicher Ordnung und Strukturen“ von Karl-Heinz Fix (Mitarbeiter an der Forschungsstelle). Fix zeigt auf, wie die scheinbar trockene Materie des rechtlich-organisatorischen Rahmens für das Verständnis der Kirche in Zeitgeschichte und Gegenwart fruchtbar gemacht werden kann. Die theologischen Signaturen der jeweiligen Phasen werden von unterschiedlichen Autoren nachgezeichnet: für die Weimarer Republik ist dies der Münchener Systematische Theologe Reiner Anselm, für die Zeit des Nationalsozialismus Alf Christophersen (Universität Wuppertal) und für die Nachkriegszeit der Münsteraner Professor für Theologische Ethik Arnulf von Scheliha.

Weitere westfälische Autor:innen komplettieren das Bild: Antje Roggenkamp, Praktische Theologin und Religionspädagogin (Münster), verschafft einen Überblick zum Bereich „Bildung“ in der Weimarer Republik und der Nachkriegszeit. Der ursprünglich westfälische Kirchen- und Religionsgeschichtler Andreas Müller (Kiel) schreibt kundig über die ökumenischen Aspekte des Protestantismus in den Jahren 1933-45.

Für die Geschichte der Diakonie ist Nobert Friedrich (Vorstand der Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth) einschlägig qualifiziert – von ihm stammen deshalb auch die entsprechenden Beiträge der drei Bände. Gleiches gilt für Siegfried Hermle, den jüngst emeritierten Kölner Kirchenhistoriker, der das Verhältnis von „Christen und Juden“ in diesen Jahrzehnten darstellt und in seinen durchaus problematischen Teilen auch bewertet.

Weitere Abschnitte behandeln die Themenbereiche „Gesellschaftliche Herausforderungen“, „Protestantische Milieus und Gruppen“ sowie „Kultur“.

Die drei Bände sind jeweils mit einem Literaturverzeichnis und einem Personenregister versehen; wünschenswert wären darüber hinaus Sach- und Ortsregister gewesen. Vielleicht könnte dies mit dem zu erwartenden vierten Band für das Gesamtwerk nachgeholt werden, um die Übersichtlichkeit und Nutzbarkeit des inhaltlich überzeugenden Handbuchs noch weiter zu verbessern. Die Lektüre lohnt aber auch jetzt schon.

Erschienen in: Kirchliches Amtsblatt der Evangelischen Kirche von Westfalen Nr. 1/2022 vom 31. Januar 2022, S. 5-6.

Kategorien
Wissenschaftliches

Lehrwerk Praktische Theologie

Isolde Karle, Praktische Theologie (Lehrwerk Evangelische Theologie 7), Leipzig 2020, XVII und 718 S., gebunden, 58€, ISBN 978-3-374-05488-6

In Band 7 des „Lehrwerks Evangelische Theologie“ vermittelt die Bochumer Praktische Theologin Isolde Karle Studierenden „gegenwartsbezogenes theologisches Grundwissen“ und verbindet dies mit einer „praxisorientierten Ausrichtung auf das künftige Berufsfeld“ im Pfarr- und Lehramt (S. V).

Nach einer Beantwortung der für diese Disziplin besonders notwendigen Frage „Was ist Praktische Theologie?“ folgen drei grundlegende Kapitel zu Religion, Kirche und Pfarrberuf in der Moderne. Danach werden die klassischen Felder der Praktischen Theologie behandelt: Homiletik, Liturgik, Poimenik und Kasualien, darüber hinaus die Diakonie und die Medienkommunikation. Ein fast 90-seitiger Serviceapparat mit Literaturangaben und Registern verhilft zur Weiterarbeit.

Der Aufbau jedes Kapitels ist lehrbuchtypisch vergleichbar strukturiert, sodass zunächst biblisch-historische Perspektiven skizziert, bevor aktuelle Debatten luzide dargestellt und präzise diskutiert werden. Regelmäßig fassen optisch hervorgehobene Merksätze die zentralen Erkenntnisse didaktisch hilfreich zusammen.

Die im Vorwort (S. XV-XVII) transparent benannten Grundprinzipien prägen das gesamte Buch: Eine realistische Wahrnehmung der „Ambivalenzen modernen Lebens“ und der „Theologiebezug der Praktischen Theologie“ ergänzen die generellen Lehrwerkperspektiven Interdisziplinarität und Gegenwartsrelevanz. Der Gewährsmann Karles für all dies ist Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Von hier aus versucht Karle, „möglichst objektiv die Pluralität praktisch-theologischer Konzeptionen und Diskurse zu beschreiben“. Die in den beiden Worten „möglichst objektiv“ liegende Spannung lässt sich durchgängig beobachten. Sichtbar ist Karle bestrebt, die angestrebte Objektivität durch Darstellung der unterschiedlichen Positionen zu den verschiedenen Themen durchzuhalten. Aber weil sie zu allen diesen Themen bereits eigene Positionen entwickelt und publiziert hat (vgl. die beeindruckende Zahl ihrer Literaturtitel S. 654-657), ist es unvermeidlich, dass Objektivität nie ungebrochen erreicht wird. So ist, um ein besonders deutliches Beispiel zu erwähnen, das pastoraltheologische Kapitel „Der Pfarrberuf als Profession“ durch Karles gleichnamige Habilitationsschrift geprägt (vgl. bes. S. 141-148). In den abschließenden Ausführungen zur Medienkommunikation führt Karle den historischen Zentralsatz „Das Christentum hat sich immer schon der Medien bedient“ (S. 610) auf die Gegenwart aus, indem sie quasi nebenher die soziologischen Entwürfe von Niklas Luhmann, Armin Nassehi und Dirk Baecker skizziert, die evangelischen Medienpioniere August Hinderer, Robert Geisendörfer und Johanna Haberer ins Spiel bringt und sich dann unter Bezug auf aktuelle Forschung von Kristin Merle, Günther Thomas und Wilhelm Gräb kritisch den gegenwärtigen Massenmedien zuwendet. Vor allem die Social Media bergen für die auch auf Facebook aktive Autorin eher Probleme als Chancen. Über die Frage, ob hier für die gegenwärtige Kommunikation des Evangeliums nicht doch mehr Potenzial vorhanden ist, ließe sich trefflich diskutieren. Ist es im Internet wirklich „nicht möglich, Abendmahl zu feiern und authentische Begegnungen face to face zu haben“ (S. 624), und sind Begegnungsräume im Internet wirklich nicht „real“, „authentisch“ und „interaktiv“ (S. 625)?

Solche Fragen müssen gestellt werden (und sie können anders beantwortet werden), sie dürfen aber nicht davon ablenken, dass Isolde Karle mit diesem Lehrwerk zur Praktischen Theologie ein „Standardwerk“ (R. Kunz in der ThLZ) vorgelegt hat, das Studierende nicht nur bestens auf die theologischen Examina, sondern auch auf den Pfarr- und Lehrberuf vorbereiten wird. Und für alle diejenigen, die bereits in diesen Berufen tätig sind, lohnt sich die Lektüre ebenfalls, weil „sich die Leitung und Gestaltung kirchlicher Praxis nicht von selbst verstehen“ (S. 7f.), sondern der Theologie bedürfen.

(Kirchliches Amtsblatt der Ev. Kirche von Westfalen, Ausgabe 4/2021, S. 35)

Kategorien
Kirchliches Wissenschaftliches

Künstliche Intelligenz

Die Evangelische Forschungsakademie (EFA) traf sich Anfang Januar 2021 nicht wie gewohnt in der Berliner Stadtmission zur traditionsreichen Januartagung. Die 145. Tagung fand erstmals digital statt.

Die sieben Vorträge standen unter dem Motto „Künstliche Intelligenz. Macht der Maschinen und Algorithmen zwischen Utopie und Realität“. Sie sind dokumentiert in dem Buch
Alfred Krabbe / Hermann Michael Niemann / Thomas von Woedtke (Hg.) Macht der Maschinen und Algorithmen zwischen Utopie und Realität (Erkenntnis und Glaube. Schriften der Evangelischen Forschungsakademie, Band 52), Leipzig 2021.

Die Einführung in die Tagung übernahm Prof. Dr. Thomas von Woedtke, Plasma-Mediziner aus Greifswald und Mitglied des EFA-Kuratoriums.
Seiner Einführung lagen folgenden Überlegungen zugrunde:
Das Thema „Künstliche Intelligenz“ wird derzeit in sehr verschiedenen Formaten und Veranstaltungen intensiv diskutiert und reflektiert. Die EFA-Januartagung 2021 wird diese aktuelle Thematik unter dem Gesichtspunkt behandeln, den vor allem in der (medialen) Öffentlichkeit diskutierten positiven wie negativen technischen Visionen den Versuch einer realistischen Einschätzung der tatsächlichen Möglichkeiten und Grenzen von KI gegenüberzustellen. Dabei kommen auch christlich motivierte Standpunkte von Wünschenswertem und Notwendigem in der Gestaltung der menschlichen Lebenswelt zur Sprache kommen.
An der Einführung und Prägung des Begriffes „künstliche Intelligenz (KI)“ (artificial intelligence – AI), der im Jahr 1956 erstmals gebraucht wurde, war Marvin Minsky (1927-2016) maßgeblich beteiligt, der KI 1966 so definierte: „Künstliche Intelligenz liegt dann vor, wenn Maschinen Dinge tun, für deren Ausführung man beim Menschen Intelligenz unterstellt.“ Damit ist mit dieser Begriffsdefinition die assoziative Verbindung maschineller (Computer-)Systeme und Prozesse mit biologischen und menschlichen Eigenschaften, Fähigkeiten und Prozessen von vornherein angelegt. Weitere Begrifflichkeiten aus diesem Zusammenhang wie Elektronengehirn, maschinelles Lernen, neuronale Netze etc. unterstreichen die Fortdauer dieser anscheinend weitgehend unreflektierten Praxis bis in die Gegenwart. Diese „Biologisierung“ oder „Humanisierung“ menschengemachter und von Menschen nutzbarer technischer Systeme ist vom Ursprung her sicherlich einem seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anhaltenden und in den 1950er und 1960er Jahren noch weitgehend ungebrochenen Technik- und Zukunftsoptimismus geschuldet, der nahezu alles für machbar erachtete und bis heute tatsächlich zu erheblichen, als Fortschritt zu bezeichnenden Forschungs- und Entwicklungsleistungen geführt hat. Nichtsdestotrotz birgt die mit dieser Übernahme von Begrifflichkeiten verbundene Grenzüberschreitung auch erhebliche Probleme. Dies betrifft insbesondere die assoziative Zuschreibung von umfassenden menschlichen Möglichkeiten an technische Systeme, die zu extremen Erwartungshaltungen im Hinblick auf deren zumindest potentielle Leistungsfähigkeit und daraus resultierende Machbarkeitsvisionen führt, die sowohl in höchst optimistischen wie auch apokalyptischen Zukunftsszenarien resultieren. Es scheint bei diesen Visionen und Gedankenspielen oft so zu sein, dass sie weit entfernt von der technischen Realität und tatsächlichen Machbarkeit agieren und oft vor allem auf assoziativen Analogieschlüssen basieren, die vor allem aus den verwendeten Begrifflichkeiten zu resultieren scheinen. Ein Ziel der Januartagung 2021 ist es, solchen Assoziationen entgegenzuwirken, die einer genauen Betrachtung nicht standhalten. Dennoch sollte man nicht verschweigen, dass künstliche Intelligenz (oder wie man diese Maschinenintelligenz immer nennen mag) noch zu sehr viel mehr in der Lage sein wird, als wir im Moment realistischerweise annehmen.
Bei der Betrachtung praktischer Konsequenzen wäre neben unzweifelhaft vorhandenen positiven und hilfreichen Möglichkeiten, die KI-basierte Systeme bieten, ist hier auch das hohe Missbrauchspotential anzusprechen. Darüber hinaus darf der mit der Verfügbarkeit solcher Systeme und der zugrundeliegenden Daten verbundene Machtaspekt nicht außer Acht gelassen werden. Daher versucht die EFA-Januartagung 2021, eine Ordnung und Bewertung dieser Begrifflichkeiten mit einer zumindest orientierenden Einschätzung des Potentials und der Leistungsfähigkeit von unter dem Dachbegriff KI zusammengefassten technischen Systemen und Prozessen zu verbinden.

Was ist Intelligenz? Künstliche Intelligenz aus psychologischer Sicht
Prof. Dr. Dr. h.c. Joachim Funke (Jg. 1953), Studium der Psychologie, Philosophie und Germanistik, 1984 Promotion, 1991 Habilitation, 1997-2019 Lehrstuhl für Allgemeine und Theoretische Psychologie Heidelberg, Ehrenpromotion Szeged 2015.

Der Vortrag von Joachim Funke stand unter dem Motto: „Menschen handeln – Maschinen führen aus“.
Intelligenz ist ein zentrales Konstrukt der modernen Psychologie, um Unterschiede in der kognitiven Leistungsfähigkeit von Menschen zu beschreiben. Etwas breitere Konzeptionen sehen die Anpassung des Menschen an seine Umwelt und die Gestaltung der Umwelt zu unserem Vorteil als zentrales Element intelligenten Handelns. Im Vortrag wird ein Überblick über verschiedene Konzeptionen von Intelligenz gegeben. Auch die »dunkle Seite« der Intelligenz (das zerstörerische Potential) wird angesprochen.


Neurobiologische Korrelate der Entscheidungsfindung
Prof. Dr. Ingo Bernd Vernaleken, Studium der Humanmedizin, 2000 Promotion, 2005 Oberarzt für Psychiatrie und Psychotherapie, 2009 Professor an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der RWTH Aachen.

Ein starkes Zitat des Vortrags von Ingo Vernaleken war: „Wir haben so viel Intelligenz, wie wir brauchen.“


Vom Golem über Asimovs Robotern bis zu Markow-Ketten: Künstlerische Auseinandersetzungen mit künstlicher Intelligenz
Prof. Franz Danksagmüller (Jg. 1969), Studium der Kirchenmusik, Komposition und elektronischen Musik, Organist und Lehrbeauftragter in Wien, Linz und St. Pölten, seit 2005 Professor für Orgel und Improvisation an der Musikhochschule Lübeck.

Franz Danksagmüller stellte seinen Vortrag unter ein Zitat von Arthur C. Clarke: „Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.“
Über künstliche Wesen wurde schon in der Antike berichtet. Das Spektrum reicht von singenden Vögeln, automatischen Tempeltüren bis zu sprechenden Statuen und intelligenten Dienern.
Automaten, wie »der Schreiber«, die mechanische Ente oder »der Schachtürke« aus dem 18. Jahrhundert waren Höhepunkte einer langen Entwicklung. Sie zeugen von höchster Handwerkskunst – und Betrug.
Maschinen wie diese erschienen manchen Zeitgenossen als ein Produkt schwarzer Magie und als beseelte, eigenständige Wesen.
Neben den komplizierten Automaten entstanden eine Vielzahl an Sagen und Mythen von übernatürlichen, künstlichen Wesen: der Golem, Olympia, Frankenstein sowie die künstliche Maria aus »Metropolis« sind nur einige von ihnen. Aus heutiger Sicht wirken viele dieser Legenden naiv, die Maschinen der vergangenen Zeiten zwar faszinierend aber auch leicht zu durchschauen.
Doch wie begegnen wir den künstlichen Wesen unserer Zeit? Künstliche Intelligenz erscheint uns als Bereicherung und Bedrohung zugleich. Filme wie »A.I.«, »Ex Machina«, »her« usw. erfreuen sich großer Beliebtheit, Assistenten wie Siri und Alexa sind in vielen Haushalten ein festes Familienmitglied, chatbots beeinflussen unsere Meinung und unser Wahlverhalten.
Längst haben wir die Grenzen nachvollziehbarer Mechanik überschritten. Man spricht von künstlicher Intelligenz wie von einem mysteriösen Wesen, das oft unberechenbar agiert, eigene Wege geht und dem Menschen in vielerlei Hinsicht überlegen ist. Wir fragen Chatbots um Rat und kommunizieren mit digitalen Kopien verstorbener Menschen.
Auch im Bereich der Kunst sind künstliche Intelligenzen inzwischen tätig. Sie schaffen sowohl Kompositionen im Stil verstorbener Komponisten als auch neue, scheinbar eigenständige Werke.
Der Algorithmus »min G max D Ex[log(D(x))]+Ez[log(1-D(G(z)))]« schuf ein Bild, das bei Christie´s um 400.000 € versteigert wurde.
Doch welche Mechanismen stecken hinter diesen künstlichen Künstlern? Sind diese Algorithmen ernsthafte Partner bzw. Konkurrenten? Bereits heute treten sich in Musiktheatern und anderen Aufführungen künstliche und menschliche Wesen gegenüber…

Was ist und was kann Künstliche Intelligenz?
Einführung in Grundbegriffe, Methoden und Perspektiven der Künstlichen Intelligenz
Prof. Dr. Sebastian Rudolph (Jg. 1976), Lehramtsstudium Mathematik, Physik und Informatik, 2006 Promotion, 2011 Habilitation, 2013 Professor für Computational Logican der TU Dresden, seit 2020 geschäftsführender Direktor des Instituts für Künstliche Intelligenz.

„Fehlertoleranz als Voraussetzung für die Anwendung von KI“ war ein Fazit des Vortrags von Sebastian Rudolph.
Künstliche Intelligenz (KI) ist in aller Munde und erobert viele alltägliche Lebensbereiche, während gleichzeitig auch prominente mahnende Stimmen laut werden. Sein Vortrag beleuchtet die Ursprünge, und die bewegte Geschichte dieser Disziplin, geprägt von sich abwechselnden Phasen von hohen Erwartungen und Ernüchterung. Er stellt die zwei zentralen Paradigmen des Gebietes vor – subsymbolische KI einerseits (insbesondere maschinelles Lernen) und symbolische KI andererseits (beispielsweise Wissensrepräsentation und automatisches Schließen) – und diskutiert deren zentrale Methoden sowie Vor- und Nachteile. Der Vortrag schließt mit einem vorsichtigen Ausblick auf absehbare zukünftigen Entwicklungen und geht kurz auf die damit verbundenen gesellschaftlichen Herausforderungen ein.


Künstliche Intelligenz in der modernen Welt – Was nutzen wir schon und was erwartet uns demnächst?
Prof. Dr.-Ing. Peter Liggesmeyer (Jg. 1963), Studium der Elektrotechnik, 1992 Promotion, 2000 Habilitation und Lehrstuhl für Softwaretechnik und Qualitätsmanagement in Potsdam, seit 2004 Lehrstuhl für Software Engineering: Dependability an der TU und Institutsleiter am Fraunhofer Institut für Experimentelles Software Engineering in Kaiserslautern.

Aus dem Vortrag von Peter Liggesmeyer blieb u.a. das Zitat „Keine Erklärung, wie das Ergebnis zustande gekommen ist.“ hängen.
Künstliche Intelligenz (KI) ist eine alte Idee, die aktuell eine markante Renaissance erlebt. Erste, wenn auch einfache, funktionierende künstliche neuronale Netze gab es bereits in den 1950er Jahren. Spezielle KI-Programmiersprachen entstanden wenig später, z.B. im Jahr 1958 LISP und 1973 PROLOG. Heute wird KI als eine wichtige Zukunftstechnologie diskutiert, wobei sich das Interesse aktuell auf den Teilbereich des Maschinellen Lernens (ML) konzentriert. ML mit KI gleichzusetzen ist aber falsch.
Die vereinfachte Grundidee des Maschinellen Lernens ist, ein System anhand von Beispielen zu trainieren, mit dem Ziel, dass das ML-System nach Vorlage vieler Beispiele in der Lage sein soll, das darin enthaltene Verhalten zu reproduzieren. ML-Systeme erkennen Muster. Sie extrahieren aber keine Regeln.
Man darf Muster (Korrelationen) nicht mit Kausalitäten (Regeln) verwechseln. Maschinelle Lernverfahren sind nicht im eigentlichen Sinne intelligent. Sie extrahieren Muster und wenden diese an. Diese vermeintliche Schwäche kann aber auch zu einer Stärke werden und zwar dort, wo die Angabe von Regeln schwierig ist. Beispiele dafür sind die Bereiche Sprach- und Bildverstehen, zwei Anwendungsbereiche in denen ML-Verfahren ausgezeichnete Erfolge verbuchen und ihr gelegentliches Versagen meistens toleriert werden kann. Selbstverständlich gibt es auch hier Regeln, aber Kinder lernen ihre Muttersprache nicht durch Vorgabe von Regeln, sondern durch das Nachsprechen von vorgesprochenen Beispielen. Das Gleiche gilt für das Verstehen von Bildinhalten. Wenn ein Kind oft genug Bilder von Autos gesehen hat, so erkennt es Autos auf Bildern wieder. Und maschinelles Lernen kann das meistens auch leisten, aber eben keine diesbezüglichen Garantien abgeben.
Im Grunde handelt es sich beim Maschinellen Lernen um eine spezielle Form der statistischen Datenanalyse, die deren charakteristische Vor- und Nachteile besitzt und natürlich nur Effekte erzeugen kann, die aus den zugrunde liegenden Daten abgeleitet werden können. Hier von Intelligenz zu sprechen, erscheint unangebracht.
Maschinelles Lernen allein wird für viele Anwendungsbereiche – insbesondere für jene, in denen Garantien erforderlich sind, wie autonomes Fahren – nicht ausreichen. Aber natürlich haben maschinelle Lernverfahren auch klar benennbare Vorteile. Die beschriebenen Nachteile sind den Forschern bekannt, und es wird daran gearbeitet, diese zu beseitigen. Die KI enthält mehr Lösungen, als nur das Maschinelle Lernen, und natürlich gibt es auch funktionierende Lösungen außerhalb der KI, auf die zurückgegriffen werden kann. Es ist abzusehen, dass ein Zusammenspiel der unterschiedlichen Bausteine eine Lösung sein wird.
Derzeit muss man sich vor der »Künstlichen Intelligenz« nicht wirklich fürchten. Bedrohlicher ist die – mit Verlaub – verbliebene Dummheit der existierenden Lösungen, deren Beseitigung ein aktuelles, wichtiges Ziel der Forschung ist.


Maschinenethik: Können Maschinen moralisch sein?
Prof. Dr. Catrin Misselhorn (Jg. 1970), Studium der Philosophie, 2003 Promotion, 2010 Habilitation, 2012 Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie und Technikphilosophie in Stuttgart, seit 2019 Professorin für Philosophie in Göttingen.

Catrin Misselhorns Vortrag gipfelte in der These „Moralische Maschinen sind Menschen moralisch überlegen.“
Durch die Fortschritte der Künstlichen Intelligenz (KI) und Robotik werden Maschinen in Zukunft mehr und mehr moralische Entscheidungen fällen, die unser Leben betreffen. Deshalb soll analog zur »Artificial Intelligence« eine »Artificial Morality« entwickelt werden. Doch können Maschinen überhaupt moralisch handeln – und dürfen sie es? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Maschinenethik, deren Grundlagen in diesem Vortrag anhand von Beispielen wie autonomen Waffensystemen, Pflegerobotern und selbstfahrenden Autos diskutiert werden.

Gottebenbildlichkeit und Künstliche Intelligenz
Prof. Dr. Dirk Evers (Jg. 1962), Studium der Theologie, 1999 Promotion (ESSSAT-Preis 2002), 2005 Habilitation, 2008 Lehrauftrag an der Universität Zürich, seit 2010 Professor für Systematische Theologie an der Universität Halle-Wittenberg.

Dirk Evers forderte in seinem Vortrag: „Es geht nicht darum, vor KI zu warnen, sondern den Umgang mit ihr zu gestalten.“
Aus christlich-theologischer Perspektive ist der Mensch als der Gott entsprechende Menschen zu bestimmen. Als Gott entsprechender Mensch ist der Mensch Selbstzweck und Person. Als Personen verstehen Menschen nicht nur etwas, sie verstehen dabei immer auch sich selbst. Und sie verstehen sich nicht nur auf das Erreichen von Zwecken (technische Imperative), sie verstehen sich auch auf das Verstehen in seinen unterschiedlichen Dimensionen. Menschen orientieren sich deshalb in der Wirklichkeit in Perspektiven der 3., 1. und 2. Person. Das Leben in durch Medien vermittelten Beziehungen macht sie so zu Personen, und dadurch sind sie immer schon bezogen auf Gott. Insofern das Bilderverbot in Bezug auf Gott gilt, gilt es entsprechend auch in Bezug auf den Menschen: Über Menschen kann man nie vollständig im Bilde sein. Auch alles Selbstverstehen ist letztlich begrenzt.
Künstliche Intelligenz ist Mittel zum Zweck. Die Gefahr ist nicht, dass Künstliche Intelligenz menschlich oder gar mehr als menschlich wird, sondern dass Menschen sich zu sehr Künstlicher Intelligenz anvertrauen. Sie verspricht unter anderem Entlastung von dem Entscheidungsdruck und den Effizienzanforderungen, unter denen Menschen in der Moderne existieren. Sie ist zudem eine Projektionsfläche für problematische Gottes- und Menschenbilder. Das liegt nicht primär an der Raffinesse der Maschinen, sondern vor allem am Wesen des Menschen, der im geschilderten Sinne ein mediales Wesen ist. Hier kann die Kategorie der Gottebenbildlichkeit Perspektiven bereitstellen.


Die Generalaussprache wurde geleitet von Prof. Dr. Oliver Holtemöller, Wirtschaftswissenschafter aus Halle (Saale) und Kuratoriumsmitglied der EFA.
Er begann mit drei Thesen:
1. These: Künstliche Intelligenz hat nicht viel mit Intelligenz zu tun.
2. These: KI ist als wissenschafliche Methode für mich uninteressant (Verstehen/Verhalten).
3. These: Die Gesellschaft sollte die Methoden besser verstehen (Digital Literacy)
.

Das EFA-Kuratoriumsmitglied Prof. Dr. Martin Schnittler, Botaniker und Landschaftsökologie aus Greifswald, steuerte vier Thesen zum Unterschied zwischen menschlicher (natürlicher) und künstlicher Intelligenz aus biologischer Sicht bei:
1. These: Der Mensch kann sich Ziele setzen und hat Antriebe – der KI müssen diese vom Menschen gesetzt werden.
2. These: Das menschliche Hirn hat ein Belohnungssystem – wir setzen oft kurzfristigen Nutzen vor langfristigen. Impulsives Handeln ist ein möglicher Ausweg bei extrem komplexen Problemen.
3. These: Das menschliche Hirn schließt stochastische Prozesse ein – gleicher Input generiert nicht identische Lösungen.
4. These: Menschliche Intelligenz kann nur irreversibel ausgeschaltet werden (Suizid) – KI kann reversibel ausgeschaltet werden. Maschinen haben keine Menschenwürde.


Bericht zur kirchlichen Lage / Gottesdienst
Pröpstin Dr. Christina-Maria Bammel (Jg. 1973), Studium der Theologie, 2003 Promotion (HU Berlin), Pfarrerin in Berlin, seit 2019 Pröpstin und theologische Leiterin des Konsistoriums der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.

Die Tagung wurde mit einem Bericht zur kirchlichen Lage und einem Gottesdienst beendet, die Christina-Maria Bammel verantwortete. Sie zitierte ein Kyrie der ökumenischen Band patchwork aus Brandenburg a.d.H.:
Manchmal ist es wenig was mich über Wasser hält
Dünne Schicht der Dinge wenn sie kippelt, doch nicht fällt
Viele gute Gründe und kein Ziel
Alles dreht sich weiter…manchmal ist es viel
Manchmal ist es wenig, was uns zueinander treibt
Augenblick der ewig dauern kann und doch nicht bleibt
Alles was mir ernst ist, ist das Spiel,
manchmal ist es wenig und manchmal viel zu viel,
machmal ist der Weg zu weit und manchmal fehlt das Ziel,
manchmal ist alles zu ende und es fehlt nur ein Schritt,
manchmal geht man vor die Hunde und keiner geht mit,
manchmal ist alles fraglich und keine Antwort zu sehn.

Manche der Vortragenden waren nur zu Ihrem Beitrag zugeschaltet. Andere beteiligten sich auch in den Aussprachen und an den abendlichen Breakout-Sessions. Prof. Dr. Joachim Funke fasste seine Eindrücke in einem spontanen Blog zusammen. Sein Fazit fand ich als Theologe amüsant und hoch erfreulich:
„Ich wusste gar nicht, wie politisch Theologen sein können! Danke an die Referenten und die Referentin für die vielen Anregungen, danke für das “food for thought”, das in meine Handschuhsheimer Dachstube gelangen durfte! Ein Weiterbildungs-Wochenende der besonderen Art!“

Informationen zur Evangelischen Forschungsakademie:
Die Evangelische Forschungsakademie (EFA) ist ist eine unselbständige Einrichtung der Union Evangelischer Kirchen (UEK). Sie vereinigt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Künstlerinnen und Künstler christlichen Glaubens. Die Mitglieder der EFA sind durch die ihnen gemeinsamen Fragen von christlichem Lebensverständnis und wissenschaftlichem Arbeiten verbunden. Mitglieder der Evangelischen Forschungsakademie können akademisch oder in der Praxis tätige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden, die in ihren Fachgebieten selbständige Forschungsarbeit betreiben, sich dementsprechend ausgewiesen haben und bereit sind, sich in das interdisziplinäre Gespräch einzubringen.
Mit ihrer Gründung 1948 in Ilsenburg (Sachsen-Anhalt), unweit der innerdeutschen Grenze, setzte sich die Evangelische Forschungsakademie (EFA) das Ziel, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen zusammenzuführen. Gemeinsam war es ihre Absicht, die neuesten Erkenntnisse und Entwicklungen in Wissenschaft und Gesellschaft zu diskutieren. Die Erkenntnisfunktion des Glaubens und die ethische Verantwortung in Forschung und Lehre sind dabei bis heute das besondere Anliegen. Unter dem Motto „Glaubend erkennen – erkennend glauben – verantwortlich handelnd“ stellt sich die EFA den Herausforderungen unserer Zeit zur zukunftsfähigen Gestaltung von Lehre, Bildung und Forschung in christlich-ethischer Verantwortung. Dazu veranstaltet sie in der Regel zwei Tagungen pro Jahr: Die Januartagung in Berlin dient der interdisziplinären Behandlung eines Generalthemas durch Vorträge und ausführliche Diskussionen. Diese Tagungen werden zumeist in der Reihe „Erkenntnis und Glaube“ (EVA Leipzig) dokumentiert. Die Pfingsttagung im Evangelischen Zentrum Drübeck ist der Vorstellung und Diskussion von Forschungsarbeiten der Mitglieder sowie anderer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vorbehalten.

Direktor ist der Astrophysiker Prof. Dr. Alfred Krabbe. Ich selbst gehöre zum Kuratorium, das die Akademie leitet und die Tagungen vorbereitet.

Kategorien
Wissenschaftliches

Theologie der reformatorischen Bekenntnisschriften

Notger Slenczka, Theologie der reformatorischen Bekenntnisschriften. Einheit und Anspruch, Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2020, 736 S., gebunden, 68€, ISBN 978-3-374-06531-8

Wenn ein Autor von sich aus einräumt, dass sein Buch „zu lang“ (92) ist, und wenn dieser Autor schon beim Schreiben weiß, dass ihm das „den Ruf der Bekenntnisorthodoxie“ (686) einbringen wird, dann kann ein Rezensent zugestehen, dass der Autor schlichtweg Recht hat.

Das Buch des Berliner Systematischen Theologen Notger Slenczka über die Theologie der reformatorischen Bekenntnisschriften liest sich nicht nebenbei, sondern will erarbeitet sein. Aber wer sich an diese Arbeit macht, wird vieles über die Bekenntnisse der Reformationszeit lernen – und vieles über den heutigen Umgang damit. Es lohnt sich also, Slenczkas Buch zu lesen, es lohnt sich aber auch – das sei hinzugefügt – ihm zu widersprechen.

Für Studierende der Theologie (und diejenigen, die ihre Studienkenntnisse auffrischen wollen) ist es ein präzises Lehrbuch über die historischen Hintergründe und vor allem die theologischen Aussagen der Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts. Sorgfältig mit Literatur belegt (vgl. z.B. 621. 630), didaktisch mit Zusammenfassungen versehen, hilfreich mit Registern ergänzt.

Für manche Lutheraner mag es eine Anfechtung sein, dass die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften nicht nur „hochinteressant“ (509) ist, sondern dass Slenczka (den der Vorwurf der lutherischen Bekenntnisorthodoxie hier verfehlt) das Wahrheitsmoment reformierter Theologie und damit einen normativen Anspruch auch der reformierten Bekenntnisse anerkennt. Das gilt ebenso für sein (gewandeltes) Verhältnis zur Barmer Theologischen Erklärung. Anders als die traditionelle lutherische Theologie und Kirchlichkeit kommt Slenczka zu dem Schluss, es sei „sinnvoll und wohlgetan, die Entscheidung von Barmen als Bekenntnisgrundlage auch für die lutherischen Kirchen zu übernehmen“ (639). Das alles ist für den Unierten höchst erfreulich.

Für alle diejenigen, die damit ringen, welche Bedeutung 500 Jahre alte Texte für den heutigen Glauben und die heutige Kirche haben, ist das Buch eine Hilfe zum Verstehen. Slenczka erkennt an, dass der normative Anspruch der reformatorischen Bekenntnisschriften gegenwärtig „faktisch fiktiv“ (76) ist. Allen Kirchenordnungsaussagen (auch in Westfalen) und allen theologischen Formeln („norma normata“) zum Trotz. Slenczka weicht dem nicht aus – weder zu einem trotzigen Festhalten an traditionellen Lehrformeln noch zu einem resignierten Verzicht auf die Bekenntnisse. Seine Lösung ist eine neuprotestantische Klärung des Bekenntnisverständnisses, das eben „keine Glaubensnorm“ (257) für den einzelnen Christenmenschen und keine Auflistung christlicher Lehraussagen sei, die man Wort für Wort als Realität zu glauben habe. Der Mensch benötige dringend den „Zuspruch der Freiheit von der Macht des Teufels“ (608) in Gestalt von Gesetz und Evangelium, denn Slenczka hält persönlich „in der Tat die Anfechtungserfahrung Luthers für das mit der menschlichen Existenz gestellte Grundproblem“ (712). Dass für ihn an anderer Stelle „die Anerkennung der schlechthinnigen Abhängigkeit des Menschen das Zentrum darstellt“ (91), zeigt sein Selbstverständnis als „ein Lutheraner, der zu viel Schleiermacher gelesen hat“ (33).

Die Bekenntnisschriften helfen, die „Mitte der Schrift“ (257) im Evangelium von der Person Jesu Christi im Vertrauen auf sein Heilswerk und im Verzicht auf das eigene (Glaubens-)Werk zu erkennen. Insofern sind die Bekenntnisse „als präzisierende Lesehilfe“ (706) der Bibel methodisch sogar vorgeordnet, obwohl sie ihr natürlich inhaltlich nachgeordnet sind. Die methodische Vorordnung – so Slenczka bekenntnisorthodox im Anschluss an Werner Elert – gelte dabei nicht für die einzelnen Christenmenschen, sondern vor allem und so gut wie ausschließlich für die ordinierten Amtsträger. Die Bekenntnisse seien Norm für die Verkündigung der Pfarrerinnen und Pfarrer – nicht für den individuellen Glauben der Gemeindeglieder oder für das liturgische Nachsprechen im Gottesdienst. Das entlastet von der empfundenen Verpflichtung, alle Bekenntnisaussagen lehrhaft für sich übernehmen zu müssen, auch wenn der eigene Glaube beispielsweise mit der Jungfrauengeburt so seine Schwierigkeiten hat.

Zu dieser Lösung kommt Slenczka aber nur, indem er aus den Bekenntnisschriften einige besonders hervorhebt und andere vernachlässigt. Im Zentrum stehen für ihn das Augsburger Bekenntnis, dessen Apologie und die Konkordienformel. Kaum in den Blick nimmt er die drei altkirchlichen Bekenntnisse (die ja explizit in den Kanon lutherischer Bekenntnisschriften gehören und von denen zumindest das Apostolikum regelmäßig im Gottesdienst gesprochen wird). Auch die Katechismen Luthers und den Heidelberger Katechismus behandelt er zwar auf immerhin 50 Seiten, lässt sie aber (möglicherweise gerade wegen ihrer Bedeutung für die Glaubenspraxis der Gemeindeglieder) bewusst als Bekenntnisschriften sui generis aus seiner Deutung heraus.

Von hier aus würde eine kirchenordnende Regelung wie in Westfalen unmöglich, in der der Bekenntnisstand der Gemeinde vorgeordnet ist gegenüber der Bekenntniszuordnung, auf die sich Pfarrerinnen und Pfarrer ordinieren lassen. Die von Schleiermacher und seinem Unionsverständnis geprägte rheinisch-westfälische Kirchenordnung und ihre Theologie haben sich mit guten Gründen, unter Beachtung der Frömmigkeitsprägung und nicht ohne geschichtliche Wirkung, für ein anderes Verhältnis von Gemeinde und Amt, von Schrift und Bekenntnis sowie von Bekenntnisschriften und aktuellem Bekennen entschieden. Dies zeigt auf, dass der Sinn und Gehalt des normativen Anspruchs der Bekenntnisse der reformatorischen Kirchen auch anders bestimmt werden kann, als Slenczka es tut.  Dass der Autor dies sichtlich weiß, nötigt dem Rezensenten Respekt ab. Und dieser Respekt gilt trotz allem (Teil-)Widerspruch auch dem Reichtum des dargebotenen Materials und der Konsequenz der theologischen Argumente.

(Kirchliches Amtsblatt der Evangelischen Kirche von Westfalen Nr. 1/2021)

Kategorien
Kirchliches Wissenschaftliches

Theologie at it’s best

Theologie at it’s best“ – so hat der Zeitzeichen-Chefredakteur Reinhard Mawick die theologische Diskussion auf der Vollversammlung der Union Evangelischer Kirchen (UEK) bezeichnet, in der es am 9. November 2020 um das Votum des Theologischen Ausschusses der UEK zu „Gottes Handeln in der Erfahrung des Glaubens“ ging.

Mawick fasste zusammen, wie der Ausschussvorsitzende Prof. Dr. Michael Beintker das Votum einführte:

Fünf Jahre habe sich der Ausschuss damit beschäftigt, so Beintker in seiner Einbringungsrede und gleich zu Anfang betonte er: „Die Frage nach dem Handeln Gottes hat für den Glauben allergrößtes Gewicht, sie berührt gleichsam seine Schlagader.“

Auf der anderen Seite skizzierte Beintker die Alternative: „Was wäre von einem Gott zu halten, zu dessen höchster Vollkommenheit es gehört, selbstversunken ausschließlich um sich selbst zu kreisen oder irgendwo ein weltentzogenes Dasein am menschlichen Ideenhimmel zu fristen?“

Dass dies für ihn, Beintker, keine Alternative sei, wurde in der folgenden Viertelstunde deutlich, etwas für theologische Feinschmecker, ja, aber, und das ist die große Stärker Beintkers, etwas für theologische Feinschmeckerinnen und Feinschmecker aller Fachbereiche, denn Beintker verfügt über die Gabe, umfassende Dinge komprimiert, aber dabei eben nicht zu komplex zu formulieren, sondern in wunderbarer Weise elementar zu bleiben. Zum Beispiel, wenn er fragt: „Was ist eigentlich Handeln? Um dann fortzufahren: „Schon im Blick auf das menschliche Handeln ist diese Frage nicht leicht zu beantworten. Ist jedes Wirken ein Handeln? Ist jedes Verhalten ein Handeln? Was unterscheidet das Verhalten vom Handeln? Und lässt sich unter Umständen auch das Nicht-Handeln als Handeln auffassen? Was schon im Blick auf das menschliche Handeln nur scheinbar leicht zu beantworten ist, wird im Blick auf Gottes Handeln zu einer hochkomplexen Herausforderung für das Nachdenken.“

Dann kommt das Thema Corona. Für Beintker ist klar: „Die Corona-Krise ist nicht die erste Zumutung für die Rede vom Handeln Gottes und sie wird auch nicht die letzte Zumutung dieser Art bleiben.“ Er erinnert daran, dass es kürzlich eine öffentliche Kontroverse gegeben habe, „ob zwischen der Corona-Pandemie und dem Gericht Gottes ein Zusammenhang bestehe“. Beintkers Antwort: „Man müsste ein Prophet sein, um bei der Antwort auf diese Frage in der einen oder anderen Richtung das Richtige zu treffen.“ Aber es würde seiner Ansicht nach doch sehr weiterhelfen, wenn man sich klarmachte, dass zwischen der „Allmacht Gottes“ und der Vorstellung  von „einer alles und jedes unmittelbar bewirkenden Allwirksamkeit erhebliche Unterschiede bestehen.“

Deshalb dürften „Allmacht und Allwirksamkeit … auf keinen Fall gleichgesetzt werden“. Gott könne eben nicht auf das „moderne ,Aktitivitätsparadigma‘“ festgelegt werden, „demzufolge nur als wirklich gilt, was wirksam ist und Wirkung entfaltet“. Beintker: „Der allmächtige Gott hat ein Recht auf Passivität“. Der Respekt davor, so der Theologe weiter, lindere zwar nicht „unsere Anfechtung“,  aber könne vor dem „Missverständnis“ bewahren, die Corona-Pandemie sei ein „der Wirklichkeit Gottes entzogenes Aktionsfeld.“

Als stellvertretender Vorsitzender des theologischen Ausschusses habe ich gerne an der Erstellung dieses Votums mitgewirkt. Das Zusammenspiel von Theologie und Kirche liegt mir am Herzen; wenn es glückt, bin ich froh darüber.

Das Votum steht zum Download auf der Seite der UEK zur Verfügung. Zusammen mit dem Einführungsvortrag und weiteren Texten aus dem Ausschuss zum Thema wurde es in der UEK-Reihe „Evangelische Impulse“ als Buch veröffentlicht.)