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50 Jahre Leuenberger Konkordie

Im März 2023 gibt es ein 50jähriges Jubiläum!

Vom 12. bis 16. März 1973 wurde auf dem Leuenberg bei Basel die endgültige Textfassung der Leuenberger Konkordie reformatorischer Kirche in Europa erarbeitet und den beteiligten Kirchen übergeben. Die Evangelische Kirche von Westfalen unterzeichnete alsbald als siebte Signatarkirche. Damit war sie Teil der Kirchengemeinschaft zwischen den lutherischen, reformierten und den aus ihnen herausgegangene unierten Kirchen sowie den ihnen verwandten vorreformatorischen Kirchen der Waldenser und der Böhmischen Brüder. Die methodistischen Kirchen traten 1997 bei. Heute sind 95 Kirchen Mitglieder der „Gemeinschaft Evangelischer Kirche in Europa“ (GEKE), wie die Leuenberger Kirchengemeinschaft seit 2003 heißt. In der westfälischen Kirchenordnung ist festgehalten: Die EKvW „pflegt besondere Beziehungen zu den Kirchen, mit denen sie in Kirchengemeinschaft im Sinne der Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie) […] steht.“ (Art. 3 (2) KO EKvW). Auf der Landessynode der EKvW vom 21.-24. Mai 2023 wird das 50jährige Jubiläum deshalb auch eine wichtige Rolle spielen.

Zum 40jährigen Jubiläum der Leuenberger Konkordie habe ich in der Dortmunder St. Petri-Kirche eine Predigt gehalten, die vielleicht auch noch nach 10 Jahren noch interessant ist:

Liebe Gemeinde,

erinnern Sie sich noch an Bruce Low? Ein holländischer Schlager- und Countrysänger, der vor gut 30 Jahren ein paar Mal in der deutschen Hitparade vertreten war. Unter anderem mit einem Lied, das ich in meiner Jugend gerne gehört habe und das Sie vielleicht auch kennen. Mit seiner unnachahmlich tiefen Stimme (ja, deshalb sein Künstlername Bruce Low) sang er auf die Melodie von „By the rivers of Babylon“:
Die Legende von Babylon / und was geschah /
ist ein Lied aus längst vergangnen Tagen. /
Die Legende von Babylon / und was geschah /
hat uns auch heut’ noch allerhand zu sagen.“

Ich habe es lange nicht mehr gehört, dieses Lied, aber als ich mich daran erinnert habe, war es sofort wieder in meinem Kopf da. Ein Lied aus längst vergangenen Tagen, nun gut, aus dem Jahr 1978. Aber es bezieht sich auf ein Lied, eine Geschichte aus viel älterer Zeit, aus der sogenannten Urgeschichte. Also den Anfangsgeschichten der Bibel, die erklären oder noch besser: erzählen wollen, warum die Menschheit so ist wie sie ist.

Ich lese aus der Lutherübersetzung von 1. Mose 11:
„Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache.
Als sie nun nach Osten zogen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst.
Und sie sprachen untereinander: Wohlan, lasst uns Ziegel streichen und brennen! – und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel
und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis in den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder.
Da fuhr der HERR hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten.
Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun.
Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprche verwirren, dass keiner des anderen Sprache verstehe!
So zerstreute sie der HERR von dort in alle Länder, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen.
Daher heißt ihr Name Babylon, weil der HERR daselbst verwirrt hat aller Länder Sprache und sie von dort zerstreut hat in alle Länder.“

Soweit das 1. Buch Mose. – Zurück zu Bruce Low, der meint:
„Die Legende von Babylon, / und was geschah /
hat uns auch heut noch allerhand zu sagen.“

Was uns die Geschichte vom Turmbau zu Babel zu sagen hat, das singt Bruce Low in Form einer Frage:
„Die Legende von Babylon / und was geschah /
das ist nun ein paar Tausend Jahre her /
und heute, versteht heute der eine Mensch den anderen?“

Das sieht nicht nur Bruce Low so, das sehen auch die übliche theologische Deutung: Das zentrale Motiv der Turmbaugeschichte ist die Sprachverwirrung. So wird die Geschichte dann traditionellerweise ausgelegt:
Die Menschheit hat einst in ungestörter Kommunikation und Gemeinsamkeit gelebt. Alle haben eine Sprache gesprochen. Dann haben die Menschen die – an sich positive – Technik des Ziegelbaus und der Verfugung zu einem hybriden Werk missbraucht, zu einem Turm, der an oder sogar bis in den Himmel ragen sollte. Meinten sie zumindest. In Wirklichkeit erzählt die Geschichte zweimal davon, dass Gott tief herabfahren musste, um den Turm überhaupt in Augenschein nehmen zu können. Was er sieht, entsetzt ihn. Die Menschen wollten sich einen Namen machen, auf Hebräisch Schem. Das zielte gegen Gott selbst, der im Hebräisch oft auch mit HaSchem – der Name bezeichnet wurde. Wer sich selbst einen Namen machen will, indem er den Himmel erstürmt, der lästert den Namen dessen, der im Himmel wohnt. Prompt folgt die Strafe auf dem Fuß: Gott verwirrt ihre Sprache, die Menschen verstehen einander nicht mehr, müssen den Bau abbrechen und werden in alle Winde, in alle Länder zerstreut.

Diese biblische Geschichte kommt in der Ordnung unserer Predigttexte zu Pfingsten vor. Und das Pfingstwunder ist dann die Gegengeschichte zum Turmbau zu Babel. Dank der Gabe des Heiligen Geistes können die Menschen aus aller Welt ihre unterschiedlichen Sprachen wieder verstehen: die Parther und Meder und Elamiter und wie sie in der Apostelgeschichte alle heißen.

Und in diesem Blickwinkel ist „die Legende von Babylon“ auch die Gegengeschichte zu dem, was wir heute feiern, zum 40. Geburtstag der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa. Die Situation vor 1973 ist geprägt gewesen von den vielen evangelischen Sprachen, von der Vielzahl reformatorischer Theologien und Kirchen. Das ist – quasi pfingstlich-wunderhaft – anders geworden durch den Text, der in unserem Gesangbuch unter die wichtigsten Bekenntnisse und Lehrzeugnisse der Kirche aufgeführt wird: durch die Leuenberger Konkordie. Darin haben inzwischen 106 evangelische Kirchen aus Europa ein gemeinsames Verständnis des Evangeliums festgestellt. Es ist nicht mehr so, dass einer des anderen Sprache nicht versteht. Wir haben einander zugehört, haben uns einander verständlich gemacht. Wir haben die Gegensätze in der Lehre vom Abendmahl, im Verständnis der Heilsbedeutung Jesu Christi und in der Theologie der Prädestination soweit überwunden, dass unsere unterschiedlichen Akzente nicht mehr kirchentrennend sind.
Wir können Kirchengemeinschaft erklären zwischen Reformierten und Lutheranern, zwischen Methodisten und Unierten und Waldensern und und und.
Das hört sich tatsächlich pfingstlich an: die Parther und die Meder und die Elamiter – sie alle kommen unter dem gemeinsamen Verständnis des Evangeliums zusammen.
Das ist die „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“, wie die Leuenberger Theologie treffend zusammengefasst worden ist. Und insofern eine Überwindung der babylonischen Sprachverwirrung, unter der wir alle gelitten haben.

Als Pfarrerin Stephanie Lüders und ich im letzten September [2012] an der 7. Vollversammlung der Gemeinschaft Evangelischer Kirche in Florenz teilgenommen haben, haben wir diese Gemeinschaft erfahren können. Haben mit Menschen aus anderen evangelischen Traditionen Abendmahl gefeiert, haben die Gemeinschaft zwischen unseren Kirchen im Gottesdienst bestätigt, haben gemeinsam Worte gefunden für unser Verständnis der frohen Botschaft, für unser Verstehen von Schrift und Bekenntnis. Haben uns als zusammengehörig erlebt trotz kultureller und historischer Unterschiede zwischen Schweden, Norwegern, Ungarn, Tschechen und Österreichern, ja sogar zwischen Westfalen und Rheinländern. Unglaublich, dass das erst seit vierzig Jahren so möglich ist. So selbstverständlich kam es uns vor. Die in Leuenberg 1973 erklärte Kirchengemeinschaft ist verwirklicht.

Doch das ist nur die eine Seite der Jubiläumsmedaille.
Die andere wird sowohl beim Blick auf die Leuenberger Kirchengemeinschaft deutlich als auch, wenn wir uns die Geschichte vom Turmbau zu Babel in einer anderen Perspektive anschauen. Denn: Ist die Vielfalt der Sprachen wirklich falsch? Ist die Ausbreitung der Menschen über die ganze Erde wirklich göttliche Strafe? Hat nicht Gott die Menschen dazu erschaffen, fruchtbar zu sein und sich zu mehren und die Erde zu füllen? (Gen 1,28) Und wird nicht in den Kapiteln vor dem heutigen Predigttext darauf hingewiesen, dass die Menschen eben das taten – sich über die Erde auszubreiten? (z.B. Gen 10,18) Folgen wir der biblischen Erzählung, dann bestand die Menschheit bereits aus vielen Völkern und vielen Sprachen, bevor sie von Osten her in Ebene Schinar kam und dort zu dem einen Volk mit der einen Sprache und dem eindeutigen Wortschatz wurde.
Wenn aus einer bunten Vielfalt von Sprachen, Dialekten und Kulturen Uniformität wird, dann riecht das, dann stinkt das nach Gewalt, Unterdrückung und zwangsweiser Assimilation. Wir kennen das aus der Geschichte immer wieder: Stammesgruppen, Ethnien, Völker werden in ihrer Identität gebrochen und zerbrochen, es wird ihnen verboten, ihre Muttersprache zu sprechen, ihnen werden fremde Namen gegeben.
Dann wäre die eigentliche Sünde von Babel, dass sich die Menschen der gottgewollten Vielfalt widersetzt haben und sich eigenmächtig, vielleicht sogar gewalttätig zusammenschließen. Und dann ist die Zerstreuung, von der die Geschichte am Ende berichtet, zumindest nicht nur Strafe, sondern auch Wiederherstellung des göttlichen Schöpfungsplans.

In dieser Perspektive ist auch das Pfingstwunder der Apostelgeschichte zu lesen. Denn dort wird ja nicht behauptet, die Parther und Meder und Elamiter hätten alle eine einzige Sprache gesprochen. Nein, ihre Sprachen blieben unterschiedlich. Neu und wunderbar ist nur, dass sie alle ihre unterschiedlichen Sprachen nun gegenseitig verstanden. Und diese Gemeinschaft im Hören ist das Wunder von Pfingsten.

Diese Linie kann man auch zur Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa weiterdenken. Die „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ kann eben nicht nur vorne betont werden, sondern auch hinten, als „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“. Methodisten müssen keine Reformierten werden, Unierte keine Lutheraner. Wichtig ist, dass sie sich als gemeinsam Hörende begreifen, dass sie auf Gottes Wort hören. Und aufeinander. Das ist nicht einfach: Eine lutherische Staatskirche wie in Dänemark kann sich nicht in gleicher Weise sozialpolitisch zur wirtschaftlichen Situation der EU äußern wie die Waldenser als Minderheitenkirche im katholischen Italien. Und die reichen und großen Landeskirchen in Deutschland haben ganz andere kirchliche Herausforderungen als die armen und wenigen Evangelischen in Osteuropa. Diese Verschiedenheit können wir nicht nur als Problem oder gar als göttliche Strafe begreifen. Sie bereichert uns auch, sie zeigt, wie evangelisches Christsein auch anders gelebt werden kann.

Und sie öffnet die Augen dafür, dass im Leben des 40jährigen Jubilars eben nicht nur alles Licht und Glanz ist. Sondern dass die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen auch nicht ganz von dem verschont geblieben ist, was bei menschlichen Jubilaren um die 40 manchmal die midlife-crisis genannt wird. Die in Leuenberg 1973 erklärte Kirchengemeinschaft ist eben nicht nur verwirklicht, sie muss auch immer wieder verwirklicht werden. Und zwar nicht nur auf der Ebene von Konsensdokumenten. Sondern vor allem im Leben der Kirchen und Gemeinden.
Wir verwirklichen Kirchengemeinschaft, indem wir gemeinsam Abendmahl feiern. Dazu heißt es in (Artikel 16) der Konkordie: „Wenn wir das Abendmahl feiern, verkündigen wir den Tod Christi, durch den Gott die Welt mit sich selbst versöhnt hat. Wir bekennen die Gegenwart des auferstandenen Herrn unter uns. In der Freude darüber, dass der Herr zu uns gekommen ist, waren wir auf seine Zukunft in Herrlichkeit.“
Und wir verwirklichen Kirchengemeinschaft, indem wir gemeinsam singen. Im Vorwort zum Gesangbuch „Colours of grace“ heißt es: „Einstimmend in das gemeinsame Lied erfährt die Gemeinde, dass sie zusammengehört, allem Trennenden zum Trotz.“

„Die Legende von Babylon / und was geschah /
das ist nun ein paar Tausend Jahre her /
und heute, versteht heute der eine Mensch den anderen?“

Nun, immerhin die evangelischen Kirchen in Europa verstehen einander. Allem Trennenden zum Trotz. Zumindest besser als sie das vor einem halben Jahrhundert getan haben. Sie haben Gemeinschaft erfahren. Diese Erfahrung wünsche ich auch mir und wünsche ich uns. Jetzt im Gottesdienst und darüber hinaus, in der ganzen Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa.


Amen.

Quelle: Kirchengemeinschaft erklärt und verwirklicht. Predigt über Gen. 11,1-9 anlässlich des 40jährigen Jubiläums der Leuenberger Konkordie am 17. März 2013 in St. Petri Dortmund, in: 40 Jahre Leuenberger Konkordie. Kirchengemeinschaft als zukunftsweisendes Modell kirchlicher Einheit? (epd-Dokumentation Nr. 43 v. 22.10.2013), S. 27-29

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Wissenschaftliches

Sieben Jahrhunderte Christentumsgeschichte

Rezension von:
Wolf-Friedrich Schäufele, Kirchengeschichte II: Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart (Lehrwerk Evangelische Theologie 4), Leipzig Evangelische Verlagsanstalt 2021. XX und 544 Seiten, gebunden, ISBN 9783374954848; 48,00€

Erneut liegt ein Band aus der gelungenen Reihe „Lehrwerk Evangelische Theologie“ vor, der auf „eine Leserschaft, die Freude an theologischer Bildung hat“ (V) zielt. Der Marburger Kirchenhistoriker Wolf-Friedrich Schäufele zeichnet mit „Kirchengeschichte II: Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart“ die letzten 700 Jahre Christentumsgeschichte nach.

Wissend, dass Kirchengeschichte nicht immer den besten Ruf hat, betont Schäufele in seinem konzisen Vorwort, dass das Verständnis für die Zusammenhänge wichtiger sei als Detail- und Datenwissen. Denn die Aufgabe der Kirchengeschichte sei es, verständlich zu machen, welche Transformationen und Neukonfigurationen dazu beitragen haben, dass „das Christentum, eine vor zwei Jahrtausenden im Vorderen Orient entstandene Religion, noch heute im 21. Jahrhundert […] von einer Mehrheit der Weltbevölkerung als ein plausibles Angebot der Welt- und Selbstdeutung, der Sinnstiftung und der moralischen Orientierung empfunden wird“ (XVII). Dabei sei im vorliegenden Band eine Konzentration auf Europa und Deutschland sinnvoll, um „angehenden Pfarrerinnen und Pfarrern und Religionslehrerinnen und Religionslehrern ein historisch begründetes Verständnis eben jener Gestalt des Christentums zu erschließen, mit der sie in ihrem Wirkungskreis aktuell konfrontiert sind und für die sie in ihrem Amt einzustehen haben“ (XVIII).

Die Einteilung in Zeitabschnitte ist etwas kleinschrittiger als üblich, aber einleuchtend. Im 1. Kapitel „Kirche und Theologie im Spätmittelalter (1294-1517)“ wird deutlich, dass auch diese Zeit mit ihren gesellschaftlichen, kirchenpolitischen und theologischen Entwicklungen zur Geschichte der evangelischen Kirche gehört. Ein Schwerpunkt liegt aber auf dem 16. Jahrhundert, das im 2. Kapitel „Die Reformation im deutschsprachigen Raum (1517-1555), im 3. Kapitel „Die Reformation in Westeuropa (1520-1648)“ und im 4. Kapitel „Kirche und Theologie im Konfessionellen Zeitalter (1555-1648)“ behandelt wird. Als Westfale mag man die wenigen Zeilen zum Täuferreich in Münster (vgl. 103) zu kurz finden, aber angesichts des Anspruchs, die großen Linien und nicht die kleinen Details zu beachten, steht eine solche Anfrage wieder etwas zurück. Und die Zusammenfassung der Zusammenhänge gelingt Schäufele hier durchweg, beispielsweise in der Charakterisierung des Protestantismus als neuer Grundtyp des Christentums: „Charakteristisch dafür ist die Aufhebung der Unterscheidung von Klerus und Laien und die daraus resultierende Ausschaltung der sakramentalen priesterlichen Heilsvermittlung sowie die konsequente Individualisierung der religiösen Existenz im Sinne einer Gottunmittelbarkeit jedes einzelnen Gläubigen.“ (569)

Im 5. Kapitel „Kirche und Theologie im Zeitalter von Pietismus und Aufklärung (1648-1789)“ betont Schäufele das Verbindende dieser Bewegungen: erstens die Betonung des subjektiven Wahrheitsbewusstseins, zweitens die Orthopraxie statt der Orthodoxie und drittens die Abkehr von der polemischen Kontroverstheologie. Das wird deutlich gemacht durch den Abdruck eines sprechenden Bildes aus Johann Arndts „Vom Wahren Christentum“ (227); man hätte sich noch mehr solcher Abbildungen in diesem Lehrbuch gewünscht. Aber der Westfale wird gleich wieder durch die ausführliche Darstellung des Wittgensteiner Radikalpietismus (vgl. 263-265) versöhnt. In der Einleitung zum 6. Kapitel „Kirche und Theologie im langen 19. Jahrhundert (1789-1918)“ betont Schäufele zu Recht: „Vieles von dem, was für unsere Lebensweise und unser Lebensgefühl heute selbstverständlich erscheint, ist erst im 19. Jahrhundert unter teilweise heftigen Verwerfungen errungen worden“ (298). Diese Erkenntnis kann gerade in den heutigen kirchlichen Umbrüchen kaum genug betont werden: Die jetzige Gestalt der Kirche geht eben überwiegend nicht auf Reformation und Urchristentum zurück, sondern auf das 19. Jahrhundert. Gerade in diesem Kapitel überzeugt die Reihenfolge der behandelten Themen: zunächst die Politik, dann der Bereich Wirtschaft/Soziales, folgend die geistigen Umwälzungen und erst dann die Auswirkungen auf Christentum und Kirche. So tritt die Kirchengeschichte der Illusion entgegen, „als habe es die Theologie nur mit Theologie zu tun“ (Gerhard Ebeling). Auf das „lange“ 19. Jahrhundert folgt im 7. Kapitel „Kirche und Theologie im kurzen 20. Jahrhundert (1918-1990)“. Ob das Engagement von Kurt Gerstein wirklich „befremdlich“ (430) war und der Einfluss der 68er-Bewegung auf die evangelische Kirche wirklich „gering blieb“ (454), kann man fragen. Aber damit wäre man schon wieder im Bereich der Details und nicht in den Zusammenhängen, die auch für die Kirchliche Zeitgeschichte überzeugend dargestellt werden. Etwas angehängt wirkt das Unterkapitel 7.12 „Christsein in der Ökumene“, besonders der Exkurs 7.12.5 „Zur Geschichte der Ostkirchen in der Neuzeit“. Hier wäre eine bessere Synchronisation innerhalb der Lehrwerk-Reihe mit Ulrich Körtners Ökumenischer Kirchenkunde denkbar gewesen.

„Ein Wort zum Schluss“ bildet das 8. Kapitel; dort beobachtet Schäufele gegenwärtige Trends und kommt zu dem Schluss, die Geschichte der kirchlichen Transformationen werde fortgesetzt werden müssen: „Die hergebrachten volkskirchlichen Strukturen werden neuen Modellen weichen müssen […]. Innovative Lösungen sind gefragt“ (504). Doch er ist gerade nach dem Rückblick auf die letzten 7 Jahrhunderte überzeugt, dass dies den christlichen Kirchen mit der Hilfe Gottes auch zukünftig gelingen werde.

(Kirchliches Amtsblatt der EKvW Teil II Ausgabe 2/2023, S. 9f.)

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Wissenschaftliches

Volkskirche im Wandel

Vicco von Bülow (Hg.), „Modell“ Volkskirche? Ein Jahrhundert im Wandel. Strukturen, Praxis, Perspektiven (Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte 49), Bielefeld 2022.
(auch als e-book erhältlich)

„Kirche verstehen“ als Grundlage für „Kirche gestalten“ – das gilt auch eine Kirche vom Übergang von der „Volkskirche“ in eine Kirchenform, für die Begrifflichkeit und Gestalt erst noch erarbeitet werden müssen. In dieser Übergangszeit gilt ganz pragmatisch: „Die aktuelle Situation der Kirche braucht den Mut, mit kleinen Schritten zu beginnen, ohne zu wissen, ob sie zu einer langfristig tragfähigen Lösung führen.“

Mit diesem Zitat von Uta Pohl-Patalong habe ich meine Einleitung zum Tagungsband „Modell“ Volkskirche? beendet, der in der Reihe Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte die Tagung der Kommission für Kirchliche Zeitgeschichte vom März/April 2022 dokumentiert.

Ich bin froh, dass das Buch – auch dank der Hilfe des Landeskirchlichen Archivs und der guten Arbeit des Luther-Verlags – noch in diesem Jahr erscheinen konnte. Und ich hoffe, dass es in dem von mir genannten Sinne zum Verstehen und zum Gestalten der Kirche hilfreich sein kann.

Wolf-Friedrich Schäufele hat in seinem aktuellen Lehrwerk zur Kirchengeschichtedie Kernaufgabe der Kirchengeschichte als theologischer Disziplin“ darin definiert, „angehenden Pfarrerinnen und Pfarrern und Religionslehrerinnen und Religionslehrern ein historisch begründetes Verständnis eben jener Gestalt des Christentums zu erschließen, mit der sie in ihrem Wirkungskreis aktuell konfrontiert sind und für die sie in ihrem Amt einzustehen haben.“ In diesem Sinne will ich auch dieses Buch zur Geschichte der Volkskirche in Westfalen verstanden wissen.

Aus dem Inhalt:

Vicco von Bülow
„Versammelte Gemeinde und ausgesandte Boten“ – Einleitung zum Tagungsband „Modell“ Volkskirche ? . . . . 11

Hinnerk Wißmann
Die Volkskirche als Resonanzraum des Religionsverfassungsrechts . . . . 23

Benedikt Brunner
Volkskirche – Konfigurationen und Potenziale eines evangelischen Grundbegriffs im 20. Jahrhundert . . . . 41

Norbert Friedrich
Wilhelm Zoellner, ein Mann der Kirche und der Diakonie zwischen Kaiserreich und Diktatur . . . . . 67

Ute Gause
„Den Pastoren leistet Ehrerbietung und Gehorsam.“ – Gemeindepflege der Sareptadiakonissen im Ruhrgebiet und in Westfalen . . . . 89

Jürgen Kampmann
Konkurrierende Konzeptionen von Volk, Kirche und Volkskirche in der nationalsozialistischen Zeit . . . . 103

Axel Noack
Von der Orientierung auf die Kerngemeinde zur Kirche in der Diaspora – Überlegungen zur „Volkskirche“ in der DDR . . . . 167

Tobias Sarx
Kirchenkritik um 1968 – Volkskirche als überholtes statisch-harmonisierendes Ferment der bürgerlichen Gesellschaft? . . . . 193

Christoph Kösters
Vom Wandel des katholischen Milieus und dem Ende der „Volkskirche“ nach 1945 – Deutungskonflikte um „Kirche“ und „Katholizismus“ in der Bundesrepublik . . . . 207

Gerhard Wegner
Die Entwicklung der Kirchenmitgliedschaft in der Evangelischen Kirche in Deutschland – Faktoren und Folgen . . . . 251

Traugott Jähnichen
Kirche im Volk – Transformationen volkskirchlicher Leitbilder seit dem 19. Jahrhundert . . . . 267

Antje Roggenkamp
Kirchbautag und Volkskirche – Strukturtheoretische Antinomien einer demokratisch konnotierten Begrifflichkeit . . . . 283

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Kirchliches Musikalisches

„Ein bisschen Frieden“

Vor einigen Jahren habe ich – zusammen mit dem Kirchenmusiker Matthias Nagel (damals Beauftragter der Ev. Kirche von Westfalen für Popularmusik) – eine Tagung zum Thema „Kirche und Schlager“ veranstaltet, die dann auch in einer Buchveröffentlichung mit dem Titel „Ein bisschen Frieden… Schlager und Kirche im Gespräch dokumentiert wurde.

Immer mal wieder gab und gibt es Anfragen dazu. Am 14. November 2022 hat der Bayrische Rundfunk für seine Sendung „Theologik“ ein spannendes Interview mit mir geführt. Die Sendung ist als Podcast auch nach der Ausstrahlung verfügbar (etwa ab der 20. Minute komme ich dazu). Es ging, natürlich, um Nicole („Ein bisschen Frieden“) und den biblischen Schalom, es ging um Karat („Über sieben Brücken musst du gehn“) und Psalm 23, es ging um Tiefgang und Oberflächlichkeit, um Familienbilder und Gesellschaftsentwürfe. Ganz im Sinne dessen, was ich in der Einleitung zum Buch 2014 geschrieben habe:

Wie eine Blume am Winterbeginn / so wie ein Feuer im eisigen Wind,
wie eine Puppe, die keiner mehr mag, / fühl ich mich am manchem Tag.
Dann seh ich die Wolken, die über uns sind, / und höre die Schreie der Vögel im Wind.
Ich singe aus Angst vor dem Dunkel mein Lied / und hoffe, dass nichts geschieht.

So beginnt Nicoles legendärer Schlager aus dem Jahr 1982: Ein bisschen Frieden. Damals gewann sie als 17jährige im adretten Kleid mit ihrer weißen Gitarre das, was heute „ESC“ heißt und damals Grand Prix Eurovision de la Chanson, der Große Preis des europäischen Schlagers. 32 Jahre später, also nach einer Generation, fragen wir: Wie ist das mit dem „und“ zwischen Schlager und Kirche? Passt das dahin? Oder gerade nicht? Und warum?
Anders als Nicole hoffen wir aber nicht, „dass nichts geschieht“. Sondern wir hoffen, dass etwas geschieht. Und damit meinen wir nicht nur die Frage, ob Schlagersänger in einer Kirche auftreten dürfen. Das hat Nicole schon getan, die 2009 erstmals auf eine Kirchentournee ging. Und im vergangenen Jahr 2013 gab es in Minden und darüber hinaus etwas Unruhe, als Heino in der St. Marien-Kirche auftrat.
Aber uns geht es nicht um Kirchgebäude als besonders coole Location für weltliche Schlagermusiker. Sondern wir wollen tiefer ansetzen. Für die meisten Pfarrer und Pfarrerinnen, für die meisten hauptberuflichen Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker wird das etwas sein, was sie nicht regelmäßig tun. Denn sie gehören einem Milieu an, dass sich musikalisch oft durch den Satz charakterisieren lässt: „Ich höre alles außer Schlager“. Aber wenn der Schlager zu den populärsten Musikformen gehört, wie die Albumcharts im Januar 2014 zeigen, die von Helene Fischer („Farbenspiel“, Platz 1) angeführt werden, Andrea Berg folgt bald danach („Atlantis“, Platz 4) – und wenn das auch viele Gemeindeglieder so empfinden und also unsere Kirchengemeinden zu einem großen Anteil aus Schlagerhörern bestehen – warum sollten wir uns kategorisch davon distanzieren?
Eine Beschäftigung mit dem Schlager ist bisher in der Kirche zumeist unterblieben, wenn es doch geschah, dann meistens in abgrenzender Form. Wir wollen das ändern – und vielleicht gibt es als Ergebnis dieser Beschäftigung so etwas wie „ein bisschen Frieden“ zwischen Kirche und Schlager.
Aber was ist das eigentlich, ein Schlager? Ich gebe offen zu, mich damit erst im letzten Jahr wirklich intensiver beschäftigt zu haben. Denn auch ich gehöre dem Milieu an, das von sich behauptet: „Ich höre alles, außer Schlager“. Aber was höre ich denn nicht? Was ist ein Schlager? Wie fast immer, wenn man einfache Fragen stellt, sind die Antworten gar nicht so einfach. Es sind kluge Abhandlungen darüber verfasst worden, was denn wann als Schlager verstanden worden ist. Das variiert nämlich sehr, je nachdem, ob man sich im 19., im 20. oder im 21. Jahrhundert befindet, je nachdem ob man musikalisch, soziologisch, psychologisch, ökonomisch oder gar theologisch denkt. Möglicherweise war der erste Schlager „An der schönen blauen Donau“ 1867. Damals ist der Begriff „Schlager“ vor allem für solche Musikstücke verwendet worden, in denen den Zuhörern in sprachlichen Anspielungen eine gewisse frivol-erotische Doppeldeutigkeit schlagartig bewusst wurde.
In den 1920er Jahren differenzierte man zwischen „Gassenhauern“ und „Schlagern“ – manche haben damals den Gassenhauer als kulturell höherwertig verstanden, weil er aus dem Volk heraus entstand und diesem nicht übergestülpt werde. So schrieb ein entsprechender Kritiker 1924: „Die massenpsychologische Wirkung des Schlagers beruht auf dem Gesetz des geringsten Aufwandes musikalischer Energie. Wiederholung der gleichen akustischen Einwirkung wirkt energiesparend und ist lustbetont [und das ist dann natürlich negativ zu bewerten]; je primitiver musikalisch empfunden wird, desto sicherer die Wirkung.“
Wenn heutzutage Schlagermusik und Volksmusik oft in eins gesetzt werden, dann irritiert ein Blick in die 1940er Jahre, als innerhalb der nationalsozialistischen Ideologie der Schlager zum Inbegriff aller sogenannten volksfremden Musik wurde, deren Urheber selbstverständlich im Judentum lokalisiert wurden.
Seit den 1950er Jahren wird der Begriff „Schlager“ als eine „Kurzform leicht eingängiger Tanz- und Unterhaltungsmusik“ oder als Bezeichnung für „einfache liedartige Melodien, die leicht zu behalten sind“ bezeichnet. Vielleicht lassen sich diese Formulierungen als Arbeitsdefinition verwenden. Wobei der Begriff weiterhin schwer zu umgrenzen und damit an den Rändern durchaus unscharf bleibt. So konnte das „Fach“magazin „Prisma“ in einem Artikel über „Andreas Gabalier und die Rückkehr des Schlager“ im August 2013 titeln: „Rock’n’Roll in Lederhosen“. Ja, was denn nun: Schlager oder Rock’n’Roll? Oder hat vielleicht doch die Deutsche Bahn recht, als sie in ihrem Kundenmagazin im Dezember 2013 anlässlich eines Artikels über Helene Fischer titelte: „Schlager wird Pop“?
Eine grundlegende Kritik am Schlager kam von Theodor Adorno. Er sah den Schlager als Teil der Kulturindustrie und wies auf den zunehmenden Warencharakter der Kultur hin. Besonders bei der Musik beeinflusse die Industrie in ihrer Rolle als Vermittler zwischen Werk und Konsument das Subjekt stark. Musik mutiere zum Massenprodukt des Amüsements. Popular music war Adorno ein besonderer Dorn im Auge. Sie führe zu einer Regression des Hörens. Der Rezipient sei gar nicht mehr in der Lage, Werke zu beurteilen, denn, so schreibt Adorno, „die Bekanntheit des Schlagers setzt sich an Stelle des ihm zugesprochenen Wertes“. Der Hörer setze das Wiedererkennen eines Stückes an Stelle des Wertens. Er sei also gar nicht mehr fähig aus seiner von „standardisierten Musikwerken“ umzingelten Situation herauszubrechen und die Musik objektiv zu betrachten. Der Einfluss der Medien und der Industrie mache den Bürger unmündig. Adorno formulierte seine Kritik in einer Zeit eines musikalischen Umbruchs, nämlich des Einbruchs der internationalen Pop- und Rockmusik in die deutsche und damit deutschsprachige Musikszene.
Die Deutschsprachigkeit scheint ein ganz wichtiges Kriterium des Schlagers zu sein. Während 1962 noch fast alle Hits in Deutschland auf Deutsch gesungen wurden, waren es zum Ende dieses bewegten Jahrzehnts nur noch 5-10%. Und lange Jahre blieb das auch so, vielleicht kurz unterbrochen von der Neuen Deutschen Welle in den frühen 80ern. Mit einem Blick auf die heutigen Charts und auf die Beliebtheit mancher traditioneller Schlagersender kann man fragen: Sind wir wieder auf dem Weg in die 50er? Oder ist der Schlagerhype nur gehypt? Tatsächlich ist es ja so, dass auf den sogenannten Schlagersendern viel Englisches gespielt wird und manches, was eindeutig nicht aus dem Bereich des Schlagers kommt, der Generation Ü40 aber dennoch in ähnlicher Weise vertraut ist.
Was hat das Ganze nun mit der Kirche zu tun? Das hat in ähnlicher Weise schon 2002 die EKD-Kulturdenkschrift „Räume der Begegnung“ gefragt. Und sie hat damals als eines der Ziele der Begegnung von Kirche und Kultur das „Ernstnehmen des Trivialen“ propagiert. In ihrer Analyse des Trivial-Populären haben die Autoren der Denkschrift Adorno widersprochen: „Die kulturindustriellen Produktionsformen, die der Gewinnmaximierung dienen, mindern weder automatisch die Qualität eines Produkts noch bestimmen sie die Werte, die es vermittelt.“ Die Denkschrift vermeidet es klug, das Religiöse und das Triviale zu identifizieren – oder auf unserer Thema übertragen: den Schlager und die Kirche. Sie stehen zu einer Beziehung zueinander, aber sie sind nicht eins. Wieso sollte sich die evangelische Kirche mit etwas so Trivialem wie dem Schlager beschäftigen? Ich zitiere die EKD-Denkschrift auch deshalb, weil sie mein eigenes Interesse trifft: „Es liegt in der Technik, Komplexität in emotionale Eindeutigkeit zu übersetzen. Oder anders gesagt: Das Triviale ist einer von mehreren Wegen, der protestantischen Verkopfung zu ent-gehen.“ Von anderen lernen, heißt es also wieder einmal.
Oder haben wir das schon längst getan? Hat nicht mit dem sogenannten Neuen Geistlichen Lied der Schlager schon Einzug in die Kirche gehalten? „Danke für diesen guten Morgen“ (EG 334) hat nicht umsonst nicht nur in der Kirche, sondern auch auf Schlager-CDs seinen Platz gefunden, bis hin zu der Sammlung von Partykrachern eines Mickie Krause. Und als wir im Landeskirchenamt 2012 im „Jahr der Kirchenmusik“ alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach ihrem Lieblingslied im Gesangbuch gefragt haben, kam ein kirchlicher Schlager auf Platz 1: „Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer“ (EG RWL 663). Ist das ein Grund zum Spotten oder heißt das nur, dass die Menschen im LKA gar nicht so abgehoben von der kirchlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit sind, wie manchmal vermutet wird?
Jedenfalls erscheint es notwendig, dass in der Kirche Berührungsängste und Vorurteile gegenüber dem Schlager abgebaut werden. Wenn wir populäre Musik wie Jazz, Rock und Pop als ernstzunehmenden Teil der Kirchenmusikszene ansehen, wie weit gilt das dann auch für den Schlager? Eines ist allerdings klar, bei allen Formen von klassischer und populärer Kirchenmusik: Wir müssen auf Qualität achten und in der Aus-, Fort- und Weiterbildung auch selbst dafür sorgen. Gegebenenfalls auch beim Schlager.
In seiner Autobiographie berichtet Marcel Reich-Ranicki von einem Erlebnis aus seiner Schulzeit, das diese Hochschätzung der Qualität auch außerhalb der Hochkultur anschaulich macht: „Als die Schüler, die ein Instrument beherrschten, etwas zum besten geben sollten und einer – und zwar ein Jude – im Unterschied zu den anderen, die mit klassischen Stücken aufwarteten, einen miserablen Schlager klimperte, befürchteten wir, [unser Lehrer] Steineck werde ihn streng zu-rechtweisen. Doch was vorgefallen war, hatte ihn nicht empört, sondern nur betrübt. Er sagte ganz leise: ‚Dies war schlechte Musik. Aber auch schlechte Musik kann man anständig spielen.‘“

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Du bist der Mann!

Andacht im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Westfalen am 30. August 2022
(mit Dank für die Inspiration durch Prof. Dr. Thomas Naumann in Kommentar und Predigtmeditation)

Liebe Gemeinde,

manchmal sind biblische Texte gar nicht langweilig fromm, sondern voller Drama, Sex & Crime. Die Geschichte von König David und Batseba ist so eine. Der große König David sieht eines Tages zufällig vom Dach seines Hauses, wie sich die schöne Batseba ein paar Häuser nackt wäscht. Obwohl er weiß, dass sie die Frau seines Soldaten Uria ist, lässt er sie durch Boten in den Palast holen und schläft mit ihr. Sie wird schwanger. David setzt Uria direkt an der Front ein, der auch prompt stirbt. Höflicherweise wartet er die Trauerzeit von Batseba ab, dann holt er sie in den Palast, heiratet sie und bekommt einen Sohn von ihr. Clever gemacht. Aber er hat nicht mit Gott gerechnet. Der schickt seinen Propheten zu einem dramatischen Auftritt.

Wie die Geschichte weitergeht, steht in 2. Samuel 12. Der Predigttext vom vorgestrigen Sonntag:

1 Und der HERR sandte Nathan zu David. Als der zu ihm kam, sprach er zu ihm: Es waren zwei Männer in einer Stadt, der eine reich, der andere arm. 2 Der Reiche hatte sehr viele Schafe und Rinder; 3 aber der Arme hatte nichts als ein einziges kleines Schäflein, das er gekauft hatte. Und er nährte es, dass es groß wurde bei ihm zugleich mit seinen Kindern. Es aß von seinem Bissen und trank aus seinem Becher und schlief in seinem Schoß, und er hielt’s wie eine Tochter. 4 Als aber zu dem reichen Mann ein Gast kam, brachte er’s nicht über sich, von seinen Schafen und Rindern zu nehmen, um dem Gast etwas zuzurichten, der zu ihm gekommen war. Und er nahm das Schaf des armen Mannes und richtete es dem Mann zu, der zu ihm gekommen war. 5 Da geriet David in großen Zorn über den Mann und sprach zu Nathan: So wahr der HERR lebt: Der Mann ist ein Kind des Todes, der das getan hat! 6 Dazu soll er das Schaf vierfach bezahlen, weil er das getan und sein eigenes geschont hat. 7 Da sprach Nathan zu David: Du bist der Mann! So spricht der HERR, der Gott Israels: Ich habe dich zum König gesalbt über Israel und habe dich errettet aus der Hand Sauls 8 und habe dir deines Herrn Haus gegeben, dazu seine Frauen in deinen Schoß, und habe dir das Haus Israel und Juda gegeben; und ist das zu wenig, will ich noch dies und das dazutun. 9 Warum hast du denn das Wort des HERRN verachtet, dass du getan hast, was ihm missfiel? Uria, den Hetiter, hast du erschlagen mit dem Schwert, seine Frau hast du dir zur Frau genommen, ihn aber hast du umgebracht durch das Schwert der Ammoniter. 10 Nun, so soll von deinem Hause das Schwert nimmermehr lassen, weil du mich verachtet und die Frau Urias, des Hetiters, genommen hast, dass sie deine Frau sei. […] 13 Da sprach David zu Nathan: Ich habe gesündigt gegen den HERRN. Nathan sprach zu David: So hat auch der HERR deine Sünde weggenommen; du wirst nicht sterben. 14 Aber weil du die Feinde des HERRN durch diese Sache zum Lästern gebracht hast, wird der Sohn, der dir geboren ist, des Todes sterben. 15 Und Nathan ging heim.

Wenige Worte des von Gott gesandten Propheten Nathan reichen aus und der kluge Plan Davids fällt in sich zusammen. „Du bist der Mann“. Dein ganzes Gerede von Gerechtigkeit ist hohl, wenn Du immer nur die Ungerechtigkeit des anderen siehst und nicht Deine eigene Ungerechtigkeit. Das Batseba-Syndrom heißt das heutzutage in Führungskräfteseminaren, wenn es um das moralische Versagen von Führungskräften auf dem Höhepunkt ihrer Karriere geht. David leidet sichtbar an diesem Syndrom. Und er ist nicht der Einzige. Weder damals noch heute.

Wie sehr wünsche ich mir heute einen Nathan, der den Mächtigen in der Welt, in Staat, Gesellschaft und Kirche mutig sagt: Dein Beharren auf Frieden, auf Klimaschutz, auf sozialen Ausgleich ist dann falsch, wenn Du immer nur von anderen forderst, aber nichts selbst dafür tust. Setzen Sie hier ein, wen Sie mögen: ob es Putin ist oder sonst irgend jemand anders. Wie oft wünsche ich mir, dass Gott diesen Mächtigen dann nicht nur sagt, sondern auch zeigt, dass ihr Handeln falsch ist.

Aber dann muss ich mir sagen lassen: Du, Vicco von Bülow, bist der Mann. Was ist Dein Anteil am Unfrieden, an der Umweltzerstörung, an sozialer Ungerechtigkeit?
Wenn ich mit dem Zeigefinger auf jemanden anderen zeige, zeigen drei Finger auf mich zurück.

Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, stehe ich nicht auf Nathans Seite. Sondern ich stehe da neben David. Er möchte niemanden hinter seine Fassade blicken lassen . So bin ich manchmal auch. Und dann kann ich nur hoffen, dass ich die Kraft habe, die David hatte, als er erkennt, dass er der Mann aus Nathans Geschichte ist: „Ich habe gesündigt gegen den Herrn.“ Anzuerkennen, dass ich selbst derjenige bin, der den Mist gebaut hat, das ist nicht einfach. Aber die biblische Geschichte sagt es: Es ist die einzige Voraussetzung, um mit Gott voranzukommen. Nathan reagiert unmittelbar auf das Schuldbekenntnis Davids: „So hat auch der Herr deine Sünde weggenommen.“ Gegen die Sünde kann nur Gott etwas tun. Die reformatorische Überzeugung von der Rechtfertigung des Menschen durch die Gnade Gottes kann hier anknüpfen.

Aber in der Geschichte von David und Batseba und Nathan steckt viel mehr als nur die Bestätigung der Rechtfertigungslehre, die uns evangelischen Theologen so gut gefallen würde. Die Bibel ist immer reichhaltiger als alle noch so reichhaltige Theologie. Aber manchmal enthält sie auch etwas, das mich irritiert, auch wenn ich kluge Exegeten finde, die mir erklären, was damit gemeint sein könnte.

Ein Beispiel will ich Ihnen und Euch zumuten. Denn der Predigttext, den die Perikopenordnung vorgeschlagen und den die Lektorin vorhin vorgelesen hat, ist nicht der komplette Bibeltext. Am Ende der Anklage, die Nathan im Namen Gottes an David richtet, fehlen zwei Verse, die Verse 11 und 12. Die holen wir jetzt nach:

11 So spricht der HERR: Siehe, ich will Unheil über dich kommen lassen aus deinem eigenen Hause und will deine Frauen nehmen vor deinen Augen und will sie deinem Nächsten geben, dass er bei deinen Frauen schlafen soll an der lichten Sonne. 12 Denn du hast’s heimlich getan, ich aber will dies tun vor ganz Israel und im Licht der Sonne.

Davids Sünde hat Folgen. Nicht nur für ihn selbst. Sondern auch für das gemeinsame erste Kind mit Batseba: der Sohn muss sterben. Und auch für die anderen Frauen Davids (so ein König hatte natürlich mehrere) bedeutet der Fehltritt Schlimmes. Er hat im Geheimen Ehebruch begangen. Seine Nebenfrauen sollen im Licht der Sonne vergewaltigt werden. Vier Kapitel später passiert genau das: Davids Sohn Absalom versucht, seinen Vater zu stürzen – und ein grausames Mittel auf diesem Weg ist die öffentliche Vergewaltigung von Davids Nebenfrauen.

Intellektuell kann ich nachvollziehen, was hier passiert. Aber ich kann es nicht wirklich verstehen.

Statt um die Schuld eines einzelnen Mannes geht es jetzt um seine Bestrafung, indem es an seine Ehre geht. Im patriarchalischen System sind es die Frauen eines Mannes, die seine Ehre oder seine Schande repräsentieren. Auf ihrem Körper wird das Ganze ausgetragen.

Ich kann nachvollziehen: Schuldvergebung für David heißt nicht, dass die Folgen seiner Sünde in der Welt komplett zunichte gemacht werden. David erfährt Vergebung, aber der Fluch seiner bösen Taten bleibt in der Welt. Nur David als Person, er allein wird entbunden von den Folgen seines Tuns.

Das kann ich nachvollziehen, aber verstehen kann ich es nicht. Denn sein Kind und seine Frauen müssen unter den Folgen von Davids Tun leiden, sterben.

Wenn wir in der Kirche vom Anspruch der Bibel auf unser Leben überzeugt sind, wenn wir glauben, dass die Bibel uns persönlich etwas zu sagen hat, dann kann das nicht für alle Verse der Bibel gleichermaßen gelten. Diese beiden Verse sind eine Belastung für das Gottesbild, das mir die Bibel erzählt, „eine schwer erträgliche Zumutung biblischer Gottesrede“ (Thomas Naumann). Sie zeigen mir erneut, dass die Bibel nicht buchstäblich verstanden werden kann. Dass sie gedeutet werden muss. Ich bin noch lange nicht fertig mit der Deutung dieser Geschichte.

Davids kurzes Schuldbekenntnis ist mir zu knapp: „Ich habe gesündigt gegen den HERRN“. Ist das alles?

Offensichtlich ist das schon anderen so gegangen. Denn der Psalm 51,den wir vorhin gemeinsam gebetet haben, enthält ein ausführlicheres Schuldbekenntnis. Er ist überschrieben „Ein Psalm Davids, vorzusingen, als der Prophet Nathan zu ihm kam, nachdem er zu Batseba eingegangen war.“

Deshalb komme ich am Ende auf diesen Psalm zurück,. Dort wird das „Gott, sei mir Sünder gnädig“ ausführlicher ausgesprochen:

3 Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte, und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit. 4 Wasche mich rein von meiner Missetat, und reinige mich von meiner Sünde; 5 denn ich erkenne meine Missetat, und meine Sünde ist immer vor mir.

11 Verbirg dein Antlitz vor meinen Sünden, und tilge alle meine Missetat. 12 Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, beständigen Geist. 13 Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir.

Amen.

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Kirchliches

Talente teilen

Predigt am 14.08.2022 (9. S. n. Tr.) in der Ev.-Luth. Kirchengemeinde Gehlenbeck anlässlich des 125(+1)jährigen Jubiläums des Posaunenchors
(mit Dank an Lars Hillebold für die inspirierende Göttinger Predigtmeditation zum Text!)

Liebe Gemeinde,

na super. Seit Monaten freue ich mich darauf, hier in Gehlenbeck die Festpredigt zum 125jährigen Jubiläum des Posaunenchors zu halten. Coronabedingt hat das immer wieder verschoben werden müssen. Zuletzt im März, weil da kaum ein Posaunenchor da gewesen wäre, dessen Jubiläum man hätte feiern können. Im August passt’s endlich für alle. Die Sonne scheint, die Kirche ist voll. Und dann: nichts als Heulen und Zähneklappern. Na super.

Das hat man davon, wenn man sich an den Predigttext hält, der für diesen 14. August, den 9. Sonntag nach Trinitatis, vorgeschlagen ist. Der läuft nämlich auf das Heulen und Zähneklappern hinaus. Auf das Wehklagen und Zähneknirschen. Auf das laute Jammern und das angstvolle Zittern und Beben. Je nachdem, welche Übersetzung man so nimmt.

Ich lese Ihnen das Gleichnis von den anvertrauten Talenten nach der Neuen Genfer Übersetzung vor, der Predigttext steht im Matthäusevangelium, im 25. Kapitel (V. 14-30):

14 Es [Das Himmelreich] ist wie bei einem Mann, der vorhatte, in ein anderes Land zu reisen. Er rief seine Diener zu sich und vertraute ihnen sein Vermögen an.
15 Einem gab er fünf Talente, einem anderen zwei und wieder einem anderen eines – jedem seinen Fähigkeiten entsprechend. Dann reiste er ab.
16 Der Diener, der fünf Talente bekommen hatte, begann sofort, mit dem Geld zu arbeiten, und gewann fünf weitere dazu.
17 Ebenso gewann der, der zwei Talente bekommen hatte, zwei weitere dazu.
18 Der aber, der nur ein Talent bekommen hatte, grub ein Loch in die Erde und versteckte das Geld seines Herrn.
19 Nach langer Zeit kehrte der Herr zurück und forderte seine Diener auf, mit ihm abzurechnen.
20 Zuerst kam der, der fünf Talente erhalten hatte. Er brachte die anderen fünf Talente mit und sagte: ›Herr, fünf Talente hast du mir gegeben; diese fünf hier habe ich dazugewonnen.‹ –
21 ›Sehr gut‹, erwiderte der Herr, ›du bist ein tüchtiger und treuer Diener. Du bist mit dem wenigen treu umgegangen, darum will ich dir viel anvertrauen. Komm herein zum Freudenfest deines Herrn!‹
22 Dann kam der, der zwei Talente erhalten hatte. ›Herr‹, sagte er, ›zwei Talente hast du mir gegeben; hier sind die zwei, die ich dazugewonnen habe.‹ –
23 ›Sehr gut‹, erwiderte der Herr, ›du bist ein tüchtiger und treuer Diener. Du bist mit dem wenigen treu umgegangen, darum will ich dir viel anvertrauen. Komm herein zum Freudenfest deines Herrn!‹
24 Zuletzt kam auch der, der ein Talent bekommen hatte. ›Herr‹, sagte er, ›ich wusste, dass du ein harter Mann bist. Du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst ein, wo du nicht ausgestreut hast.
25 Deshalb hatte ich Angst und vergrub dein Talent in der Erde. Hier hast du zurück, was dir gehört.‹
26 Da gab ihm sein Herr zur Antwort: ›Du böser und fauler Mensch! Du hast also gewusst, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und einsammle, wo ich nicht ausgestreut habe.
27 Da hättest du mein Geld doch wenigstens zur Bank bringen können; dann hätte ich es bei meiner Rückkehr mit Zinsen zurückbekommen.‹
28 ›Nehmt ihm das Talent weg und gebt es dem, der die zehn Talente hat!
29 Denn jedem, der hat, wird gegeben, und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat.
30 Doch diesen unnützen Diener werft in die Finsternis hinaus, dorthin, wo es nichts gibt als lautes Jammern und angstvolles Zittern und Beben.‹

Tja. Da hab‘n wir’s: lautes Jammern und angstvolles Zittern und Beben. Der heutige Predigttext nimmt so gar keine Rücksicht darauf, dass wir hier ein Jubiläum feiern wollen.

Aber eigentlich weiß ich, und Sie wissen das auch: Die Bibel ist nicht für den Posaunenchor und sein Jubiläum da. Sondern der Posaunenchor ist für die Bibel da und für die Verkündigung des Gottes, der sich in dieser Bibel offenbart. Da könnte man sagen: Pech für den Prediger, Pech für die Festgemeinde.

Doch ich will mich damit nicht zufrieden geben. Deshalb zwei Versuche, sich dem heutigen Predigttext anders zu nähern. Der erste: Gibt’s da nicht noch mehr in Matthäus 25 als nur Heulen und Zähneklappern? Der zweite: Gibt’s da nicht noch mehr im Matthäus-Evangelium als nur diesen Text?

Der erste Versuch: Gott und die Menschen in Matthäus 25.
Ja, es stimmt, der Predigttext über die drei Diener, ihre Talente und ihren Herrn endet mit Heulen und Zähneklappern. Er besteht aber nicht nur daraus. Bei zwei von drei Dienern geht die Sache gut aus. Richtig gut.

Diese beiden Diener bekommen von ihrem Herrn vor dessen großer Reise einen Teil seines Vermögens zur Verwaltung. Und wenn man mal genauer nachrechnet, sind 1 Talent 6000 Denare. Und 1 Denar ist nach dem Gleichnis der Arbeiter im Weinberg (Mt 20) 1 Tageslohn. Der erste Diener bekommt also über 80 Jahresgehälter, der zweite Diener immerhin über 30 Jahresgehälter. Sie legen sie klug an und verdoppeln die Summe. Und als ihr Herr zurückkommt, können sie ihm über 220 Jahresgehälter übergeben.

Das sind Dimensionen, die sind so irreal hoch, dass man schnell merkt: Es geht hier eigentlich gar nicht ums Geld. Sorry, liebe anwesende Bankkaufleute. Es geht um die andere Bedeutung des Wortes „Talent“, das Martin Luther noch mit „Zentner“ übersetzt hat. Es heißt auch Begabung, Leistungsfähigkeit, Potenzial.

Es geht also darum, was wir mit unserem Potenzial machen, mit den Fähigkeiten, mit denen wir begabt worden sind. Die ersten beiden Diener haben den Mut, etwas zu riskieren. Sie setzen ihre Talente ein. Und weil das klappt, werden sie von ihrem Herrn belohnt. Allerdings nicht etwa mit einer gut dotierten Pension, damit sie sich zur Ruhe setzen können. Sondern mit einem noch größeren Auftrag. Ein jüdischer Spruch aus der damaligen Zeit lautet: „Der Lohn für die Gebotserfüllung ist (weitere) Gebotserfüllung“. Gottes Gabe kann also nie ruhender Besitz sein, sie muss leben und weiter wirken. Gerade wenn man viel Talent hat. Ob das nun das Talent zum Musizieren ist. Oder das Talent zum Zuhören. Das Talent zum Organisieren. Oder das Talent zum kritischen Nachfragen. Es geht darum, dass wir etwas mit den Begabungen machen, die uns Gott geschenkt hat. Einige Begabungen feiern wir heute besonders. Aber ich bin mir sicher, dass Gehlenbeck noch mehr Talente hat, die darauf warten, zum Einsatz zu kommen.

Und dann steht über diesem Einsatz die Verheißung, dass der Herr sagt: „du bist ein tüchtiger und treuer Diener“. Das Wort „treu“ in seiner griechischen Wurzel bedeutet eigentlich „gläubig“. Wer glaubt, setzt seine von Gott geschenkten Talente fruchtbar ein.

Eigentlich, liebe Gemeinde, wäre es schön, wenn der Predigttext jetzt enden würde. Aber nach den ersten beiden kommt der dritte Diener. Der geht anders vor. Er verschleudert das Geld nicht, riskiert nicht den Komplettverlust. Auf eine gewisse Art und Weise handelt er durchaus verantwortungsbewusst. Wenn auch zu passiv, zu defensiv. Und das wirft ihm der Herr vor: Du hättest dein Talent zur Bank bringen können, um zumindest den Minimalzins zu bekommen. Aber nein: Er steckt den Kopf und die Gaben in den Sand. Und dann wird ihm sein Talent genommen.

Und zwar nicht deshalb, weil er nichts hat, sondern weil er nichts getan hat. Der Herr schimpft ihn einen bösen und faulen Diener. Das Wort „faul“ heißt hier eigentlich „ängstlich“. Und tatsächlich hat dieser Diener Angst vor dem Herrn. Er sagt es selbst: „du bist ein harter Mann“. Und wie bei einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung erweist sich der Herr dann als hart – dem Diener wird sein übriggebliebenes Talent genommen. Er wird in die Finsternis geworfen. Es bleiben Heulen und Zähneklappern.

Die eigentliche Ursache ist also das Bild, das der Diener von seinem Herrn hat. Welches Bild habe ich von Gott? Welches Bild haben Sie? Ich glaube, dass es die dunklen Seiten Gottes durchaus gibt. Gott ist nicht nur eia-popeia-lieb; Gott ist nicht harmlos. Aber trage ich als Gottesbild nur das Gottesklischee vom „harten Mann“ in mir? Dann könnte auch mich die sich selbst erfüllende Prophezeiung erwischen.

Mein erster Versuch, mit dem angstvollen Jammern und Zittern und Beben umzugehen, ist offenbar noch nicht genug. Deshalb nun der zweite.

Bei meinem zweiten Versuch, den Predigttext aus Matthäus 25 zu verstehen, hole ich mir Hilfe von zwei weiteren Texten aus dem Matthäusevangelium. Martin Luther hat ja einmal gesagt, dass die beste Bibel-Auslegung die Bibel selbst ist.

Fünf Talente und zwei Talente? Erinnern Sie diese Zahlen an was? Im 14. Kapitel des Matthäusevangeliums wird von fünf Broten und zwei Fischen erzählt, die die Jünger miteinander und mit der Volksmenge teilen. Und so vermehren sie sie, dass alle satt werden und am Ende noch ganz viel übrig bleibt.

Wie wäre es, wenn die Diener nicht einzeln für sich gewirtschaftet, sondern sich zusammengetan hätten? Wenn der erste und der zweite Diener dem dritten geholfen hätten? Und zwar so, dass alle satt werden und am Ende noch ganz viel übrig bleibt. Wenn der erste Diener seine fünf Brote, fünf Talente eingebracht hätte, der zweite Diener seine zwei Fische, Talente. Und wenn sie dann den dritten Diener aus seiner Ängstlichkeit herausgeholt hätten. Ihm ihre Vision eines freundlichen und großzügigen Gottes vermittelt hätten. Dann hätten sie zu dritt aus 8 Talenten 15 gemacht.

Die Talente mit den anderen teilen und sie so vermehren. Das wäre eine Vision von kirchlicher Gemeinschaft, die mir wesentlich besser gefällt, statt dass die einen immer mehr kriegen und die anderen immer weniger.

Wir können unsere Begabungen gemeinsam vermehren. Im Chor klingt jede Stimme besser als bloß alleine.

Und ein zweiter Text. Ich will vom Ende her denken. Von Matthäi am letzten. In Matthäus 28 sagt der auferstandene Herr Jesus seinen Jüngern zu, bei ihnen zu sein alle Tage bis ans Ende der Welt.

Das ist mein Taufspruch. Aber nicht nur mein Taufspruch, sondern auch mein Gottesbild: Ein Gott, der bei mir ist. Das stärkt mich. Das motiviert mich dazu, meine Talente einzusetzen. In meiner Welt und in meiner Kirche. Denn ich weiß: Beide haben es nötig. Die Welt und die Kirche.

Und ich weiß: Ich habe es nötig. Meine ängstlichen Gottesklischees abzubauen. Meinen Kopf und meine Talente aus dem Sand zu ziehen. Zu sehen, wieviele Schwestern und Brüder sich mit mir in dieser Kirche engagieren, wieviele wunderbare Begabungen wir gemeinsam haben. Und wie wir miteinander unsere Talente vermehren können.

Und so schließe ich mit dem Lied, das wir vor der Predigt gesungen haben (Ulrich Kaiser, EG RWL 668). Die letzte Strophe lautet:

„Wir wolln gehen an alle Enden, wir wolln gehen mit Jesus Christ, geben auch mit offnen Händen, was uns selbst gegeben ist.“

Amen.

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Kirchliches

Abendmahl_digital

Ein Beitrag zu kirche_digital für die Landessynode 2022 der Evangelischen Kirche von Westfalen. Grundlage für den gleichnamigen Podcast im Gespräch mit Pfarrer Moritz Gräper.

1. Lockdown Ostern 2020
Im Frühjahr 2020 überraschte die Corona-Pandemie die Gesellschaft und auch die Kirchen. Kurz vor Ostern wurde ein deutschlandweiter Lockdown ausgesprochen, in einigen Bundesländern wurden Gottesdienste explizit verboten, in anderen Bundesländern – zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen – verzichteten die Kirchen auf Bitten des Staates darauf, Präsenzgottesdienste durchzuführen. Das digitale Streamen von Gottesdiensten blieb aber möglich. Manche Gemeinden waren gut darauf
vorbereitet, andere gingen die Aufgabe spontan mit viel Engagement an. Schnell kam die Frage auf: Was ist mit dem Abendmahl? Am Gründonnerstag? Am Ostersonntag? Geht das auch digital? In einigen Landeskirchen wurde explizit von der online-Feier des Abendmahls abgeraten, andere ermunterten explizit dazu. In Westfalen gab es keine kirchenleitende Vorgabe. Ich selbst habe damals gedacht, dass ein zweiwöchiges Abendmahlsfassten zumutbar wäre. Schließlich ist nach evangelischem Verständnis ein Wortgottesdienst genauso viel wert wie ein Abendmahlsgottesdienst. Und vielleicht wäre nach einer Fastenzeit das Abendmahl den Christinnen und Christen um so wertvoller geworden.
Nun dauert die Fastenzeit nicht nur zwei Wochen, sondern zwei Jahre. Es geht nicht mehr um die Frage, was in der Notsituation erlaubt, möglich oder sinnvoll ist beziehungsweise was nicht erlaubt, nicht möglich oder nicht sinnvoll ist, sondern um die grundsätzliche Frage: Wenn digitale Gottesdienste mehr und mehr zum regulären Gottesdienstangebot gehören, gilt das dann auch für das digitale Abendmahl?


2. Kein neues Thema
Im Frühjahr 2020 gab es schnell eine intensive Debatte, ob so ein digitales Abendmahl überhaupt möglich sei. Interessanterweise wurde die Auseinandersetzung oft so geführt, als seien die theologischen Fragen völlig neu.
Dabei gab es schon vorher Überlegungen, auf die man hätte zurückgreifen können. Der alte Streit zwischen den griechischen Philosophen Platon und Aristoteles, in welchem Verhältnis Bilder und Wirklichkeit zueinander stehen. Die Auseinandersetzung der Reformatoren Luther und Zwingli darüber, wie denn nun die Präsenz von Leib und Blut Christi in den Elementen Brot und Wein beim Abendmahl zu denken sei. Aber auch jüngere Überlegungen zu der Frage, was die Digitalisierung mit der Gesellschaft macht. Auch in der Kirche gab es Menschen, die dazu vorgedacht hatten. Aber die Debatten darüber blieben zumeist im Raum weniger digitaler Insider. Das ist nun anders: Die Frage berührt weite Kreise der Kirche. Und es gibt noch keinen Konsens, wie die Antwort darauf lautet.
Manche haben „die Kirche“ in der Pandemie kritisiert, dass sie geschwiegen habe. Ich glaube, dass das auch für die wissenschaftliche Theologie gilt. Und angesichts einer Jahrhundertkrise dürfen auch Theologie und Kirche erst einmal ratlos sein.
Aber wir sollten uns nun gemeinsam beraten. Ich freue mich über alle, die an so etwas wie einem gelingenden Praxis-Theorie-Diskurs beteiligt sind. Und nicht an erfahrungsfreier deduktiver Theologie oder an theorieblinden Praxisexperimenten.


3. Wichtige Fragen
Nach meiner Beobachtung gibt es eine Reihe von wichtigen Fragen, die geklärt werden müssen. Und interessanterweise hat die erste Frage beim digitalen Abendmahl mit dem Abendmahl an sich zu tun.

3.1. Abendmahl und Gemeinschaft
Was ist eigentlich das Abendmahl? Schon vom Neuen Testament her gab es unterschiedliche mögliche Schwerpunktsetzungen. Im 20. Jahrhundert hat sich besonders der Gemeinschaftsaspekt im Abendmahl ins Zentrum gestellt. Und auch beim digitalen Abendmahl wurde zunächst vor allem über die Frage diskutiert, ob es online überhaupt eine Gemeinschaft geben
könne. Einige sagten, dass sie digital Gemeinschaft erfahren hätten und dass es deshalb selbstverständlich auch ein Online-Abendmahl gebe. Andere erwiderten: Für die Feier der Gemeinschaft, oder: für die Feier in der Gemeinschaft reiche auch das Agapemahl. Das Abendmahl brauche mehr als nur Gemeinschaft, nämlich die Präsenz Christi in den Elementen, also in der Materie.

3.2. Abendmahl und Präsenz
Es gibt verschiedene Formen eines medial übertragenen Abendmahls (Übertragungsabendmahl, z.B. im Fernsehgottesdienst – Hybrid-Abendmahl in Kirche und am Bildschirm – Konferenz-Abendmahl z.B. im Zoom-Gottesdienst u.a.). Vorausgesetzt wird bei allen Formen, dass beim digitalen Abendmahl tatsächlich Brot und Wein oder Traubensaft gegessen und getrunken werden. (Es geht hier also nicht um reine Avatar-„Abendmahle“ z.B. in Second Life. Dort fehlt jegliche Materialität der Elemente.)
Dann gibt es vor allem zwei Fragen, die geklärt werden müssen:
-Ist eine raumzeitliche (Ko-)Präsenz der versammelten Gemeinde nötig?
– Ist eine raumzeitliche (Ko-)Präsenz zu den Elementen und zu ihrer Einsetzung nötig?

Es gibt Theolog:innen, die beide Fragen bejahen. Für sie ist ein digitales Abendmahl nicht möglich, allenfalls in einer „Schwundstufe“ als Agapemahl.
Ich gehöre zu denen, die ein digitales Abendmahl für möglich halten. Und zwar nicht nur, weil es praktiziert wurde, sondern auch, weil es theologisch denkbar ist. Darüber muss aber gestritten werden. Und wer die Geschichte der evangelischen Theologie und Kirche anschaut, merkt, dass der Streit über das digitale Abendmahl gut evangelisch ist: Vielleicht ist über kein
Thema so viel theologisch gestritten worden wie über das Abendmahl – von der Trennung zwischen Luther und Zwingli 1529 in Marburg bis zur Debatte über das Abendmahl für Kinder und mit Traubensaft in der EKvW zuletzt 2015 bis 2019.

3.2.1. Ist eine raumzeitliche (Ko-)Präsenz der versammelten Gemeinde nötig?
Schon die Liturgie der traditionellen Abendmahlsfeier zeigt auf, dass das Abendmahl theologisch Zeit und Raum überschreitet: „Darum preisen wir dich mit allen Engeln und Heiligen und singen vereint mit ihnen das Lob deiner Herrlichkeit.”
Wer online-Gottesdienste mitgefeiert hat, wird zweierlei erfahren haben: Es gibt Gemeinschaft der versammelten Gemeinde in dieser digitalen Form. Und: Es ist eine defizitäre Gemeinschaft. Das gilt auch für das digitale Abendmahl: Es fehlt etwas.
Aber es ist zu Recht darauf hingewiesen worden (u.a. von Matthias Kreplin), dass auch das traditionelle Präsenz-Abendmahl defizitär war und ist: Angefangen davon, dass es nicht mehr wie in biblischen Zeiten ein Sättigungsmahl am Abend ist, bis hin dazu, dass die verbreitete Form des Wandelabendmahls auch nur eine reduzierte Gleichzeitigkeit ist. Und umgekehrt ist trotz aller reduzierten Nähe in der digitalen Variante in vielen online-Varianten eine stärkere Interaktion möglich, sind Kameras
so nah an Gesichtern, dass Nähe empfunden wird. Und rezeptionsästhetisch ist diese Empfindung von Nähe durchaus auch
theologisch bedeutsam.

3.2.2. Ist eine raumzeitliche (Ko-)Präsenz zu den Elementen und zu ihrer Einsetzung nötig?
Die Einsetzung von Brot und Wein als Leib und Blut ist beim online-Abendmahl medial vermittelt. Und ebenso gilt doch: „Entscheidend für eine stiftungsgemäße Abendmahlsfeier ist nach evangelischem Verständnis, dass das (biblisch) bezeugte Wort der Zusage Christi erklingt und von allen, die es kommunizieren, gehört bzw. ‚verstanden‘ werden kann“ (Jochen Arnold). Das ist im digitalen Abendmahl möglich.
Sicher bleibt im derzeitigen Verständnis von digitalen Abendmahlsformen manche Frage nach der genauen Präsenz Christi in den Elementen offen. Aber das, was die Leuenberger Konkordie zur Überwindung der Gegensätze zwischen reformiertem und lutherischem Abendmahlsverständnis gesagt hat, gilt auch für die Frage nach der Präsenz Christi im digitalen Abendmahl. In Artikel 19 der Leuenberger Konkordie heißt es: „Die Gemeinschaft mit Jesus Christus in seinem Leib und Blut können wir nicht vom Akt des Essens und Trinkens trennen. Ein Interesse an der Art der Gegenwart Christi im Abendmahl, das von dieser
Handlung absieht, läuft Gefahr, den Sinn des Abendmahls zu verdunkeln.“
Von diesem Akt des Essens und Trinkens her gedacht: Nach lutherischem Verständnis werden Brot/Wein (Traubensaft) erst im Akt des Glaubens (des Empfängers!) zu Fleisch/Blut. Das ist ein enormer Schritt. Kann der Glaube nicht auch den Schritt gehen und über die digitale Distanz hinweg Christus als präsent empfangen? So groß scheint dieser zweite Schritt im Vergleich zum ersten gar nicht mehr zu sein.

4. Noch wichtigere Fragen
Seit dem Beginn der Pandemie scheint das Abendmahl generell an Bedeutung verloren zu haben. In den Zeiten ohne Präsenzgottesdienste und in denen mit einschränkenden Regeln (Maske, Abstand, Testung) gab es in der EKvW viele Fragen nach dem Singen und wie es trotzdem möglich sein könnte. Es gab ebenfalls viele Fragen nach dem Segen mit Handauflegen und wie er trotzdem möglich sein könnte, aber nur wenige Fragen nach dem Abendmahl und wie es trotzdem möglich sein könnte. Beobachter haben eine „eucharistische Appetitlosigkeit“ diagnostiziert. Die zentrale Frage scheint mir derzeit nicht zu sein, ob ein digitales Abendmahl sinnvoll oder gar erlaubt sein kann, sondern wie die Christ:innen in unseren Gemeinden überhaupt wieder entdecken, dass Abendmahl sinnvoll sein kann und gut tut, dass sie wieder Appetit auf das Abendmahl
bekommen und dadurch entdecken, was an Gemeinschaft, was an Segen, was an Heil im Abendmahl liegen kann.
Wenn das digitale Abendmahl dazu beiträgt, dann halte ich es nicht nur für erlaubt, sondern für erwünscht. Nicht als einzige, aber als eine Form des Abendmahls. Was mir aber wichtig ist: Dass wir wissen, was wir tun. Und dass wir das, was wir tun, würdig tun. Was würdige Formen des digitalen Abendmahls sind, das lohnt sich m.E. zu erproben.

Weiteres zum Thema:

  • Digital – parochial – global?! Ekklesiologische Perspektiven im Digitalen Workshopreihe der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Kooperation mit der Evangelischen Akademie im Rheinland und der Evangelischen
    Akademie der Pfalz: Workshop II – Abendmahl, 29. Januar 2021, epd-Dokumentation Nr. 11/2021.
  • Christoph Markschies, Gottesdienst und Medialität (Vortrag bei der Liturgischen Konferenz, Hildesheim, 6. September 2021), in: epd-Dokumentation Nr. 38/2021
  • Christoph Schrodt, Abendmahl: digital. Alte und neue Fragen – nicht nur in Zeiten der Pandemie, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 118 (2022), 495-515
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Kirchliches

#kirche_digital

Ein neuer Podcast zu Kirche_digital: Was soll, kann und muss Kirche in sozialen Medien tun? Was bringt die Netzwerkidee für unser Verständnis von Kirche? Kann es Abendmahl auch per Videocall geben? Wie genau ist es mit der Präsenz und Gemeinschaft im digitalen Raum? Und was können wir empirisch schon über digitale Kirche wissen? Wie ist das Ganze theologisch zu verstehen? Diesen und anderen Fragen nähern wir uns im Auftrag der Landessynode der Evangelischen Kirche von Westfalen dem Thema angemessen in einem Podcast. Dazu gibt es ein Papier, das wichtige inhaltliche Eckpunkte festhält.

Wir wollen mit unseren Gedanken einen Beitrag dazu leisten, Digitalität und Kirche konstruktiv zusammen zu denken und theologisch zu reflektieren. So wie Kirche mehr ist, als sonntags um 10:00 Uhr, wenn die Glocken läuten, ist Digitalität eben auch mehr als nur Internet, Apps und technischer Schnickschnack. Wir sind inmitten von digitalem Leben und Wandel und unsere Aufgabe ist somit nicht, uns für oder gegen „das Digitale“ zu entscheiden, sondern die zugrundeliegenden Dynamiken des digitalen Wandels zu verstehen und zu lernen, diese Dynamiken für uns zu gestalten und zu nutzen.

Dieser Podcast wurde im Auftrag der Evangelischen Kirche von Westfalen vorbereitet und aufgenommen von Jan-Dirk Döhling, Moritz Gräper, Andreas Hahn, Christine Jürgens, Bjarne Thorwesten und mir.

Musik: Hans-Werner Scharnowski
Titel und Abspann: Dennis Mohme
Artwork | Fotos | Produktion: Lukas Pietzner

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Kirchliches Wissenschaftliches

Nach Gott fragen angesichts der Pandemie

Die Corona-Pandemie hat erhebliche Auswirkungen auch auf die Kirchen und ihre theologischen Äußerungen. Mancher Vorwurf über „das Schweigen der Bischöfe“ meint die ganze Kirche und vermisst öffentliche Deutungen durch Kirche und Theologie.

Der von Annette Kurschus, Traugott Jähnichen und mir herausgegebene Band „Nach Gott fragen angesichts der Pandemie. Von Gott reden – mit Gott reden“ (Luther-Verlag Bielefeld 2022, 164 Seiten, Paperback, 14,95€, ISBN 978-3-7858-0808-5) dokumentiert theologische Äußerungen aus der Evangelischen Kirche von Westfalen in den Jahren 2020-2022, die deutlich machen: Krisenerfahrungen theologisch zu deuten heißt nicht, Antworten auf alle Fragen zu wissen, sondern die Frage nach Gott als eine eigene Perspektive in die Öffentlichkeit einzubringen. Von Gott reden heißt vor allem: nach Gott fragen und mit Gott reden.

Ulrich Körtner schreibt in seiner Rezension im Magazin zeitzeichen: „Warum also weiter von Gott reden? Wie von Gott und wie zu ihm reden?Mit diesen Fragen setzen sich die Beiträge des vorliegenden Bandes redlich auseinander […]. Sein Ziel ist es, das Gespräch in den Gemeinden und Kirchenkreisen anzustoßen“.

Harald Schroeter-Wittke hat den Band auf evangelisch.de rezensiert. Er schließt mit dem Lob: „So darf dieses Buch mit Fug und Recht ein theologisches Kompendium angesichts der jüngsten Corona-Erfahrungen genannt werden, das hoffentlich viele Menschen erreicht und sie ebenso zu begeistern vermag wie mich.“ 

Inhalt:

Annette Kurschus – Vorwort. Gott in der Pandemie
Traugott Jähnichen / Vicco von Bülow – Nach Gott fragen und mit Gott reden. Theologische Herausforderungen im Kontext der Corona-Pandemie
Annette Kurschus – Die ernsthafte Frage nach Gott
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Kirchliches

In jeder Hinsicht Wohlergehen und Gesundheit

Ich wünsche dir in jeder Hinsicht Wohlergehen und Gesundheit, so wie es deiner Seele wohl ergeht. (3. Johannes 2)

Monatsspruch Mai 2022

„Lieber Opi, wie geht es Dir? Mir geht es gut.“ Der Klassiker auf den Urlaubspostkarten früherer Jahre. Noch vor den Ferienerlebnissen an der Nordsee oder im Schwarzwald ging es ums Wohlergehen des daheimgebliebenen Großvaters (oder der Großmutter).

Der 3. Brief des Johannes an seinen Freund Gaius ist kaum länger als eine Postkarte – und auch er beginnt so.

Auch wenn Urlaubspostkarten etwas aus der Mode gekommen sind und zumindest meine Kinder ihre Großeltern live per WhatsApp informieren – den Wunsch des Johannes finde ich immer noch richtig klasse: Da meint es mal jemand richtig gut mit mir. In jeder Hinsicht soll es mir wohl ergehen. Weil das auch heute offensichtlich einen Nerv trifft, findet sich dieser 2000 Jahre alte Wunsch heutzutage auf allerlei bunten Genesungs-, Geburtstags- oder sonstigen Glückwunschkarten.

Denn wer wünscht sich das nicht? „In jeder Hinsicht Wohlergehen“. Wobei Johannes voraussetzt, dass es Gaius seelisch schon gut geht. Dazu soll auch die körperliche Gesundheit kommen. Aber was auch immer zuerst kommt, der Körper oder die Seele, eins ist klar: Beide können nicht ohne einander.

Tue deinem Körper etwas Gutes, damit deine Seele Lust hat, darin zu wohnen.“ Teresa von Avila wird das zugeschrieben. Seelisches Wohlergehen gibt es nicht, ohne dass es dem Körper wohl ergeht. Und ich habe eine Mitverantwortung dafür.

Wie gehe ich mit meinem Körper um?
Halte ich mich fit? Ein Spaziergang an der frischen Luft dient nicht nur dem körperlichen Wohlbefinden, er tut rundum gut.
Esse ich maßvoll, ausgewogen und gesund? Gönne ich meinem Körper ausreichend Schlaf? Tanke ich auf, indem ich meine Lieblingsmusik höre oder selber mache?

Erlaube ich mir, einfach mal so loszulachen? Kinder lachen im Schnitt etwa 400-mal täglich, Erwachsene nur noch 15-mal. Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder…“ (Matthäus 18,3).

Das erinnert mich daran, wie wichtig es ist, mir die Lebensfreude zu erhalten – gerade dann, wenn mich die Sorge für andere belastet. Für meine Familie, für meinen Freundeskreis, vielleicht auch für meine Firma oder meine Kirche. Aber nicht nur für meinen nächsten Umkreis, sondern auch für die, die mir etwas ferner stehen.

Das war auch schon im 3. Johannesbrief so. Direkt nachdem Johannes seinem Freund Gaius Wohlergehen wünscht, lobt er ihn für sein Verhalten: Mein Lieber, du handelst treu in dem, was du an den Brüdern tust, zumal an den fremden“.
Was tue ich für meine fremden Geschwister in dieser Welt?
Für die Flüchtlinge, die immer noch im Mittelmeer umkommen. „Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt.“
Für die Christinnen und Christen, die wegen ihres Glaubens benachteiligt und verfolgt werden.
Für die Menschen, denen der menschengemachte Klimawandel die natürlichen Lebensgrundlagen zerstört.
Mein Wohlergehen hängt mit ihrem Wohlergehen zusammen. Ich will mich so verhalten, dass mein Wunsch nach ihrem Wohlergehen nicht nur ein Spruch auf einer bunten Karte bleibt.

Für „Ein Weggeleit 2022“ der Männerarbeit der Evangelischen Kirche von Westfalen