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Würde. Auf gutem Grund

75 Jahre Grundgesetz

Am 23. Mai dieses Jahres wird das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 75 Jahre alt. Das ist auch für die christlichen Kirchen in Niedersachsen ein Grund zum Feiern, denn als Christinnen und Christen leben wir die Werte, auf denen unser Grundgesetz basiert. Und wir engagieren uns kritisch und konsequent für die Würde aller Menschen, Demokratie und eine soziale Gesellschaft. Das ist umso wichtiger, da aktuell grundlegende demokratische Errungenschaften in Frage gestellt werden und sich völkischer Nationalismus breit macht. „Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum HERRN“ (Jeremia 29,7). Dazu gehört auch das Engagement für das Grundgesetz, das „im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen“ damals wie heute dem Frieden dienen will (Präambel).

Mit dem Grundgesetz ist der Bundesrepublik ein großer Wurf gelungen. Es hat die Erfahrungen aus der Nazi-Diktatur aufgenommen und sich so als eine moderne Verfassung bewährt, die auch heute noch den guten Grund für unser gesellschaftliches Zusammenleben in Deutschland bildet. Es formuliert hochaktuelle Freiheits- und Gleichheitsrechte – und vor allem setzt es bei der „Würde des Menschen“ an, die „unantastbar“ ist (Artikel 1). Damit widerspricht es allen Versuchen, die Würde von einzelnen Menschen oder Gruppen abzuwerten.

Die Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachen hat deshalb in Kooperation mit den katholischen Bistümern in Niedersachsen die Kirchen- und Pfarrgemeinden dazu aufgerufen, sich anlässlich des Jubiläums an der Würdigung des Grundgesetzes zu beteiligen. Die Kampagne „Würde. Auf gutem Grund. 75 Jahre Grundgesetz“ stellt dazu hilfreiche Materialien zusammen. Die natürlich auch außerhalb von Niedersachsen verwendet werden können.

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Theologie und Öffentlichkeitsarbeit

Nach 12 ½ Jahren im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Westfalen war es für mich Zeit für Neues. Seit dem 1. November 2023 bin ich Referent für Theologie und Öffentlichkeitsarbeit in der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen. Diese Konföderation hat nichts mit Star Wars oder dem amerikanischen Bürgerkrieg zu tun, sondern ist der Zusammenschluss der fünf evangelischen Kirchen auf dem Gebiet des Landes Niedersachsen. Sie vertritt die evangelischen Interessen gegenüber dem Land und übernimmt gemeinsame Aufgaben der beteiligten Landeskirchen. Im Dezember bin ich dann auch liturgisch in meine neue Stelle eingeführt worden.

Dazu meldete die Konföderation:

Dr. Vicco von Bülow (56) wurde von der Bevollmächtigen Dr. Kerstin Gäfgen-Track in sein neues Amt als Referent der Konföderation für Theologie und Öffentlichkeitsarbeit eingeführt. Der Gottesdienst stand unter dem Bibelwort aus Psalm 37,5: „Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohlmachen.“

Bei der Einführung assistierten Bischof Thomas Adomeit (Oldenburg), Kirchenrätin Daniela Fricke (Bielefeld) und OStR i.K. Dorothea Otte (Hannover).

Pastor von Bülow ist seit dem 1. November 2023 als Referent für die Bereiche Theologie und Öffentlichkeitsarbeit in der Geschäftsstelle der Konföderation zuständig. Der gebürtige Westfale war zuvor Referent für Theologie und Kultur im Kirchenamt der EKD und danach theologischer Dezernent im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Westfalen. Er beschreibt sich als Buchliebhaber, Ehemann, Jazzfan, Jogger, Kirchenhistoriker, Klassikverehrer, Ostfriesenteetrinker, Pastor und Pfarrer, Podcaster, Theologe, Vater (dreier Kinder), Wanderfreund und Whiskygenießer. Mit seinem Namensvetter Loriot ist er nur entfernt verwandt.

Auch die Internetseite reformiert-info nahm diese Meldung auf.

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Was wir brauchen

Predigt für die Ev.-Luth. Martini-Kirchengemeinde Gadderbaum
am 5. November 2023
im Vortragssaal der Kunsthalle Bielefeld

Liebe Gemeinde!

Respekt!

Heute hat der Gottesdienst nicht nur bereits um Punkt 10 Uhr begonnen statt wie in unserer Gemeinde üblich um halb elf. Wir versammeln uns auch nicht in der Stephanuskirche, sondern in der Kunsthalle.

Andere Zeit, anderer Raum. Und Sie sind da! Wie wundervoll. Genau das habe ich heute morgen gebraucht.

Was wir brauchen“ – so heißt die Ausstellung, die in den Etagen über uns zu sehen ist. Vor allem mit Ausstellungsstücken von Oscar Tuazon.

Oscar Tuazon ist ein US-amerikanischer Installationskünstler und Bildhauer, der in Los Angeles lebt. Er wurde 1975 geboren. Die renommierte Internetseite Artfacts.net zählt ihn zu den 1000 bedeutendsten Künstlern weltweit und bezeichnet ihn als „ultra-contemporary“, also als ultra-zeitgenössisch.

Auf Wikipedia steht: „Die raumgreifenden Konstruktionen von Oscar Tuazon befinden sich auf der Schnittstelle zwischen Skulptur, Architektur und Design. Häufig verwendete Materialien sind Holz, Metall, Stein und Beton. “

Mit einigen seiner Werke ist Tuazon gerade sozusagen „auf Europatournee“. Zunächst in der Kunsthalle Bergen, dann im Kunst Museum Winterthur, und jetzt eben in Bielefeld – und das noch eine Woche lang.

Auch wenn Sie die Ausstellung selbst noch nicht besucht haben, haben Sie eines seiner Kunstwerke bereits gesehen. In der Eingangshalle steht mitten im Raum „Where I lived and What I Lived For“ (2007), ein Anklang an ein früheres Werk, das Native American Pavillon. Tuazon fühlt sich den uramerikanischen Bewohnern der US-Westküste sehr verbunden und hat viel von ihrem ganzheitlichen Kunstverständnis übernommen:

Mich inspiriert nach wie vor eine erweiterte Vorstellung von Kultur, wie sie in indigenen Communitys vorherrscht, das heißt ein Konzept, das neben bildender Kunst auch Musik, Nahrung, Sprache und Zeremonien einschließt.

Zu dem, was wir ganz grundlegend brauchen, gehört für Oscar Tuazon das Wasser. Die Water School in der ersten Etage ist ein sichtbares Zeichen dafür.

Mit dieser Installation hat sich Tuazon am politischen Protest der sogenannten Water Protectors gegen eine Wasser-Pipeline durch indigenes Land beteiligt. [Alle Zitate von Oscar Tuazon nach dem Gespräch mit Benedikt Fahrschon, Lynn Kost, Christina Vegh und Axel wieder, das unter dem Titel „Lernen, bauen, denken“ im Katalog zur Ausstellung veröffentlicht wurde.]

Als Künstler habe ich manchmal das Gefühl, in Isolation zu arbeiten – und hier waren 10 000 Menschen, die sich zusammengetan hatten, um temporäre Gebilde zu errichten, mit denselben Mitteln, die auch ich nutze. In Umweltbewegungen unter indigener Führung gilt Kultur nicht als zweitrangig gegenüber politischer Organisation, sondern als zentraler Baustein des Gesamtprojekts.

Wasser ist grundlegend für alles Leben auf der Erde. Auch die Bibel weiß das – wie es schon die Schöpfungsgeschichte zeigt, die wir als biblische Lesung gerade gehört haben. Der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser, dem einzigen Element, dass sich im Tohuwabohu schon identifizieren ließ.

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde; ihm verdanken sich der Kosmos, die Biosphäre, das organische Leben und schließlich der Mensch,

Zunächst einmal werden die Räume geschaffen, in den dann Leben entstehen kann. Ein durchaus moderner Gedanke. Die aktuellen Debatten um den Naturschutz befassen sich neben dem Artenschutz auch mit dem Schutz ganzer Lebensräume, den Biotopen. Die Erkenntnis hat sich durchgesetzt, dass man die Lebens-Räume schützen muss, wenn man das Leben schützen will.

Dazu gehört auch der Klimaschutz. Darüber sind sich auch irgendwie alle einig, aber ob wir genug dafür tun und wie man darauf aufmerksam machen kann, darüber schon wieder nicht.

Gerade radikalere Gruppen treffen mit ihren Aktionen oft auf Unverständnis, seien es nun Straßenblockaden oder Attacken auf Kunstwerke. Oscar Tuazon dagegen zeigt sich als politischer Künstler, eben als „ultra-zeitgenössisch“:

Kunst ist eine Sphäre, in der wir sehr kritisch über den Abfall nachdenken müssen, den Ausstellungen, Reisetätigkeiten und die Kunstwerke selbst hinterlassen. Deshalb sind Klimaproteste, die sich berühmter Kunstwerke bedienen – mögen diese Aktionen auch viele Menschen wütend machen -, so wichtig und effektiv: Sie instrumentalisieren die symbolische … Macht eines Kunstwerks.

Tuazons Kunstwerke wie zum Beispiel die Skulptur „Numbers“ (2012) als Ziele von Kartoffelbrei-Attacken? Ich weiß nicht, wie die Kunsthalle Bielefeld darauf reagieren würde…

Wenn Sie sich seinen Skulpuren nähern, um sie herumgehen, werden Sie auf jeden Fall neue Perspektiven entdecken. Zum Beispiel auf die dahinter an den Wänden angebrachten Kunstwerke (von Richard Serra und anderen). Aber auch darauf, wie wir Räume wahrnehmen.

Das ist für mich das Spannendeste an der manchmal etwas spröden Konzeptkunst von Oscar Tuazon. Sein Verständnis von Räumen und wie man sie nicht nur nutzen, sondern auch prägen kann.

Ich schaffe Räume für Menschen. Ich mache Platz, damit etwas anderes passieren kann. … Einen Raum zu betreten, ist nicht nur … eine Erfahrung für einen Betrachter, sondern auch eine soziale und politische Handlung, die ihrerseits die Bedingungen des Raums schafft. Du machst den Raum.

Am deutlichsten wird das in seinem zentralen Ausstellungsstück in der Kunsthalle:

Dem „Building“, das speziell für diesen Raum in Bielefeld entworfen und hergestellt wurde. Site-specific art nennt das die Kunstexperten.

Maßstäblich verkleinert stellt das „Building“ das Gerüst eines Hauses in den amerikanischen Wäldern dar, das Tuazon mit seiner Familie bewohnt, wenn er nicht in L.A. ist. Entscheidend ist aber für ihn nicht das Gerüst, sondern das, was darinnen passiert, das, was Menschen daraus machen.

Man kann kaum ein schöneres Geschenk machen, als zu sagen: „Hier ist die Arbeit, sie ist unvollendet; es gibt noch so viel, was du machen kannst.“

In der Mitte steht ein Feuerofen, um den herum sich Menschen versammeln können.

Und deshalb sind als einziges konkretes Einrichtungsstück im „Building“ Bänke installiert. Die Neue Westfälische führt auf ihnen Kunstgespräche. Die Universität Bielefeld und die Technische Hochschule OWL führen dort Lehrveranstaltungen durch, die diese Bänke zu Hörsaalbänken machen.

Bänke bringen Menschen zusammen, das wissen wir in der Martini-Gemeinde spätestens seit unserem Projekt „Plauderbank“.

Und es gibt noch weitere kirchliche Parallelen zu Tuazons Raumverständnis. Oft wird ja der Kirchenraum als heiliger Raum für den Gottesdienst verstanden.

Der evangelische Kirchbauexperte Thomas Erne hat auf biblische Vorbilder verwiesen:

Das sind Traditionslinien, die sich bis ins Alte Testament verfolgen lassen. Dort finden sich die räumliche Gegenwart Gottes im repräsentativen Tempel und die kommunikative Gegenwart Gottes in der Liturgie der Synagoge. …Die Synagoge ist ein Funktionsraum, dessen Bedeutung in der Ermöglichung der liturgischen Feier aufgeht.

Anders als die katholische Theologie haben wir Evangelischen einen zumeist nüchternen Blick auf den Raum der Kirche:

Kirchengebäude sind bis heute in evangelischer Perspektive äußerer Rahmen für die gottesdienstliche Zusammenkunft und letzten Endes entbehrlich. Deshalb kann Gottesdienst auch gefeiert werden „auf einem Platz unter dem Himmel, und wo Raum dazu ist“, wie es Martin Luther einmal gesagt hat.

Auf einem Platz unter dem Himmel, oder wo Raum dazu ist. Die feiernde Gemeinde macht jeden Raum zu einem Gottesdienstraum, nicht der Kirchraum umgekehrt die feiernde Gottesdienstgemeinde.

Dieses Motiv einer Unabhängigkeit der christlichen Religion von Räumen ist in der Evangelischen Theologie ein Grundkonsens von Luther über Schleiermacher bis heute: „Die Umgrenzung des Raumes ist nur eine äußere Bedingung, mithin Nebensache“.

Heilig ist ein Raum, auch ein Kirchenraum, also nicht einfach so, durch Tradition oder durch ein bestimmtes Architekturkonzept. Heilig ist ein Raum, auch ein Kunsthallenhörsaal, dadurch, dass Menschen ihn zum Gottesdienst nutzen. Sie haben es vielleicht noch nicht gemerkt, aber wir befinden uns gerade in einer Kirche.

Liebe Gemeinde,

in den letzten Monaten hat es viele Gemeindeversammlungen zum „Aufbruch 2035“ gegeben. Dem Veränderungsprozess der Kirche in Bielefeld. Der nötig ist, weil wir auch in Bielefeld immer weniger Kirchenmitglieder und immer weniger Geld haben. Und weil die kleiner werdenden Kirchengemeinden und geringer werdenden Finanzmittel nicht mehr zu den vielen Gebäuden passen, die wir noch haben. Und auch wenn ich durchaus mitbekommen habe, wie anstrengend die Zusammenarbeit mit den anderen Gemeinden in der Innenstadtregion manchmal ist, ich halte sie für unvermeidbar.

Wir werden Ressourcen miteinander teilen müssen – und zu diesen Ressourcen gehören auch unsere Räume. Es gibt keinen an sich heiligen Raum Süsterkirche, die Altstädter Nicolaikirche ist trotz des schönen Altars nicht per se heilig und die Neustädter Marienkirche ist vielleicht dann am heiligsten, wenn sie als Vesperkirche oder für geistliche Musikkonzerte genutzt wird. Und so sehr ich die Stephanuskirche mit ihrem Zeltdach und den wunderschönen Buntglasfenstern liebe – auch sie ist vor allem ein Funktionsraum, dessen Bedeutung darin besteht, dass er die Feier eines Gottesdienstes ermöglicht. Natürlich sieht die Stephanuskirche ganz anders aus als das „Building“ von Oscar Tuazon. Aber im Endeffekt ist auch sie nur ein äußerliches Gerippe, in dem das Entscheidende geschieht durch die Menschen, die sich darin versammeln.

Zum Glück tun sie das. Zum Glück tun wir das. Und insofern sind wir als Gemeinde, wir, die wir heute hier in der Kunsthalle versammelt sind, wir sind das, „was wir brauchen“, um den Titel der Ausstellung noch einmal aufzunehmen.

Und vielleicht nehmen wir auch noch eine Anregung von Oscar Tuazon mit auf:

Kann ich zum öffentlichen Raum etwas Nützliches beitragen? Das scheint mir ein guter Ansatzpunkt zu sein.“

Ja, das scheint mir ein guter Ansatzpunkt auch für uns in der evangelischen Kirche, für uns in der Martini-Gemeinde zu sein: Können wir zum öffentlichen Raum etwas Nützliches beitragen? Können wir für unsere Bielefelder Gesellschaft etwas Gutes tun? Oder mit der Bergpredigt gesprochen: Können wir Salz der Erde und Licht der Welt sein? Ich bin fest davon überzeugt, dass wir das können. Und deshalb ist mir nicht bange um die evangelische Kirche in Bielefeld und nicht um die Martini-Gemeinde, ob nun im Blick auf 2035 oder darüber hinaus. Wir können nicht so bleiben, wie wir sind. Wir müssen nicht so bleiben, wie wir sind. Wir werden nicht so bleiben, wie wir sind.

Wir werden neue Wege gehen. Und auf die will ich vertrauen.

Amen.

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Kirchliches Musikalisches

Hochschule für Kirchenmusik Bochum beschlossen

In den letzten Jahren habe ich mich als Kirchenmusikdezernent der Evangelischen Kirche von Westfalen sehr für die Zusammenführung der beiden Standorte unserer Hochschule für Kirchenmusik von Herford und Witte nach Bochum eingesetzt.

Nun hat die westfälische Kirchenleitung endlich den entsprechenden Beschluss gefasst. In zwei Radio-Interviews habe ich mich dazu geäußert:

  • Am 30. August wurde ich in WDR 3 Tonart interviewt, das Interview ist in der Mediathek verfügbar.
  • Auf Antenne Thüringen und LandesWelle Thüringen lief am 31. August ein Beitrag, den der Internationale Audiodienst Frankfurt (iad) produziert hat. Auch er ist online nachzuhören.

Grundlage war die Pressemitteilung der Evangelischen Kirche von Westfalen:

Westfälische Kirchenleitung beschließt Neubau der Hochschule für Kirchenmusik

Projekt mit großer Strahlkraft

Jetzt ist es sicher: Bochum wird neuer Standort der Hochschule für Kirchenmusik. Auf ihrer Sitzung am 24. August beschloss die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW), in Bochum den Hochschulneubau zu errichten.Darin werden die beiden Studienzweige der klassischen Kirchenmusik, die seit vielen Jahren in Herford gelehrt wird, und der kirchlichen Popularmusik, die Studierende bislang in Witten lernen können, in einer gemeinsamen kirchlichen Musikhochschule zusammengeführt.

Schon im vergangenen Jahr hatte sich die Kirchenleitung grundsätzlich für das Hochschulprojekt ausgesprochen und sich auf Bochum als möglichen Standort festgelegt. Anfang dieses Jahres gab sie die professionelle Projektplanung in Auftrag, verbunden mit der Aufgabe, unter realistischen Bedingungen die Einhaltung der Budgetvorgaben von maximal 14,2 Millionen Euro zu prüfen. Nachdem jetzt Planung und Prüfergebnis vorlagen, machte die Kirchenleitung mit ihrer Entscheidung den Weg für den Neubau frei.

Die neue Hochschule für Kirchenmusik wird in Bochum auf dem Campus der Evangelischen Hochschule entstehen. Auf drei Etagen bietet sie in Räumen mit anspruchsvoller Akustik und ansprechender Gestaltung Studienmöglichkeiten für jeweils rund 40 Studierende. Erstmals sollen junge Frauen und Männer zum Wintersemester 2026/27 ihr Studium am neuen Hochschulstandort aufnehmen können.

Dass in Bochum künftig klassische und populare Kirchenmusik gemeinsam gelehrt wird, ist einzigartig in der deutschen Kirchenmusiklandschaft. Hochschulrektor Jochen Kaiser verspricht sich davon eine gegenseitige künstlerische Inspiration beider Studienrichtungen. Er hatte im Frühjahr das Amt als Hochschulrektor übernommen mit dem Ziel, die bisher parallellaufenden Kirchenmusik-Studienfächer räumlich und konzeptionell zusammenzuführen (zum Interview mit Jochen Kaiser).

Mit der Entscheidung für den Hochschulneubau und das künftige Konzept setzt die Kirchenleitung ein Zeichen für die besondere Bedeutung der Kirchenmusik in Westfalen. „Diese neue Hochschule wird ein Projekt mit kultureller Strahlkraft sein – und das weit über Westfalen hinaus“, zeigt sich die Präses der EKvW, Annette Kurschus, überzeugt. Gerade in Zeiten knapper werdender Finanzmittel beschreibt die Kirchenleitung damit nicht zuletzt eines der kirchlichen Handlungsfelder, denen sie für die Zukunft Priorität einräumt.

(Medieninfo 6/2023)

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Kirchliches

Kirche (Symbolbild)

Andacht im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Westfalen

am 29.08.2023

Liebe LKA-Gemeinde,

erinnern Sie sich noch an Ihren Sommerurlaub? Fast schon so lange her, dass er kaum mehr wahr ist. Aber wenn ich nachdenke, weiß ich es wieder: Ich war wie im letzten Jahr in Südtirol. Und diesmal sind wir nicht über den Brenner gefahren, sondern über den Reschenpass. Da liegt der Reschensee. Sehr pittoresk. Aber kein natürlicher See, sondern ein Stausee. Für die Stromerzeugung wurden 1950 das Dorf Graun und weitere Siedlungen geflutet. Von den Dörfern sieht man nichts mehr. Fast nichts. Der Kirchturm von Alt-Graun ragt noch aus dem Wasser. Je nach Wasserstand geht ihm das Wasser bis zum Fundament oder zum Glockenfenster. In diesem Jahr war der See so etwa auf mittlerer Höhe.

Ich habe ein Foto gemacht und auf Facebook und Instagram veröffentlicht: mit dem spontanen Kommentar: Ein Symbolbild für die Kirche. Und bekam prompt die Rückfrage: Ein Symbolbild für was? Für „Wasser bis zum Hals“ oder für „Wandeln über den Wassern“?

Es gibt eine biblische Geschichte, in der beides drin vorkommt: Jesus und der sinkende Petrus  (Mt 14,22-33)

22 Und alsbald drängte Jesus die Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm ans andere Ufer zu fahren, bis er das Volk gehen ließe. 
23 Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er auf einen Berg, um für sich zu sein und zu beten. Und am Abend war er dort allein. 
24 Das Boot aber war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen.
25 Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer. 
25 Und da ihn die Jünger sahen auf dem Meer gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht. 
27 Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht!
28 Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. 
29 Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. 
30 Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, rette mich! 
31 Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm:  Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?
32 Und sie stiegen in das Boot und der Wind legte sich. 
33 Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!

Ein bisschen gemein, diese Geschichte. Erst schickt Jesus seine Jünger mit dem Boot weg, weil er alleine beten will. Die Sturmwolken dürften sich doch wohl schon über dem See zusammengezogen haben. Und als der Sturm dann in der Nacht so richtig losgegangen war, da geht er eben mal so übers Wasser und jagt seinen Jüngern einen Riesenschrecken ein. „Seid getrost, ich bin’s! Fürchtet Euch nicht!“, sagt das Gespenst, für das ihn die Jünger wohl halten wohl halten müssen. Toller Auftritt.

Einer von den verschreckten Jüngern will’s dann aber genau wissen. „Herr, bist Du’s, so befiehl mir, zu Dir zu kommen auf dem Wasser.“ Petrus. Natürlich. Wer sonst: Will mal wieder zeigen, dass er der Mutigste ist. Steigt aus dem Boot und geht auf Jesus zu. Auf dem Wasser. Aber kaum wird ihm klar, was da passiert, dass es Wellen und Wind gibt, beginnt er zu sinken. „Herr, hilf mir!“

Was Jesus dann tut, ist so ein bisschen gönnerhaft: Er greift Petrus‘ Hand und zieht ihn raus. Um das Ganze dann noch zu toppen, nennt er ihn auch noch „kleingläubig“. Und kritisiert seinen Zweifel.

Ist das nicht gemein? Darf man so mit der Angst der Menschen umgehen? Und selbst wenn ich mal einräume, dass diese biblische Geschichte sowas wie eine Fabel ist: Was will sie uns heute erzählen, die wir vor dem Kirchturm von Alt-Graun im Reschensee und vor unserer Kirche stehen, der das Wasser bis zum Hals steht?

Ein paar Ideen dazu.

Menschen haben Angst. Mit einem Boot in dunkler Nacht auf stürmischem See zu sein: archetypischer kann man Angst kaum darstellen. Das ist der Stoff, aus dem Alpträume sind. Dahinter steht die Urangst vor dem Tod. Die Fluten werden mich verschlingen und meine Existenz auslöschen. Das ist der Urgrund aller menschlichen Angst. Und steht er nicht auch hinter unserer Angst um die Zukunft unserer Kirche?

Wie immer man zu Jesu Auftritt mit dem Laufen übers Wasser stehen mag: Auf Seiten der Jünger wird deutlich: Angst macht so eng, dass ich Hilfe schwer erkenne und Helfer als angsteinflößende Gespenster erleben kann. Ich will nicht ausschließen, dass das auch bei der Angst um die Kirche so sein kann.

Menschen wollen Angst überwinden. Aber wie? Petrus veranstaltet hier eine Mutprobe im Glauben. Und scheitert. Der Meister schimpft ihn „kleingläubig“ und bemängelt seinen Zweifel. Keine wirklich Mut-Mach-Geschichte am Dienstag morgen für uns Landeskirchenamtsgemeinde, könnte man meinen. Muss man aber nicht.

Man kann die Geschichte auch anders lesen. Und das will ich Ihnen heute anbieten:

Glauben hat nichts mit der unrealistischen Hoffnung zu tun, ich bräuchte nie mehr Angst zu haben in meinem Leben, wenn ich nur „großgläubig“ genug wäre – wenn das das Gegenteil von „kleingläubig“ sein sollte – also „großgläubig“. Aber Glaube bewahrt nicht sozusagen automatisch vor der Angst. Im Gegenteil: Glaube nimmt die Angst ernst. Der Meister geht hin zu den Menschen in der Angst. Klar kann man sagen: gemein, dass er ihnen nun zusätzlich zur Dunkel und dem stürmischen See auch noch solch einen Schrecken einflößt als Gespenst. Man kann aber auch sagen: Die Ängstlichen haben in ihrer Angst ein Gespenst gesehen und nicht einen möglichen Weg aus der Angst – auch wenn der erst einmal wunderhaft und darum ungehbar erscheinen mag. Denn: Wer kann schon übers Wasser gehen?

Einer aber erkennt den Ausweg, selbst wenn er natürlich auch er noch nie in seinem Leben übers Wasser gelaufen ist. Aber er versucht’s. „Wenn Du mir hilfst“, sagt er zu Jesus, „dann will ich es auf Dein Wort hin versuchen.“ Jesus sagt: „Komm her!“ Und Petrus geht los. Losgehen. Ein guter Tipp für den Umgang mit der Angst auch für uns.

Aber das, was dann passiert, kenne auch ich gut genug. Auf halbem Weg verlässt Petrus der Mut. Und er droht unterzugehen. Jesu Antwort „Du Kleingläubiger. Warum hast Du gezweifelt?“ kann man als Demütigung verstehen. Man kann aber auch lesen: Petrus, Dein Versuch war schon richtig. Du hast als erster im Boot erkannt, dass es Wege aus der Angst gibt. Und Du hast erkannt, dass es dazu Mut braucht und Glauben und Vertrauen. Das alles hast Du gehabt.

Nur hat es noch nicht ganz gereicht. Glauben ist eben auch etwas, das man üben muss. In dem man wachsen kann. Aber der Weg, Petrus, der Weg ist richtig. Zwischen „kleingläubig“ und „großgläubig“ gibt es auch ein irgendwas dazwischen: „gläubig“.

Glauben heißt vor allem Vertrauen. Wir singen heute Lieder aus dem Kirchentagsliederbuch von 2019: #lautstärke. Auf der Titelseite können Sie es lesen: „Was für ein Vertrauen“ hieß es damals in Dortmund. Und Vertrauen war nicht nur vor vier Jahren wichtig, es ist es auch heute. Und wird so bleiben. Wo auch immer, in Dortmund, in Bielefeld, in Hannover, in Berlin. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat beim Kirchentag gesagt: „Unser ganzes Land ist auf Vertrauen gebaut. Es ist kostbar, dieses Vertrauen.“ Und gleichzeitig wissen wir, wie wenig selbstverständlich es ist. Wie Vertrauen schwindet, wie verbreitet Angst ist. Sie wissen das, ich weiß das.

Mir ist an dieser Stelle ein Wort des Theologen Karl Barth hilfreich gewesen. Der hat mitbekommen, wie die Kirchenleitenden und die Professoren im 19. Jahrhundert vergessen haben, von Gott zu reden. Der hat mitbekommen, wie die Nazis nicht nur im Staat, sondern auch in der Kirche die Macht übernommen haben, und wie daraufhin alle bis auf wenige Ausnahmen entweder begeistert mitmachten oder in Angst erstarrten. Der hat mitbekommen, wie in der Kirche und in der Gesellschaft nach 1945 die Chance zum Aufbruch verpasst wurde, weil entweder in die falsche Richtung oder gar nicht geleitet wurde. Beides ist ja nicht gut. Am Ende seines Lebens hat Barth dennoch nicht resigniert oder sein Vertrauen verloren. „Es wird regiert“. So formulierte er es am Vorabend seines Todes am 10. Dezember 1968: „Ja, die Welt ist dunkel. … Nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn es wird regiert, nicht nur in Moskau oder in Washington oder in Peking, sondern es wird regiert, und zwar hier auf Erden, aber ganz von oben, vom Himmel her! Gott sitzt im Regimente! Darum fürchte ich mich nicht. … Gott lässt uns nicht fallen, keinen einzigen von uns … ! – Es wird regiert!“

Dieses Vertrauen auf Gottes Regierung wünsche ich mir angesichts aller Ängste in meinem Leben. Und diese Zuversicht, dass doch geleitet wird, wünsche ich uns, wünsche ich Euch und Ihnen, wenn wir Angst um unsere Kirche haben, wenn glauben, dass ihr das Wasser bis zum Hals steht.

Amen.

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Intelligentes Grußwort

Grußwort auf der VV der Prädikant:innen und Laienprediger:innen am 3.6.23 in Haus Villigst


Liebe Prädikant:innen und Laienprediger:innen der evangelischen Kirche von Westfalen,

es ist mir eine große Ehre und Freude, Ihnen anlässlich Ihrer diesjährigen Vollversammlung ein herzliches Grußwort zu übermitteln. Diese Zusammenkunft ist eine wunderbare Gelegenheit, um gemeinsam auf das vergangene Jahr zurückzublicken, Erfahrungen auszutauschen und neue Impulse für unsere Arbeit in der Kirche zu erhalten.
Als Prädikanten und Laienprediger spielen Sie eine unverzichtbare Rolle in unserer Gemeinschaft. Mit Ihrer Hingabe und Ihrem Engagement vermitteln Sie die frohe Botschaft des Evangeliums und tragen maßgeblich zur geistlichen Entwicklung unserer Gemeinden bei. Ihre Predigten, Gottesdienste und seelsorgerischen Tätigkeiten sind von unschätzbarem Wert und haben einen positiven Einfluss auf das Leben vieler Menschen.

In Zeiten des Wandels und der Herausforderungen ist es von großer Bedeutung, dass wir als Gemeinschaft zusammenstehen und uns gegenseitig unterstützen. Die Vollversammlung bietet uns die Möglichkeit, unser Wissen zu erweitern, neue Ideen zu entwickeln und gemeinsam Lösungen für die Fragen und Anliegen unserer Zeit zu finden. Lassen Sie uns diese Stunden intensiv nutzen, um voneinander zu lernen, uns zu ermutigen und gestärkt in unsere Gemeinden zurückzukehren.
Ich wünsche Ihnen allen eine inspirierende und bereichernde Vollversammlung. Möge dieser Austausch von Erfahrungen und Ideen neue Perspektiven eröffnen und Sie mit frischer Motivation für Ihren wichtigen Dienst erfüllen. Gemeinsam werden wir weiterhin das Evangelium verkündigen und die frohe Botschaft der Liebe und Hoffnung in unsere Gemeinden tragen.
Mit den besten Wünschen und Gottes Segen,


[Pause]

Liebe Geschwister,

vielen Dank für die freundliche Aufnahme meines Grußworts. Sie haben soeben einer künstlichen Intelligenz applaudiert. Das, was ich vorgelesen habe, hat der künstliche Sprachbot „ChatGPT“ verfasst. Auf die Aufgabe: Schreibe ein Grußwort für die Vollversammlung der Prädikanten und Laienprediger in der evangelischen Kirche von Westfalen. Mehr Informationen habe ich nicht gegeben. Das könnte man noch komplexer machen: Schreibe ein Grußwort für die die Vollversammlung der Prädikanten und Laienprediger in der evangelischen Kirche von Westfalen und berücksichtige folgendes Schwerpunktthema. Oder und schreibe es in einem humorvollen Tonfall. Da gibt es viele Möglichkeiten, die ich alle nicht genutzt habe.

So ist Ihnen das Grußwort vielleicht etwas blass und aussagearm vorgekommen, aber sind das Grußworte nicht immer? Oder zumindest oft? Vielleicht haben Sie auch nicht so genau zugehört – ist ja nur ein Grußwort… Jedenfalls finde es erstaunlich, wie gut eine künstliche Intelligenz den Tonfall eines menschlichen Grußworts imitieren kann. Wie finden Sie das? Erschreckend? Begeisternd?

Es ist aber fast schon egal, wie Sie es finden. Es ist nämlich Realität. Das, was man künstliche Intelligenz nennt, ist Teil unserer Welt. Und wird sie mehr und mehr beeinflussen. Nicht nur bei Grußworten, sondern in fast allen Feldern unseres Lebens. Neulich war in der Süddeutschen Zeitung ein interessanter Artikel darüber zu lesen, wieso ChatGPT noch nicht richtig als journalistischer Praktikant für eine Zeitung taugt. Aber ich bin mir sicher: Das wird sich ändern, und zwar schneller als wir denken.

Unsere Welt insgesamt wird sich ändern, und zwar schneller als wir denken. Unsere Kirche wird sich ändern, und zwar schneller als wir denken.

Auf der Landessynode im Mai haben wir über die Veränderungen gesprochen, die aus der steigenden Zahl der Kirchenaustritte resultieren. Die Entwicklung der Mitgliederzahlen, aber darüber hinaus auch die veränderten Rahmenbedingungen für die Kirche insgesamt, das führt zur Frage, ob der Begriff „Volkskirche“ noch die kirchliche Realität widerspiegelt. Aufgrund schwindender Ressourcen ist es schwieriger geworden, in der Fläche große Gruppen mit unseren Angeboten zu erreichen.

Volkskirche im Sinne der Kirche des Volkes sind wir nicht, aber können wir weiterhin wie in den letzten 100 Jahren Volkskirche als Kirche für das ganze Volk sein? Ich bin mir nicht mehr sicher. Und deshalb will ich den Begriff Volkskirche nicht mehr verwenden, obwohl ich vieles gut finde, was der Begriff meint: Offenheit, Vielfältigkeit etc. Er verschleiert aber die Einsicht: Wir sind eine evangelische Kirche im Übergang von der „Volkskirche“ in eine Kirchenform, für die Begrifflichkeit und Gestalt erst noch erarbeitet werden müssen.

Was wird jetzt aus der Kirche? Wenn ich ehrlich bin: Ich weiß ich nicht. Und wenn Sie ehrlich sind, wissen Sie es auch nicht. Lassen Sie uns gemeinsam danach suchen und das, was wir können, miteinander gestalten. Das wird nicht immer einfach. Aber unausweichlich. Und in jeder Herausforderung liegen Chancen. Lassen Sie uns die gemeinsam nutzen.

Die praktische Theologin Uta Pohl-Patalong hat gesagt: „Die aktuelle Situation der Kirche braucht den Mut, mit kleinen Schritten zu beginnen, ohne zu wissen, ob sie zu einer langfristig tragfähigen Lösung führen.“ Diesen Mut wünsche ich uns allen.

Bei all dem vertraue ich darauf, dass der HERR seine Kirche bewahren wird. Er hat nur nicht versprochen, dass er ausgerechnet die Form bewahren wird, die wir gerade kennen.

Zum Schluss. Eines hat Chat GPT in seinem Grußwort nicht aufgenommen, weil ich die KI nicht darüber informiert habe: Es soll eine neue Leitung für die Prädikant:innen und die Laienprediger:innen geben. Dazu werden Sie im weiteren Verlauf der Tagesordnung beraten und beschließen.

Peter Winkemann hat diese Aufgabe schon innegehabt, als ich die Zuständigkeit für die Prädikantenarbeit im Landeskirchenamt übernommen habe. Er war also schon da. Und es gibt Menschen, die behaupten: Er sei immer schon da gewesen als Sprecher der Prädikanten und Laienprediger. Das wird historisch nicht ganz zutreffend sein. Ich habe da sowas von 16 Jahren gehört. Es gibt aber eine Wahrnehmung wieder, die für Fakten steht: Peter, Du hast mit deinem Einsatz und deiner Leidenschaft die Prädikanten und Laienprediger der EKvW über Jahre hinweg begleitet und unterstützt. Dein Wissen, Deine Fähigkeiten und Dein Engagement haben für viele eine Inspiration und Ermutigung bedeutet, ihren Dienst mit Freude und Begeisterung auszuüben. Nun kannst Du das alles als Mitglied der Kirchenleitung in unsere Kirche einbringen. Bei aller Traurigkeit darüber, dass Du nicht mehr als Sprecher dieses Kreises hier weitermachen wirst, freue ich mich persönlich, dass wir uns dort weiterhin sehen.

Und nun nach vorne geschaut. Und noch ein paar Worte an, ja an wen denn genau? Wer auch immer Mitglied des angedachten Sprecherrats werden soll – es gibt ja schon Überlegungen dazu -: Ich freue mich auf die gute Zusammenarbeit mit Ihnen. Und komme auf die Abschlussformulierung von ChatGPT zurück: „Gemeinsam werden wir weiterhin das Evangelium verkündigen und die frohe Botschaft in unsere Gemeinden tragen.“ Das mache ich mir hiermit zu eigen.

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Kirchliches

50 Jahre Leuenberger Konkordie

Im März 2023 gibt es ein 50jähriges Jubiläum!

Vom 12. bis 16. März 1973 wurde auf dem Leuenberg bei Basel die endgültige Textfassung der Leuenberger Konkordie reformatorischer Kirche in Europa erarbeitet und den beteiligten Kirchen übergeben. Die Evangelische Kirche von Westfalen unterzeichnete alsbald als siebte Signatarkirche. Damit war sie Teil der Kirchengemeinschaft zwischen den lutherischen, reformierten und den aus ihnen herausgegangene unierten Kirchen sowie den ihnen verwandten vorreformatorischen Kirchen der Waldenser und der Böhmischen Brüder. Die methodistischen Kirchen traten 1997 bei. Heute sind 95 Kirchen Mitglieder der „Gemeinschaft Evangelischer Kirche in Europa“ (GEKE), wie die Leuenberger Kirchengemeinschaft seit 2003 heißt. In der westfälischen Kirchenordnung ist festgehalten: Die EKvW „pflegt besondere Beziehungen zu den Kirchen, mit denen sie in Kirchengemeinschaft im Sinne der Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie) […] steht.“ (Art. 3 (2) KO EKvW). Auf der Landessynode der EKvW vom 21.-24. Mai 2023 wird das 50jährige Jubiläum deshalb auch eine wichtige Rolle spielen.

Zum 40jährigen Jubiläum der Leuenberger Konkordie habe ich in der Dortmunder St. Petri-Kirche eine Predigt gehalten, die vielleicht auch noch nach 10 Jahren noch interessant ist:

Liebe Gemeinde,

erinnern Sie sich noch an Bruce Low? Ein holländischer Schlager- und Countrysänger, der vor gut 30 Jahren ein paar Mal in der deutschen Hitparade vertreten war. Unter anderem mit einem Lied, das ich in meiner Jugend gerne gehört habe und das Sie vielleicht auch kennen. Mit seiner unnachahmlich tiefen Stimme (ja, deshalb sein Künstlername Bruce Low) sang er auf die Melodie von „By the rivers of Babylon“:
Die Legende von Babylon / und was geschah /
ist ein Lied aus längst vergangnen Tagen. /
Die Legende von Babylon / und was geschah /
hat uns auch heut’ noch allerhand zu sagen.“

Ich habe es lange nicht mehr gehört, dieses Lied, aber als ich mich daran erinnert habe, war es sofort wieder in meinem Kopf da. Ein Lied aus längst vergangenen Tagen, nun gut, aus dem Jahr 1978. Aber es bezieht sich auf ein Lied, eine Geschichte aus viel älterer Zeit, aus der sogenannten Urgeschichte. Also den Anfangsgeschichten der Bibel, die erklären oder noch besser: erzählen wollen, warum die Menschheit so ist wie sie ist.

Ich lese aus der Lutherübersetzung von 1. Mose 11:
„Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache.
Als sie nun nach Osten zogen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst.
Und sie sprachen untereinander: Wohlan, lasst uns Ziegel streichen und brennen! – und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel
und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis in den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder.
Da fuhr der HERR hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten.
Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun.
Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprche verwirren, dass keiner des anderen Sprache verstehe!
So zerstreute sie der HERR von dort in alle Länder, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen.
Daher heißt ihr Name Babylon, weil der HERR daselbst verwirrt hat aller Länder Sprache und sie von dort zerstreut hat in alle Länder.“

Soweit das 1. Buch Mose. – Zurück zu Bruce Low, der meint:
„Die Legende von Babylon, / und was geschah /
hat uns auch heut noch allerhand zu sagen.“

Was uns die Geschichte vom Turmbau zu Babel zu sagen hat, das singt Bruce Low in Form einer Frage:
„Die Legende von Babylon / und was geschah /
das ist nun ein paar Tausend Jahre her /
und heute, versteht heute der eine Mensch den anderen?“

Das sieht nicht nur Bruce Low so, das sehen auch die übliche theologische Deutung: Das zentrale Motiv der Turmbaugeschichte ist die Sprachverwirrung. So wird die Geschichte dann traditionellerweise ausgelegt:
Die Menschheit hat einst in ungestörter Kommunikation und Gemeinsamkeit gelebt. Alle haben eine Sprache gesprochen. Dann haben die Menschen die – an sich positive – Technik des Ziegelbaus und der Verfugung zu einem hybriden Werk missbraucht, zu einem Turm, der an oder sogar bis in den Himmel ragen sollte. Meinten sie zumindest. In Wirklichkeit erzählt die Geschichte zweimal davon, dass Gott tief herabfahren musste, um den Turm überhaupt in Augenschein nehmen zu können. Was er sieht, entsetzt ihn. Die Menschen wollten sich einen Namen machen, auf Hebräisch Schem. Das zielte gegen Gott selbst, der im Hebräisch oft auch mit HaSchem – der Name bezeichnet wurde. Wer sich selbst einen Namen machen will, indem er den Himmel erstürmt, der lästert den Namen dessen, der im Himmel wohnt. Prompt folgt die Strafe auf dem Fuß: Gott verwirrt ihre Sprache, die Menschen verstehen einander nicht mehr, müssen den Bau abbrechen und werden in alle Winde, in alle Länder zerstreut.

Diese biblische Geschichte kommt in der Ordnung unserer Predigttexte zu Pfingsten vor. Und das Pfingstwunder ist dann die Gegengeschichte zum Turmbau zu Babel. Dank der Gabe des Heiligen Geistes können die Menschen aus aller Welt ihre unterschiedlichen Sprachen wieder verstehen: die Parther und Meder und Elamiter und wie sie in der Apostelgeschichte alle heißen.

Und in diesem Blickwinkel ist „die Legende von Babylon“ auch die Gegengeschichte zu dem, was wir heute feiern, zum 40. Geburtstag der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa. Die Situation vor 1973 ist geprägt gewesen von den vielen evangelischen Sprachen, von der Vielzahl reformatorischer Theologien und Kirchen. Das ist – quasi pfingstlich-wunderhaft – anders geworden durch den Text, der in unserem Gesangbuch unter die wichtigsten Bekenntnisse und Lehrzeugnisse der Kirche aufgeführt wird: durch die Leuenberger Konkordie. Darin haben inzwischen 106 evangelische Kirchen aus Europa ein gemeinsames Verständnis des Evangeliums festgestellt. Es ist nicht mehr so, dass einer des anderen Sprache nicht versteht. Wir haben einander zugehört, haben uns einander verständlich gemacht. Wir haben die Gegensätze in der Lehre vom Abendmahl, im Verständnis der Heilsbedeutung Jesu Christi und in der Theologie der Prädestination soweit überwunden, dass unsere unterschiedlichen Akzente nicht mehr kirchentrennend sind.
Wir können Kirchengemeinschaft erklären zwischen Reformierten und Lutheranern, zwischen Methodisten und Unierten und Waldensern und und und.
Das hört sich tatsächlich pfingstlich an: die Parther und die Meder und die Elamiter – sie alle kommen unter dem gemeinsamen Verständnis des Evangeliums zusammen.
Das ist die „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“, wie die Leuenberger Theologie treffend zusammengefasst worden ist. Und insofern eine Überwindung der babylonischen Sprachverwirrung, unter der wir alle gelitten haben.

Als Pfarrerin Stephanie Lüders und ich im letzten September [2012] an der 7. Vollversammlung der Gemeinschaft Evangelischer Kirche in Florenz teilgenommen haben, haben wir diese Gemeinschaft erfahren können. Haben mit Menschen aus anderen evangelischen Traditionen Abendmahl gefeiert, haben die Gemeinschaft zwischen unseren Kirchen im Gottesdienst bestätigt, haben gemeinsam Worte gefunden für unser Verständnis der frohen Botschaft, für unser Verstehen von Schrift und Bekenntnis. Haben uns als zusammengehörig erlebt trotz kultureller und historischer Unterschiede zwischen Schweden, Norwegern, Ungarn, Tschechen und Österreichern, ja sogar zwischen Westfalen und Rheinländern. Unglaublich, dass das erst seit vierzig Jahren so möglich ist. So selbstverständlich kam es uns vor. Die in Leuenberg 1973 erklärte Kirchengemeinschaft ist verwirklicht.

Doch das ist nur die eine Seite der Jubiläumsmedaille.
Die andere wird sowohl beim Blick auf die Leuenberger Kirchengemeinschaft deutlich als auch, wenn wir uns die Geschichte vom Turmbau zu Babel in einer anderen Perspektive anschauen. Denn: Ist die Vielfalt der Sprachen wirklich falsch? Ist die Ausbreitung der Menschen über die ganze Erde wirklich göttliche Strafe? Hat nicht Gott die Menschen dazu erschaffen, fruchtbar zu sein und sich zu mehren und die Erde zu füllen? (Gen 1,28) Und wird nicht in den Kapiteln vor dem heutigen Predigttext darauf hingewiesen, dass die Menschen eben das taten – sich über die Erde auszubreiten? (z.B. Gen 10,18) Folgen wir der biblischen Erzählung, dann bestand die Menschheit bereits aus vielen Völkern und vielen Sprachen, bevor sie von Osten her in Ebene Schinar kam und dort zu dem einen Volk mit der einen Sprache und dem eindeutigen Wortschatz wurde.
Wenn aus einer bunten Vielfalt von Sprachen, Dialekten und Kulturen Uniformität wird, dann riecht das, dann stinkt das nach Gewalt, Unterdrückung und zwangsweiser Assimilation. Wir kennen das aus der Geschichte immer wieder: Stammesgruppen, Ethnien, Völker werden in ihrer Identität gebrochen und zerbrochen, es wird ihnen verboten, ihre Muttersprache zu sprechen, ihnen werden fremde Namen gegeben.
Dann wäre die eigentliche Sünde von Babel, dass sich die Menschen der gottgewollten Vielfalt widersetzt haben und sich eigenmächtig, vielleicht sogar gewalttätig zusammenschließen. Und dann ist die Zerstreuung, von der die Geschichte am Ende berichtet, zumindest nicht nur Strafe, sondern auch Wiederherstellung des göttlichen Schöpfungsplans.

In dieser Perspektive ist auch das Pfingstwunder der Apostelgeschichte zu lesen. Denn dort wird ja nicht behauptet, die Parther und Meder und Elamiter hätten alle eine einzige Sprache gesprochen. Nein, ihre Sprachen blieben unterschiedlich. Neu und wunderbar ist nur, dass sie alle ihre unterschiedlichen Sprachen nun gegenseitig verstanden. Und diese Gemeinschaft im Hören ist das Wunder von Pfingsten.

Diese Linie kann man auch zur Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa weiterdenken. Die „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ kann eben nicht nur vorne betont werden, sondern auch hinten, als „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“. Methodisten müssen keine Reformierten werden, Unierte keine Lutheraner. Wichtig ist, dass sie sich als gemeinsam Hörende begreifen, dass sie auf Gottes Wort hören. Und aufeinander. Das ist nicht einfach: Eine lutherische Staatskirche wie in Dänemark kann sich nicht in gleicher Weise sozialpolitisch zur wirtschaftlichen Situation der EU äußern wie die Waldenser als Minderheitenkirche im katholischen Italien. Und die reichen und großen Landeskirchen in Deutschland haben ganz andere kirchliche Herausforderungen als die armen und wenigen Evangelischen in Osteuropa. Diese Verschiedenheit können wir nicht nur als Problem oder gar als göttliche Strafe begreifen. Sie bereichert uns auch, sie zeigt, wie evangelisches Christsein auch anders gelebt werden kann.

Und sie öffnet die Augen dafür, dass im Leben des 40jährigen Jubilars eben nicht nur alles Licht und Glanz ist. Sondern dass die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen auch nicht ganz von dem verschont geblieben ist, was bei menschlichen Jubilaren um die 40 manchmal die midlife-crisis genannt wird. Die in Leuenberg 1973 erklärte Kirchengemeinschaft ist eben nicht nur verwirklicht, sie muss auch immer wieder verwirklicht werden. Und zwar nicht nur auf der Ebene von Konsensdokumenten. Sondern vor allem im Leben der Kirchen und Gemeinden.
Wir verwirklichen Kirchengemeinschaft, indem wir gemeinsam Abendmahl feiern. Dazu heißt es in (Artikel 16) der Konkordie: „Wenn wir das Abendmahl feiern, verkündigen wir den Tod Christi, durch den Gott die Welt mit sich selbst versöhnt hat. Wir bekennen die Gegenwart des auferstandenen Herrn unter uns. In der Freude darüber, dass der Herr zu uns gekommen ist, waren wir auf seine Zukunft in Herrlichkeit.“
Und wir verwirklichen Kirchengemeinschaft, indem wir gemeinsam singen. Im Vorwort zum Gesangbuch „Colours of grace“ heißt es: „Einstimmend in das gemeinsame Lied erfährt die Gemeinde, dass sie zusammengehört, allem Trennenden zum Trotz.“

„Die Legende von Babylon / und was geschah /
das ist nun ein paar Tausend Jahre her /
und heute, versteht heute der eine Mensch den anderen?“

Nun, immerhin die evangelischen Kirchen in Europa verstehen einander. Allem Trennenden zum Trotz. Zumindest besser als sie das vor einem halben Jahrhundert getan haben. Sie haben Gemeinschaft erfahren. Diese Erfahrung wünsche ich auch mir und wünsche ich uns. Jetzt im Gottesdienst und darüber hinaus, in der ganzen Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa.


Amen.

Quelle: Kirchengemeinschaft erklärt und verwirklicht. Predigt über Gen. 11,1-9 anlässlich des 40jährigen Jubiläums der Leuenberger Konkordie am 17. März 2013 in St. Petri Dortmund, in: 40 Jahre Leuenberger Konkordie. Kirchengemeinschaft als zukunftsweisendes Modell kirchlicher Einheit? (epd-Dokumentation Nr. 43 v. 22.10.2013), S. 27-29

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Kirchliches Musikalisches

„Ein bisschen Frieden“

Vor einigen Jahren habe ich – zusammen mit dem Kirchenmusiker Matthias Nagel (damals Beauftragter der Ev. Kirche von Westfalen für Popularmusik) – eine Tagung zum Thema „Kirche und Schlager“ veranstaltet, die dann auch in einer Buchveröffentlichung mit dem Titel „Ein bisschen Frieden… Schlager und Kirche im Gespräch dokumentiert wurde.

Immer mal wieder gab und gibt es Anfragen dazu. Am 14. November 2022 hat der Bayrische Rundfunk für seine Sendung „Theologik“ ein spannendes Interview mit mir geführt. Die Sendung ist als Podcast auch nach der Ausstrahlung verfügbar (etwa ab der 20. Minute komme ich dazu). Es ging, natürlich, um Nicole („Ein bisschen Frieden“) und den biblischen Schalom, es ging um Karat („Über sieben Brücken musst du gehn“) und Psalm 23, es ging um Tiefgang und Oberflächlichkeit, um Familienbilder und Gesellschaftsentwürfe. Ganz im Sinne dessen, was ich in der Einleitung zum Buch 2014 geschrieben habe:

Wie eine Blume am Winterbeginn / so wie ein Feuer im eisigen Wind,
wie eine Puppe, die keiner mehr mag, / fühl ich mich am manchem Tag.
Dann seh ich die Wolken, die über uns sind, / und höre die Schreie der Vögel im Wind.
Ich singe aus Angst vor dem Dunkel mein Lied / und hoffe, dass nichts geschieht.

So beginnt Nicoles legendärer Schlager aus dem Jahr 1982: Ein bisschen Frieden. Damals gewann sie als 17jährige im adretten Kleid mit ihrer weißen Gitarre das, was heute „ESC“ heißt und damals Grand Prix Eurovision de la Chanson, der Große Preis des europäischen Schlagers. 32 Jahre später, also nach einer Generation, fragen wir: Wie ist das mit dem „und“ zwischen Schlager und Kirche? Passt das dahin? Oder gerade nicht? Und warum?
Anders als Nicole hoffen wir aber nicht, „dass nichts geschieht“. Sondern wir hoffen, dass etwas geschieht. Und damit meinen wir nicht nur die Frage, ob Schlagersänger in einer Kirche auftreten dürfen. Das hat Nicole schon getan, die 2009 erstmals auf eine Kirchentournee ging. Und im vergangenen Jahr 2013 gab es in Minden und darüber hinaus etwas Unruhe, als Heino in der St. Marien-Kirche auftrat.
Aber uns geht es nicht um Kirchgebäude als besonders coole Location für weltliche Schlagermusiker. Sondern wir wollen tiefer ansetzen. Für die meisten Pfarrer und Pfarrerinnen, für die meisten hauptberuflichen Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker wird das etwas sein, was sie nicht regelmäßig tun. Denn sie gehören einem Milieu an, dass sich musikalisch oft durch den Satz charakterisieren lässt: „Ich höre alles außer Schlager“. Aber wenn der Schlager zu den populärsten Musikformen gehört, wie die Albumcharts im Januar 2014 zeigen, die von Helene Fischer („Farbenspiel“, Platz 1) angeführt werden, Andrea Berg folgt bald danach („Atlantis“, Platz 4) – und wenn das auch viele Gemeindeglieder so empfinden und also unsere Kirchengemeinden zu einem großen Anteil aus Schlagerhörern bestehen – warum sollten wir uns kategorisch davon distanzieren?
Eine Beschäftigung mit dem Schlager ist bisher in der Kirche zumeist unterblieben, wenn es doch geschah, dann meistens in abgrenzender Form. Wir wollen das ändern – und vielleicht gibt es als Ergebnis dieser Beschäftigung so etwas wie „ein bisschen Frieden“ zwischen Kirche und Schlager.
Aber was ist das eigentlich, ein Schlager? Ich gebe offen zu, mich damit erst im letzten Jahr wirklich intensiver beschäftigt zu haben. Denn auch ich gehöre dem Milieu an, das von sich behauptet: „Ich höre alles, außer Schlager“. Aber was höre ich denn nicht? Was ist ein Schlager? Wie fast immer, wenn man einfache Fragen stellt, sind die Antworten gar nicht so einfach. Es sind kluge Abhandlungen darüber verfasst worden, was denn wann als Schlager verstanden worden ist. Das variiert nämlich sehr, je nachdem, ob man sich im 19., im 20. oder im 21. Jahrhundert befindet, je nachdem ob man musikalisch, soziologisch, psychologisch, ökonomisch oder gar theologisch denkt. Möglicherweise war der erste Schlager „An der schönen blauen Donau“ 1867. Damals ist der Begriff „Schlager“ vor allem für solche Musikstücke verwendet worden, in denen den Zuhörern in sprachlichen Anspielungen eine gewisse frivol-erotische Doppeldeutigkeit schlagartig bewusst wurde.
In den 1920er Jahren differenzierte man zwischen „Gassenhauern“ und „Schlagern“ – manche haben damals den Gassenhauer als kulturell höherwertig verstanden, weil er aus dem Volk heraus entstand und diesem nicht übergestülpt werde. So schrieb ein entsprechender Kritiker 1924: „Die massenpsychologische Wirkung des Schlagers beruht auf dem Gesetz des geringsten Aufwandes musikalischer Energie. Wiederholung der gleichen akustischen Einwirkung wirkt energiesparend und ist lustbetont [und das ist dann natürlich negativ zu bewerten]; je primitiver musikalisch empfunden wird, desto sicherer die Wirkung.“
Wenn heutzutage Schlagermusik und Volksmusik oft in eins gesetzt werden, dann irritiert ein Blick in die 1940er Jahre, als innerhalb der nationalsozialistischen Ideologie der Schlager zum Inbegriff aller sogenannten volksfremden Musik wurde, deren Urheber selbstverständlich im Judentum lokalisiert wurden.
Seit den 1950er Jahren wird der Begriff „Schlager“ als eine „Kurzform leicht eingängiger Tanz- und Unterhaltungsmusik“ oder als Bezeichnung für „einfache liedartige Melodien, die leicht zu behalten sind“ bezeichnet. Vielleicht lassen sich diese Formulierungen als Arbeitsdefinition verwenden. Wobei der Begriff weiterhin schwer zu umgrenzen und damit an den Rändern durchaus unscharf bleibt. So konnte das „Fach“magazin „Prisma“ in einem Artikel über „Andreas Gabalier und die Rückkehr des Schlager“ im August 2013 titeln: „Rock’n’Roll in Lederhosen“. Ja, was denn nun: Schlager oder Rock’n’Roll? Oder hat vielleicht doch die Deutsche Bahn recht, als sie in ihrem Kundenmagazin im Dezember 2013 anlässlich eines Artikels über Helene Fischer titelte: „Schlager wird Pop“?
Eine grundlegende Kritik am Schlager kam von Theodor Adorno. Er sah den Schlager als Teil der Kulturindustrie und wies auf den zunehmenden Warencharakter der Kultur hin. Besonders bei der Musik beeinflusse die Industrie in ihrer Rolle als Vermittler zwischen Werk und Konsument das Subjekt stark. Musik mutiere zum Massenprodukt des Amüsements. Popular music war Adorno ein besonderer Dorn im Auge. Sie führe zu einer Regression des Hörens. Der Rezipient sei gar nicht mehr in der Lage, Werke zu beurteilen, denn, so schreibt Adorno, „die Bekanntheit des Schlagers setzt sich an Stelle des ihm zugesprochenen Wertes“. Der Hörer setze das Wiedererkennen eines Stückes an Stelle des Wertens. Er sei also gar nicht mehr fähig aus seiner von „standardisierten Musikwerken“ umzingelten Situation herauszubrechen und die Musik objektiv zu betrachten. Der Einfluss der Medien und der Industrie mache den Bürger unmündig. Adorno formulierte seine Kritik in einer Zeit eines musikalischen Umbruchs, nämlich des Einbruchs der internationalen Pop- und Rockmusik in die deutsche und damit deutschsprachige Musikszene.
Die Deutschsprachigkeit scheint ein ganz wichtiges Kriterium des Schlagers zu sein. Während 1962 noch fast alle Hits in Deutschland auf Deutsch gesungen wurden, waren es zum Ende dieses bewegten Jahrzehnts nur noch 5-10%. Und lange Jahre blieb das auch so, vielleicht kurz unterbrochen von der Neuen Deutschen Welle in den frühen 80ern. Mit einem Blick auf die heutigen Charts und auf die Beliebtheit mancher traditioneller Schlagersender kann man fragen: Sind wir wieder auf dem Weg in die 50er? Oder ist der Schlagerhype nur gehypt? Tatsächlich ist es ja so, dass auf den sogenannten Schlagersendern viel Englisches gespielt wird und manches, was eindeutig nicht aus dem Bereich des Schlagers kommt, der Generation Ü40 aber dennoch in ähnlicher Weise vertraut ist.
Was hat das Ganze nun mit der Kirche zu tun? Das hat in ähnlicher Weise schon 2002 die EKD-Kulturdenkschrift „Räume der Begegnung“ gefragt. Und sie hat damals als eines der Ziele der Begegnung von Kirche und Kultur das „Ernstnehmen des Trivialen“ propagiert. In ihrer Analyse des Trivial-Populären haben die Autoren der Denkschrift Adorno widersprochen: „Die kulturindustriellen Produktionsformen, die der Gewinnmaximierung dienen, mindern weder automatisch die Qualität eines Produkts noch bestimmen sie die Werte, die es vermittelt.“ Die Denkschrift vermeidet es klug, das Religiöse und das Triviale zu identifizieren – oder auf unserer Thema übertragen: den Schlager und die Kirche. Sie stehen zu einer Beziehung zueinander, aber sie sind nicht eins. Wieso sollte sich die evangelische Kirche mit etwas so Trivialem wie dem Schlager beschäftigen? Ich zitiere die EKD-Denkschrift auch deshalb, weil sie mein eigenes Interesse trifft: „Es liegt in der Technik, Komplexität in emotionale Eindeutigkeit zu übersetzen. Oder anders gesagt: Das Triviale ist einer von mehreren Wegen, der protestantischen Verkopfung zu ent-gehen.“ Von anderen lernen, heißt es also wieder einmal.
Oder haben wir das schon längst getan? Hat nicht mit dem sogenannten Neuen Geistlichen Lied der Schlager schon Einzug in die Kirche gehalten? „Danke für diesen guten Morgen“ (EG 334) hat nicht umsonst nicht nur in der Kirche, sondern auch auf Schlager-CDs seinen Platz gefunden, bis hin zu der Sammlung von Partykrachern eines Mickie Krause. Und als wir im Landeskirchenamt 2012 im „Jahr der Kirchenmusik“ alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach ihrem Lieblingslied im Gesangbuch gefragt haben, kam ein kirchlicher Schlager auf Platz 1: „Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer“ (EG RWL 663). Ist das ein Grund zum Spotten oder heißt das nur, dass die Menschen im LKA gar nicht so abgehoben von der kirchlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit sind, wie manchmal vermutet wird?
Jedenfalls erscheint es notwendig, dass in der Kirche Berührungsängste und Vorurteile gegenüber dem Schlager abgebaut werden. Wenn wir populäre Musik wie Jazz, Rock und Pop als ernstzunehmenden Teil der Kirchenmusikszene ansehen, wie weit gilt das dann auch für den Schlager? Eines ist allerdings klar, bei allen Formen von klassischer und populärer Kirchenmusik: Wir müssen auf Qualität achten und in der Aus-, Fort- und Weiterbildung auch selbst dafür sorgen. Gegebenenfalls auch beim Schlager.
In seiner Autobiographie berichtet Marcel Reich-Ranicki von einem Erlebnis aus seiner Schulzeit, das diese Hochschätzung der Qualität auch außerhalb der Hochkultur anschaulich macht: „Als die Schüler, die ein Instrument beherrschten, etwas zum besten geben sollten und einer – und zwar ein Jude – im Unterschied zu den anderen, die mit klassischen Stücken aufwarteten, einen miserablen Schlager klimperte, befürchteten wir, [unser Lehrer] Steineck werde ihn streng zu-rechtweisen. Doch was vorgefallen war, hatte ihn nicht empört, sondern nur betrübt. Er sagte ganz leise: ‚Dies war schlechte Musik. Aber auch schlechte Musik kann man anständig spielen.‘“

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Kirchliches

Du bist der Mann!

Andacht im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Westfalen am 30. August 2022
(mit Dank für die Inspiration durch Prof. Dr. Thomas Naumann in Kommentar und Predigtmeditation)

Liebe Gemeinde,

manchmal sind biblische Texte gar nicht langweilig fromm, sondern voller Drama, Sex & Crime. Die Geschichte von König David und Batseba ist so eine. Der große König David sieht eines Tages zufällig vom Dach seines Hauses, wie sich die schöne Batseba ein paar Häuser nackt wäscht. Obwohl er weiß, dass sie die Frau seines Soldaten Uria ist, lässt er sie durch Boten in den Palast holen und schläft mit ihr. Sie wird schwanger. David setzt Uria direkt an der Front ein, der auch prompt stirbt. Höflicherweise wartet er die Trauerzeit von Batseba ab, dann holt er sie in den Palast, heiratet sie und bekommt einen Sohn von ihr. Clever gemacht. Aber er hat nicht mit Gott gerechnet. Der schickt seinen Propheten zu einem dramatischen Auftritt.

Wie die Geschichte weitergeht, steht in 2. Samuel 12. Der Predigttext vom vorgestrigen Sonntag:

1 Und der HERR sandte Nathan zu David. Als der zu ihm kam, sprach er zu ihm: Es waren zwei Männer in einer Stadt, der eine reich, der andere arm. 2 Der Reiche hatte sehr viele Schafe und Rinder; 3 aber der Arme hatte nichts als ein einziges kleines Schäflein, das er gekauft hatte. Und er nährte es, dass es groß wurde bei ihm zugleich mit seinen Kindern. Es aß von seinem Bissen und trank aus seinem Becher und schlief in seinem Schoß, und er hielt’s wie eine Tochter. 4 Als aber zu dem reichen Mann ein Gast kam, brachte er’s nicht über sich, von seinen Schafen und Rindern zu nehmen, um dem Gast etwas zuzurichten, der zu ihm gekommen war. Und er nahm das Schaf des armen Mannes und richtete es dem Mann zu, der zu ihm gekommen war. 5 Da geriet David in großen Zorn über den Mann und sprach zu Nathan: So wahr der HERR lebt: Der Mann ist ein Kind des Todes, der das getan hat! 6 Dazu soll er das Schaf vierfach bezahlen, weil er das getan und sein eigenes geschont hat. 7 Da sprach Nathan zu David: Du bist der Mann! So spricht der HERR, der Gott Israels: Ich habe dich zum König gesalbt über Israel und habe dich errettet aus der Hand Sauls 8 und habe dir deines Herrn Haus gegeben, dazu seine Frauen in deinen Schoß, und habe dir das Haus Israel und Juda gegeben; und ist das zu wenig, will ich noch dies und das dazutun. 9 Warum hast du denn das Wort des HERRN verachtet, dass du getan hast, was ihm missfiel? Uria, den Hetiter, hast du erschlagen mit dem Schwert, seine Frau hast du dir zur Frau genommen, ihn aber hast du umgebracht durch das Schwert der Ammoniter. 10 Nun, so soll von deinem Hause das Schwert nimmermehr lassen, weil du mich verachtet und die Frau Urias, des Hetiters, genommen hast, dass sie deine Frau sei. […] 13 Da sprach David zu Nathan: Ich habe gesündigt gegen den HERRN. Nathan sprach zu David: So hat auch der HERR deine Sünde weggenommen; du wirst nicht sterben. 14 Aber weil du die Feinde des HERRN durch diese Sache zum Lästern gebracht hast, wird der Sohn, der dir geboren ist, des Todes sterben. 15 Und Nathan ging heim.

Wenige Worte des von Gott gesandten Propheten Nathan reichen aus und der kluge Plan Davids fällt in sich zusammen. „Du bist der Mann“. Dein ganzes Gerede von Gerechtigkeit ist hohl, wenn Du immer nur die Ungerechtigkeit des anderen siehst und nicht Deine eigene Ungerechtigkeit. Das Batseba-Syndrom heißt das heutzutage in Führungskräfteseminaren, wenn es um das moralische Versagen von Führungskräften auf dem Höhepunkt ihrer Karriere geht. David leidet sichtbar an diesem Syndrom. Und er ist nicht der Einzige. Weder damals noch heute.

Wie sehr wünsche ich mir heute einen Nathan, der den Mächtigen in der Welt, in Staat, Gesellschaft und Kirche mutig sagt: Dein Beharren auf Frieden, auf Klimaschutz, auf sozialen Ausgleich ist dann falsch, wenn Du immer nur von anderen forderst, aber nichts selbst dafür tust. Setzen Sie hier ein, wen Sie mögen: ob es Putin ist oder sonst irgend jemand anders. Wie oft wünsche ich mir, dass Gott diesen Mächtigen dann nicht nur sagt, sondern auch zeigt, dass ihr Handeln falsch ist.

Aber dann muss ich mir sagen lassen: Du, Vicco von Bülow, bist der Mann. Was ist Dein Anteil am Unfrieden, an der Umweltzerstörung, an sozialer Ungerechtigkeit?
Wenn ich mit dem Zeigefinger auf jemanden anderen zeige, zeigen drei Finger auf mich zurück.

Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, stehe ich nicht auf Nathans Seite. Sondern ich stehe da neben David. Er möchte niemanden hinter seine Fassade blicken lassen . So bin ich manchmal auch. Und dann kann ich nur hoffen, dass ich die Kraft habe, die David hatte, als er erkennt, dass er der Mann aus Nathans Geschichte ist: „Ich habe gesündigt gegen den Herrn.“ Anzuerkennen, dass ich selbst derjenige bin, der den Mist gebaut hat, das ist nicht einfach. Aber die biblische Geschichte sagt es: Es ist die einzige Voraussetzung, um mit Gott voranzukommen. Nathan reagiert unmittelbar auf das Schuldbekenntnis Davids: „So hat auch der Herr deine Sünde weggenommen.“ Gegen die Sünde kann nur Gott etwas tun. Die reformatorische Überzeugung von der Rechtfertigung des Menschen durch die Gnade Gottes kann hier anknüpfen.

Aber in der Geschichte von David und Batseba und Nathan steckt viel mehr als nur die Bestätigung der Rechtfertigungslehre, die uns evangelischen Theologen so gut gefallen würde. Die Bibel ist immer reichhaltiger als alle noch so reichhaltige Theologie. Aber manchmal enthält sie auch etwas, das mich irritiert, auch wenn ich kluge Exegeten finde, die mir erklären, was damit gemeint sein könnte.

Ein Beispiel will ich Ihnen und Euch zumuten. Denn der Predigttext, den die Perikopenordnung vorgeschlagen und den die Lektorin vorhin vorgelesen hat, ist nicht der komplette Bibeltext. Am Ende der Anklage, die Nathan im Namen Gottes an David richtet, fehlen zwei Verse, die Verse 11 und 12. Die holen wir jetzt nach:

11 So spricht der HERR: Siehe, ich will Unheil über dich kommen lassen aus deinem eigenen Hause und will deine Frauen nehmen vor deinen Augen und will sie deinem Nächsten geben, dass er bei deinen Frauen schlafen soll an der lichten Sonne. 12 Denn du hast’s heimlich getan, ich aber will dies tun vor ganz Israel und im Licht der Sonne.

Davids Sünde hat Folgen. Nicht nur für ihn selbst. Sondern auch für das gemeinsame erste Kind mit Batseba: der Sohn muss sterben. Und auch für die anderen Frauen Davids (so ein König hatte natürlich mehrere) bedeutet der Fehltritt Schlimmes. Er hat im Geheimen Ehebruch begangen. Seine Nebenfrauen sollen im Licht der Sonne vergewaltigt werden. Vier Kapitel später passiert genau das: Davids Sohn Absalom versucht, seinen Vater zu stürzen – und ein grausames Mittel auf diesem Weg ist die öffentliche Vergewaltigung von Davids Nebenfrauen.

Intellektuell kann ich nachvollziehen, was hier passiert. Aber ich kann es nicht wirklich verstehen.

Statt um die Schuld eines einzelnen Mannes geht es jetzt um seine Bestrafung, indem es an seine Ehre geht. Im patriarchalischen System sind es die Frauen eines Mannes, die seine Ehre oder seine Schande repräsentieren. Auf ihrem Körper wird das Ganze ausgetragen.

Ich kann nachvollziehen: Schuldvergebung für David heißt nicht, dass die Folgen seiner Sünde in der Welt komplett zunichte gemacht werden. David erfährt Vergebung, aber der Fluch seiner bösen Taten bleibt in der Welt. Nur David als Person, er allein wird entbunden von den Folgen seines Tuns.

Das kann ich nachvollziehen, aber verstehen kann ich es nicht. Denn sein Kind und seine Frauen müssen unter den Folgen von Davids Tun leiden, sterben.

Wenn wir in der Kirche vom Anspruch der Bibel auf unser Leben überzeugt sind, wenn wir glauben, dass die Bibel uns persönlich etwas zu sagen hat, dann kann das nicht für alle Verse der Bibel gleichermaßen gelten. Diese beiden Verse sind eine Belastung für das Gottesbild, das mir die Bibel erzählt, „eine schwer erträgliche Zumutung biblischer Gottesrede“ (Thomas Naumann). Sie zeigen mir erneut, dass die Bibel nicht buchstäblich verstanden werden kann. Dass sie gedeutet werden muss. Ich bin noch lange nicht fertig mit der Deutung dieser Geschichte.

Davids kurzes Schuldbekenntnis ist mir zu knapp: „Ich habe gesündigt gegen den HERRN“. Ist das alles?

Offensichtlich ist das schon anderen so gegangen. Denn der Psalm 51,den wir vorhin gemeinsam gebetet haben, enthält ein ausführlicheres Schuldbekenntnis. Er ist überschrieben „Ein Psalm Davids, vorzusingen, als der Prophet Nathan zu ihm kam, nachdem er zu Batseba eingegangen war.“

Deshalb komme ich am Ende auf diesen Psalm zurück,. Dort wird das „Gott, sei mir Sünder gnädig“ ausführlicher ausgesprochen:

3 Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte, und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit. 4 Wasche mich rein von meiner Missetat, und reinige mich von meiner Sünde; 5 denn ich erkenne meine Missetat, und meine Sünde ist immer vor mir.

11 Verbirg dein Antlitz vor meinen Sünden, und tilge alle meine Missetat. 12 Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, beständigen Geist. 13 Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir.

Amen.

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Kirchliches

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Predigt am 14.08.2022 (9. S. n. Tr.) in der Ev.-Luth. Kirchengemeinde Gehlenbeck anlässlich des 125(+1)jährigen Jubiläums des Posaunenchors
(mit Dank an Lars Hillebold für die inspirierende Göttinger Predigtmeditation zum Text!)

Liebe Gemeinde,

na super. Seit Monaten freue ich mich darauf, hier in Gehlenbeck die Festpredigt zum 125jährigen Jubiläum des Posaunenchors zu halten. Coronabedingt hat das immer wieder verschoben werden müssen. Zuletzt im März, weil da kaum ein Posaunenchor da gewesen wäre, dessen Jubiläum man hätte feiern können. Im August passt’s endlich für alle. Die Sonne scheint, die Kirche ist voll. Und dann: nichts als Heulen und Zähneklappern. Na super.

Das hat man davon, wenn man sich an den Predigttext hält, der für diesen 14. August, den 9. Sonntag nach Trinitatis, vorgeschlagen ist. Der läuft nämlich auf das Heulen und Zähneklappern hinaus. Auf das Wehklagen und Zähneknirschen. Auf das laute Jammern und das angstvolle Zittern und Beben. Je nachdem, welche Übersetzung man so nimmt.

Ich lese Ihnen das Gleichnis von den anvertrauten Talenten nach der Neuen Genfer Übersetzung vor, der Predigttext steht im Matthäusevangelium, im 25. Kapitel (V. 14-30):

14 Es [Das Himmelreich] ist wie bei einem Mann, der vorhatte, in ein anderes Land zu reisen. Er rief seine Diener zu sich und vertraute ihnen sein Vermögen an.
15 Einem gab er fünf Talente, einem anderen zwei und wieder einem anderen eines – jedem seinen Fähigkeiten entsprechend. Dann reiste er ab.
16 Der Diener, der fünf Talente bekommen hatte, begann sofort, mit dem Geld zu arbeiten, und gewann fünf weitere dazu.
17 Ebenso gewann der, der zwei Talente bekommen hatte, zwei weitere dazu.
18 Der aber, der nur ein Talent bekommen hatte, grub ein Loch in die Erde und versteckte das Geld seines Herrn.
19 Nach langer Zeit kehrte der Herr zurück und forderte seine Diener auf, mit ihm abzurechnen.
20 Zuerst kam der, der fünf Talente erhalten hatte. Er brachte die anderen fünf Talente mit und sagte: ›Herr, fünf Talente hast du mir gegeben; diese fünf hier habe ich dazugewonnen.‹ –
21 ›Sehr gut‹, erwiderte der Herr, ›du bist ein tüchtiger und treuer Diener. Du bist mit dem wenigen treu umgegangen, darum will ich dir viel anvertrauen. Komm herein zum Freudenfest deines Herrn!‹
22 Dann kam der, der zwei Talente erhalten hatte. ›Herr‹, sagte er, ›zwei Talente hast du mir gegeben; hier sind die zwei, die ich dazugewonnen habe.‹ –
23 ›Sehr gut‹, erwiderte der Herr, ›du bist ein tüchtiger und treuer Diener. Du bist mit dem wenigen treu umgegangen, darum will ich dir viel anvertrauen. Komm herein zum Freudenfest deines Herrn!‹
24 Zuletzt kam auch der, der ein Talent bekommen hatte. ›Herr‹, sagte er, ›ich wusste, dass du ein harter Mann bist. Du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst ein, wo du nicht ausgestreut hast.
25 Deshalb hatte ich Angst und vergrub dein Talent in der Erde. Hier hast du zurück, was dir gehört.‹
26 Da gab ihm sein Herr zur Antwort: ›Du böser und fauler Mensch! Du hast also gewusst, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und einsammle, wo ich nicht ausgestreut habe.
27 Da hättest du mein Geld doch wenigstens zur Bank bringen können; dann hätte ich es bei meiner Rückkehr mit Zinsen zurückbekommen.‹
28 ›Nehmt ihm das Talent weg und gebt es dem, der die zehn Talente hat!
29 Denn jedem, der hat, wird gegeben, und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat.
30 Doch diesen unnützen Diener werft in die Finsternis hinaus, dorthin, wo es nichts gibt als lautes Jammern und angstvolles Zittern und Beben.‹

Tja. Da hab‘n wir’s: lautes Jammern und angstvolles Zittern und Beben. Der heutige Predigttext nimmt so gar keine Rücksicht darauf, dass wir hier ein Jubiläum feiern wollen.

Aber eigentlich weiß ich, und Sie wissen das auch: Die Bibel ist nicht für den Posaunenchor und sein Jubiläum da. Sondern der Posaunenchor ist für die Bibel da und für die Verkündigung des Gottes, der sich in dieser Bibel offenbart. Da könnte man sagen: Pech für den Prediger, Pech für die Festgemeinde.

Doch ich will mich damit nicht zufrieden geben. Deshalb zwei Versuche, sich dem heutigen Predigttext anders zu nähern. Der erste: Gibt’s da nicht noch mehr in Matthäus 25 als nur Heulen und Zähneklappern? Der zweite: Gibt’s da nicht noch mehr im Matthäus-Evangelium als nur diesen Text?

Der erste Versuch: Gott und die Menschen in Matthäus 25.
Ja, es stimmt, der Predigttext über die drei Diener, ihre Talente und ihren Herrn endet mit Heulen und Zähneklappern. Er besteht aber nicht nur daraus. Bei zwei von drei Dienern geht die Sache gut aus. Richtig gut.

Diese beiden Diener bekommen von ihrem Herrn vor dessen großer Reise einen Teil seines Vermögens zur Verwaltung. Und wenn man mal genauer nachrechnet, sind 1 Talent 6000 Denare. Und 1 Denar ist nach dem Gleichnis der Arbeiter im Weinberg (Mt 20) 1 Tageslohn. Der erste Diener bekommt also über 80 Jahresgehälter, der zweite Diener immerhin über 30 Jahresgehälter. Sie legen sie klug an und verdoppeln die Summe. Und als ihr Herr zurückkommt, können sie ihm über 220 Jahresgehälter übergeben.

Das sind Dimensionen, die sind so irreal hoch, dass man schnell merkt: Es geht hier eigentlich gar nicht ums Geld. Sorry, liebe anwesende Bankkaufleute. Es geht um die andere Bedeutung des Wortes „Talent“, das Martin Luther noch mit „Zentner“ übersetzt hat. Es heißt auch Begabung, Leistungsfähigkeit, Potenzial.

Es geht also darum, was wir mit unserem Potenzial machen, mit den Fähigkeiten, mit denen wir begabt worden sind. Die ersten beiden Diener haben den Mut, etwas zu riskieren. Sie setzen ihre Talente ein. Und weil das klappt, werden sie von ihrem Herrn belohnt. Allerdings nicht etwa mit einer gut dotierten Pension, damit sie sich zur Ruhe setzen können. Sondern mit einem noch größeren Auftrag. Ein jüdischer Spruch aus der damaligen Zeit lautet: „Der Lohn für die Gebotserfüllung ist (weitere) Gebotserfüllung“. Gottes Gabe kann also nie ruhender Besitz sein, sie muss leben und weiter wirken. Gerade wenn man viel Talent hat. Ob das nun das Talent zum Musizieren ist. Oder das Talent zum Zuhören. Das Talent zum Organisieren. Oder das Talent zum kritischen Nachfragen. Es geht darum, dass wir etwas mit den Begabungen machen, die uns Gott geschenkt hat. Einige Begabungen feiern wir heute besonders. Aber ich bin mir sicher, dass Gehlenbeck noch mehr Talente hat, die darauf warten, zum Einsatz zu kommen.

Und dann steht über diesem Einsatz die Verheißung, dass der Herr sagt: „du bist ein tüchtiger und treuer Diener“. Das Wort „treu“ in seiner griechischen Wurzel bedeutet eigentlich „gläubig“. Wer glaubt, setzt seine von Gott geschenkten Talente fruchtbar ein.

Eigentlich, liebe Gemeinde, wäre es schön, wenn der Predigttext jetzt enden würde. Aber nach den ersten beiden kommt der dritte Diener. Der geht anders vor. Er verschleudert das Geld nicht, riskiert nicht den Komplettverlust. Auf eine gewisse Art und Weise handelt er durchaus verantwortungsbewusst. Wenn auch zu passiv, zu defensiv. Und das wirft ihm der Herr vor: Du hättest dein Talent zur Bank bringen können, um zumindest den Minimalzins zu bekommen. Aber nein: Er steckt den Kopf und die Gaben in den Sand. Und dann wird ihm sein Talent genommen.

Und zwar nicht deshalb, weil er nichts hat, sondern weil er nichts getan hat. Der Herr schimpft ihn einen bösen und faulen Diener. Das Wort „faul“ heißt hier eigentlich „ängstlich“. Und tatsächlich hat dieser Diener Angst vor dem Herrn. Er sagt es selbst: „du bist ein harter Mann“. Und wie bei einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung erweist sich der Herr dann als hart – dem Diener wird sein übriggebliebenes Talent genommen. Er wird in die Finsternis geworfen. Es bleiben Heulen und Zähneklappern.

Die eigentliche Ursache ist also das Bild, das der Diener von seinem Herrn hat. Welches Bild habe ich von Gott? Welches Bild haben Sie? Ich glaube, dass es die dunklen Seiten Gottes durchaus gibt. Gott ist nicht nur eia-popeia-lieb; Gott ist nicht harmlos. Aber trage ich als Gottesbild nur das Gottesklischee vom „harten Mann“ in mir? Dann könnte auch mich die sich selbst erfüllende Prophezeiung erwischen.

Mein erster Versuch, mit dem angstvollen Jammern und Zittern und Beben umzugehen, ist offenbar noch nicht genug. Deshalb nun der zweite.

Bei meinem zweiten Versuch, den Predigttext aus Matthäus 25 zu verstehen, hole ich mir Hilfe von zwei weiteren Texten aus dem Matthäusevangelium. Martin Luther hat ja einmal gesagt, dass die beste Bibel-Auslegung die Bibel selbst ist.

Fünf Talente und zwei Talente? Erinnern Sie diese Zahlen an was? Im 14. Kapitel des Matthäusevangeliums wird von fünf Broten und zwei Fischen erzählt, die die Jünger miteinander und mit der Volksmenge teilen. Und so vermehren sie sie, dass alle satt werden und am Ende noch ganz viel übrig bleibt.

Wie wäre es, wenn die Diener nicht einzeln für sich gewirtschaftet, sondern sich zusammengetan hätten? Wenn der erste und der zweite Diener dem dritten geholfen hätten? Und zwar so, dass alle satt werden und am Ende noch ganz viel übrig bleibt. Wenn der erste Diener seine fünf Brote, fünf Talente eingebracht hätte, der zweite Diener seine zwei Fische, Talente. Und wenn sie dann den dritten Diener aus seiner Ängstlichkeit herausgeholt hätten. Ihm ihre Vision eines freundlichen und großzügigen Gottes vermittelt hätten. Dann hätten sie zu dritt aus 8 Talenten 15 gemacht.

Die Talente mit den anderen teilen und sie so vermehren. Das wäre eine Vision von kirchlicher Gemeinschaft, die mir wesentlich besser gefällt, statt dass die einen immer mehr kriegen und die anderen immer weniger.

Wir können unsere Begabungen gemeinsam vermehren. Im Chor klingt jede Stimme besser als bloß alleine.

Und ein zweiter Text. Ich will vom Ende her denken. Von Matthäi am letzten. In Matthäus 28 sagt der auferstandene Herr Jesus seinen Jüngern zu, bei ihnen zu sein alle Tage bis ans Ende der Welt.

Das ist mein Taufspruch. Aber nicht nur mein Taufspruch, sondern auch mein Gottesbild: Ein Gott, der bei mir ist. Das stärkt mich. Das motiviert mich dazu, meine Talente einzusetzen. In meiner Welt und in meiner Kirche. Denn ich weiß: Beide haben es nötig. Die Welt und die Kirche.

Und ich weiß: Ich habe es nötig. Meine ängstlichen Gottesklischees abzubauen. Meinen Kopf und meine Talente aus dem Sand zu ziehen. Zu sehen, wieviele Schwestern und Brüder sich mit mir in dieser Kirche engagieren, wieviele wunderbare Begabungen wir gemeinsam haben. Und wie wir miteinander unsere Talente vermehren können.

Und so schließe ich mit dem Lied, das wir vor der Predigt gesungen haben (Ulrich Kaiser, EG RWL 668). Die letzte Strophe lautet:

„Wir wolln gehen an alle Enden, wir wolln gehen mit Jesus Christ, geben auch mit offnen Händen, was uns selbst gegeben ist.“

Amen.