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Kirchliches

Theologie und Öffentlichkeitsarbeit

Nach 12 ½ Jahren im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Westfalen war es für mich Zeit für Neues. Seit dem 1. November 2023 bin ich Referent für Theologie und Öffentlichkeitsarbeit in der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen. Diese Konföderation hat nichts mit Star Wars oder dem amerikanischen Bürgerkrieg zu tun, sondern ist der Zusammenschluss der fünf evangelischen Kirchen auf dem Gebiet des Landes Niedersachsen. Sie vertritt die evangelischen Interessen gegenüber dem Land und übernimmt gemeinsame Aufgaben der beteiligten Landeskirchen. Im Dezember bin ich dann auch liturgisch in meine neue Stelle eingeführt worden.

Dazu meldete die Konföderation:

Dr. Vicco von Bülow (56) wurde von der Bevollmächtigen Dr. Kerstin Gäfgen-Track in sein neues Amt als Referent der Konföderation für Theologie und Öffentlichkeitsarbeit eingeführt. Der Gottesdienst stand unter dem Bibelwort aus Psalm 37,5: „Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohlmachen.“

Bei der Einführung assistierten Bischof Thomas Adomeit (Oldenburg), Kirchenrätin Daniela Fricke (Bielefeld) und OStR i.K. Dorothea Otte (Hannover).

Pastor von Bülow ist seit dem 1. November 2023 als Referent für die Bereiche Theologie und Öffentlichkeitsarbeit in der Geschäftsstelle der Konföderation zuständig. Der gebürtige Westfale war zuvor Referent für Theologie und Kultur im Kirchenamt der EKD und danach theologischer Dezernent im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Westfalen. Er beschreibt sich als Buchliebhaber, Ehemann, Jazzfan, Jogger, Kirchenhistoriker, Klassikverehrer, Ostfriesenteetrinker, Pastor und Pfarrer, Podcaster, Theologe, Vater (dreier Kinder), Wanderfreund und Whiskygenießer. Mit seinem Namensvetter Loriot ist er nur entfernt verwandt.

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Humoriges Persönliches

Wenn der Namensvetter 100 Jahre alt wird

„Aber man hat schon das Gefühl gehabt, wenn er sitzt und herumguckt, dass er immer alles genau beobachtet. Irgendwo musste er das Material für seine Filme und Sketche herbekommen.“

Zum 100. Geburtstag von Loriot hat mich das Kölner Domradio interviewt. Das Interview ist hier online zu finden.

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Kirchliches

Was wir brauchen

Predigt für die Ev.-Luth. Martini-Kirchengemeinde Gadderbaum
am 5. November 2023
im Vortragssaal der Kunsthalle Bielefeld

Liebe Gemeinde!

Respekt!

Heute hat der Gottesdienst nicht nur bereits um Punkt 10 Uhr begonnen statt wie in unserer Gemeinde üblich um halb elf. Wir versammeln uns auch nicht in der Stephanuskirche, sondern in der Kunsthalle.

Andere Zeit, anderer Raum. Und Sie sind da! Wie wundervoll. Genau das habe ich heute morgen gebraucht.

Was wir brauchen“ – so heißt die Ausstellung, die in den Etagen über uns zu sehen ist. Vor allem mit Ausstellungsstücken von Oscar Tuazon.

Oscar Tuazon ist ein US-amerikanischer Installationskünstler und Bildhauer, der in Los Angeles lebt. Er wurde 1975 geboren. Die renommierte Internetseite Artfacts.net zählt ihn zu den 1000 bedeutendsten Künstlern weltweit und bezeichnet ihn als „ultra-contemporary“, also als ultra-zeitgenössisch.

Auf Wikipedia steht: „Die raumgreifenden Konstruktionen von Oscar Tuazon befinden sich auf der Schnittstelle zwischen Skulptur, Architektur und Design. Häufig verwendete Materialien sind Holz, Metall, Stein und Beton. “

Mit einigen seiner Werke ist Tuazon gerade sozusagen „auf Europatournee“. Zunächst in der Kunsthalle Bergen, dann im Kunst Museum Winterthur, und jetzt eben in Bielefeld – und das noch eine Woche lang.

Auch wenn Sie die Ausstellung selbst noch nicht besucht haben, haben Sie eines seiner Kunstwerke bereits gesehen. In der Eingangshalle steht mitten im Raum „Where I lived and What I Lived For“ (2007), ein Anklang an ein früheres Werk, das Native American Pavillon. Tuazon fühlt sich den uramerikanischen Bewohnern der US-Westküste sehr verbunden und hat viel von ihrem ganzheitlichen Kunstverständnis übernommen:

Mich inspiriert nach wie vor eine erweiterte Vorstellung von Kultur, wie sie in indigenen Communitys vorherrscht, das heißt ein Konzept, das neben bildender Kunst auch Musik, Nahrung, Sprache und Zeremonien einschließt.

Zu dem, was wir ganz grundlegend brauchen, gehört für Oscar Tuazon das Wasser. Die Water School in der ersten Etage ist ein sichtbares Zeichen dafür.

Mit dieser Installation hat sich Tuazon am politischen Protest der sogenannten Water Protectors gegen eine Wasser-Pipeline durch indigenes Land beteiligt. [Alle Zitate von Oscar Tuazon nach dem Gespräch mit Benedikt Fahrschon, Lynn Kost, Christina Vegh und Axel wieder, das unter dem Titel „Lernen, bauen, denken“ im Katalog zur Ausstellung veröffentlicht wurde.]

Als Künstler habe ich manchmal das Gefühl, in Isolation zu arbeiten – und hier waren 10 000 Menschen, die sich zusammengetan hatten, um temporäre Gebilde zu errichten, mit denselben Mitteln, die auch ich nutze. In Umweltbewegungen unter indigener Führung gilt Kultur nicht als zweitrangig gegenüber politischer Organisation, sondern als zentraler Baustein des Gesamtprojekts.

Wasser ist grundlegend für alles Leben auf der Erde. Auch die Bibel weiß das – wie es schon die Schöpfungsgeschichte zeigt, die wir als biblische Lesung gerade gehört haben. Der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser, dem einzigen Element, dass sich im Tohuwabohu schon identifizieren ließ.

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde; ihm verdanken sich der Kosmos, die Biosphäre, das organische Leben und schließlich der Mensch,

Zunächst einmal werden die Räume geschaffen, in den dann Leben entstehen kann. Ein durchaus moderner Gedanke. Die aktuellen Debatten um den Naturschutz befassen sich neben dem Artenschutz auch mit dem Schutz ganzer Lebensräume, den Biotopen. Die Erkenntnis hat sich durchgesetzt, dass man die Lebens-Räume schützen muss, wenn man das Leben schützen will.

Dazu gehört auch der Klimaschutz. Darüber sind sich auch irgendwie alle einig, aber ob wir genug dafür tun und wie man darauf aufmerksam machen kann, darüber schon wieder nicht.

Gerade radikalere Gruppen treffen mit ihren Aktionen oft auf Unverständnis, seien es nun Straßenblockaden oder Attacken auf Kunstwerke. Oscar Tuazon dagegen zeigt sich als politischer Künstler, eben als „ultra-zeitgenössisch“:

Kunst ist eine Sphäre, in der wir sehr kritisch über den Abfall nachdenken müssen, den Ausstellungen, Reisetätigkeiten und die Kunstwerke selbst hinterlassen. Deshalb sind Klimaproteste, die sich berühmter Kunstwerke bedienen – mögen diese Aktionen auch viele Menschen wütend machen -, so wichtig und effektiv: Sie instrumentalisieren die symbolische … Macht eines Kunstwerks.

Tuazons Kunstwerke wie zum Beispiel die Skulptur „Numbers“ (2012) als Ziele von Kartoffelbrei-Attacken? Ich weiß nicht, wie die Kunsthalle Bielefeld darauf reagieren würde…

Wenn Sie sich seinen Skulpuren nähern, um sie herumgehen, werden Sie auf jeden Fall neue Perspektiven entdecken. Zum Beispiel auf die dahinter an den Wänden angebrachten Kunstwerke (von Richard Serra und anderen). Aber auch darauf, wie wir Räume wahrnehmen.

Das ist für mich das Spannendeste an der manchmal etwas spröden Konzeptkunst von Oscar Tuazon. Sein Verständnis von Räumen und wie man sie nicht nur nutzen, sondern auch prägen kann.

Ich schaffe Räume für Menschen. Ich mache Platz, damit etwas anderes passieren kann. … Einen Raum zu betreten, ist nicht nur … eine Erfahrung für einen Betrachter, sondern auch eine soziale und politische Handlung, die ihrerseits die Bedingungen des Raums schafft. Du machst den Raum.

Am deutlichsten wird das in seinem zentralen Ausstellungsstück in der Kunsthalle:

Dem „Building“, das speziell für diesen Raum in Bielefeld entworfen und hergestellt wurde. Site-specific art nennt das die Kunstexperten.

Maßstäblich verkleinert stellt das „Building“ das Gerüst eines Hauses in den amerikanischen Wäldern dar, das Tuazon mit seiner Familie bewohnt, wenn er nicht in L.A. ist. Entscheidend ist aber für ihn nicht das Gerüst, sondern das, was darinnen passiert, das, was Menschen daraus machen.

Man kann kaum ein schöneres Geschenk machen, als zu sagen: „Hier ist die Arbeit, sie ist unvollendet; es gibt noch so viel, was du machen kannst.“

In der Mitte steht ein Feuerofen, um den herum sich Menschen versammeln können.

Und deshalb sind als einziges konkretes Einrichtungsstück im „Building“ Bänke installiert. Die Neue Westfälische führt auf ihnen Kunstgespräche. Die Universität Bielefeld und die Technische Hochschule OWL führen dort Lehrveranstaltungen durch, die diese Bänke zu Hörsaalbänken machen.

Bänke bringen Menschen zusammen, das wissen wir in der Martini-Gemeinde spätestens seit unserem Projekt „Plauderbank“.

Und es gibt noch weitere kirchliche Parallelen zu Tuazons Raumverständnis. Oft wird ja der Kirchenraum als heiliger Raum für den Gottesdienst verstanden.

Der evangelische Kirchbauexperte Thomas Erne hat auf biblische Vorbilder verwiesen:

Das sind Traditionslinien, die sich bis ins Alte Testament verfolgen lassen. Dort finden sich die räumliche Gegenwart Gottes im repräsentativen Tempel und die kommunikative Gegenwart Gottes in der Liturgie der Synagoge. …Die Synagoge ist ein Funktionsraum, dessen Bedeutung in der Ermöglichung der liturgischen Feier aufgeht.

Anders als die katholische Theologie haben wir Evangelischen einen zumeist nüchternen Blick auf den Raum der Kirche:

Kirchengebäude sind bis heute in evangelischer Perspektive äußerer Rahmen für die gottesdienstliche Zusammenkunft und letzten Endes entbehrlich. Deshalb kann Gottesdienst auch gefeiert werden „auf einem Platz unter dem Himmel, und wo Raum dazu ist“, wie es Martin Luther einmal gesagt hat.

Auf einem Platz unter dem Himmel, oder wo Raum dazu ist. Die feiernde Gemeinde macht jeden Raum zu einem Gottesdienstraum, nicht der Kirchraum umgekehrt die feiernde Gottesdienstgemeinde.

Dieses Motiv einer Unabhängigkeit der christlichen Religion von Räumen ist in der Evangelischen Theologie ein Grundkonsens von Luther über Schleiermacher bis heute: „Die Umgrenzung des Raumes ist nur eine äußere Bedingung, mithin Nebensache“.

Heilig ist ein Raum, auch ein Kirchenraum, also nicht einfach so, durch Tradition oder durch ein bestimmtes Architekturkonzept. Heilig ist ein Raum, auch ein Kunsthallenhörsaal, dadurch, dass Menschen ihn zum Gottesdienst nutzen. Sie haben es vielleicht noch nicht gemerkt, aber wir befinden uns gerade in einer Kirche.

Liebe Gemeinde,

in den letzten Monaten hat es viele Gemeindeversammlungen zum „Aufbruch 2035“ gegeben. Dem Veränderungsprozess der Kirche in Bielefeld. Der nötig ist, weil wir auch in Bielefeld immer weniger Kirchenmitglieder und immer weniger Geld haben. Und weil die kleiner werdenden Kirchengemeinden und geringer werdenden Finanzmittel nicht mehr zu den vielen Gebäuden passen, die wir noch haben. Und auch wenn ich durchaus mitbekommen habe, wie anstrengend die Zusammenarbeit mit den anderen Gemeinden in der Innenstadtregion manchmal ist, ich halte sie für unvermeidbar.

Wir werden Ressourcen miteinander teilen müssen – und zu diesen Ressourcen gehören auch unsere Räume. Es gibt keinen an sich heiligen Raum Süsterkirche, die Altstädter Nicolaikirche ist trotz des schönen Altars nicht per se heilig und die Neustädter Marienkirche ist vielleicht dann am heiligsten, wenn sie als Vesperkirche oder für geistliche Musikkonzerte genutzt wird. Und so sehr ich die Stephanuskirche mit ihrem Zeltdach und den wunderschönen Buntglasfenstern liebe – auch sie ist vor allem ein Funktionsraum, dessen Bedeutung darin besteht, dass er die Feier eines Gottesdienstes ermöglicht. Natürlich sieht die Stephanuskirche ganz anders aus als das „Building“ von Oscar Tuazon. Aber im Endeffekt ist auch sie nur ein äußerliches Gerippe, in dem das Entscheidende geschieht durch die Menschen, die sich darin versammeln.

Zum Glück tun sie das. Zum Glück tun wir das. Und insofern sind wir als Gemeinde, wir, die wir heute hier in der Kunsthalle versammelt sind, wir sind das, „was wir brauchen“, um den Titel der Ausstellung noch einmal aufzunehmen.

Und vielleicht nehmen wir auch noch eine Anregung von Oscar Tuazon mit auf:

Kann ich zum öffentlichen Raum etwas Nützliches beitragen? Das scheint mir ein guter Ansatzpunkt zu sein.“

Ja, das scheint mir ein guter Ansatzpunkt auch für uns in der evangelischen Kirche, für uns in der Martini-Gemeinde zu sein: Können wir zum öffentlichen Raum etwas Nützliches beitragen? Können wir für unsere Bielefelder Gesellschaft etwas Gutes tun? Oder mit der Bergpredigt gesprochen: Können wir Salz der Erde und Licht der Welt sein? Ich bin fest davon überzeugt, dass wir das können. Und deshalb ist mir nicht bange um die evangelische Kirche in Bielefeld und nicht um die Martini-Gemeinde, ob nun im Blick auf 2035 oder darüber hinaus. Wir können nicht so bleiben, wie wir sind. Wir müssen nicht so bleiben, wie wir sind. Wir werden nicht so bleiben, wie wir sind.

Wir werden neue Wege gehen. Und auf die will ich vertrauen.

Amen.

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Kirchliches Musikalisches

Hochschule für Kirchenmusik Bochum beschlossen

In den letzten Jahren habe ich mich als Kirchenmusikdezernent der Evangelischen Kirche von Westfalen sehr für die Zusammenführung der beiden Standorte unserer Hochschule für Kirchenmusik von Herford und Witte nach Bochum eingesetzt.

Nun hat die westfälische Kirchenleitung endlich den entsprechenden Beschluss gefasst. In zwei Radio-Interviews habe ich mich dazu geäußert:

  • Am 30. August wurde ich in WDR 3 Tonart interviewt, das Interview ist in der Mediathek verfügbar.
  • Auf Antenne Thüringen und LandesWelle Thüringen lief am 31. August ein Beitrag, den der Internationale Audiodienst Frankfurt (iad) produziert hat. Auch er ist online nachzuhören.

Grundlage war die Pressemitteilung der Evangelischen Kirche von Westfalen:

Westfälische Kirchenleitung beschließt Neubau der Hochschule für Kirchenmusik

Projekt mit großer Strahlkraft

Jetzt ist es sicher: Bochum wird neuer Standort der Hochschule für Kirchenmusik. Auf ihrer Sitzung am 24. August beschloss die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW), in Bochum den Hochschulneubau zu errichten.Darin werden die beiden Studienzweige der klassischen Kirchenmusik, die seit vielen Jahren in Herford gelehrt wird, und der kirchlichen Popularmusik, die Studierende bislang in Witten lernen können, in einer gemeinsamen kirchlichen Musikhochschule zusammengeführt.

Schon im vergangenen Jahr hatte sich die Kirchenleitung grundsätzlich für das Hochschulprojekt ausgesprochen und sich auf Bochum als möglichen Standort festgelegt. Anfang dieses Jahres gab sie die professionelle Projektplanung in Auftrag, verbunden mit der Aufgabe, unter realistischen Bedingungen die Einhaltung der Budgetvorgaben von maximal 14,2 Millionen Euro zu prüfen. Nachdem jetzt Planung und Prüfergebnis vorlagen, machte die Kirchenleitung mit ihrer Entscheidung den Weg für den Neubau frei.

Die neue Hochschule für Kirchenmusik wird in Bochum auf dem Campus der Evangelischen Hochschule entstehen. Auf drei Etagen bietet sie in Räumen mit anspruchsvoller Akustik und ansprechender Gestaltung Studienmöglichkeiten für jeweils rund 40 Studierende. Erstmals sollen junge Frauen und Männer zum Wintersemester 2026/27 ihr Studium am neuen Hochschulstandort aufnehmen können.

Dass in Bochum künftig klassische und populare Kirchenmusik gemeinsam gelehrt wird, ist einzigartig in der deutschen Kirchenmusiklandschaft. Hochschulrektor Jochen Kaiser verspricht sich davon eine gegenseitige künstlerische Inspiration beider Studienrichtungen. Er hatte im Frühjahr das Amt als Hochschulrektor übernommen mit dem Ziel, die bisher parallellaufenden Kirchenmusik-Studienfächer räumlich und konzeptionell zusammenzuführen (zum Interview mit Jochen Kaiser).

Mit der Entscheidung für den Hochschulneubau und das künftige Konzept setzt die Kirchenleitung ein Zeichen für die besondere Bedeutung der Kirchenmusik in Westfalen. „Diese neue Hochschule wird ein Projekt mit kultureller Strahlkraft sein – und das weit über Westfalen hinaus“, zeigt sich die Präses der EKvW, Annette Kurschus, überzeugt. Gerade in Zeiten knapper werdender Finanzmittel beschreibt die Kirchenleitung damit nicht zuletzt eines der kirchlichen Handlungsfelder, denen sie für die Zukunft Priorität einräumt.

(Medieninfo 6/2023)

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Kirchliches

Kirche (Symbolbild)

Andacht im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Westfalen

am 29.08.2023

Liebe LKA-Gemeinde,

erinnern Sie sich noch an Ihren Sommerurlaub? Fast schon so lange her, dass er kaum mehr wahr ist. Aber wenn ich nachdenke, weiß ich es wieder: Ich war wie im letzten Jahr in Südtirol. Und diesmal sind wir nicht über den Brenner gefahren, sondern über den Reschenpass. Da liegt der Reschensee. Sehr pittoresk. Aber kein natürlicher See, sondern ein Stausee. Für die Stromerzeugung wurden 1950 das Dorf Graun und weitere Siedlungen geflutet. Von den Dörfern sieht man nichts mehr. Fast nichts. Der Kirchturm von Alt-Graun ragt noch aus dem Wasser. Je nach Wasserstand geht ihm das Wasser bis zum Fundament oder zum Glockenfenster. In diesem Jahr war der See so etwa auf mittlerer Höhe.

Ich habe ein Foto gemacht und auf Facebook und Instagram veröffentlicht: mit dem spontanen Kommentar: Ein Symbolbild für die Kirche. Und bekam prompt die Rückfrage: Ein Symbolbild für was? Für „Wasser bis zum Hals“ oder für „Wandeln über den Wassern“?

Es gibt eine biblische Geschichte, in der beides drin vorkommt: Jesus und der sinkende Petrus  (Mt 14,22-33)

22 Und alsbald drängte Jesus die Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm ans andere Ufer zu fahren, bis er das Volk gehen ließe. 
23 Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er auf einen Berg, um für sich zu sein und zu beten. Und am Abend war er dort allein. 
24 Das Boot aber war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen.
25 Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer. 
25 Und da ihn die Jünger sahen auf dem Meer gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht. 
27 Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht!
28 Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. 
29 Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. 
30 Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, rette mich! 
31 Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm:  Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?
32 Und sie stiegen in das Boot und der Wind legte sich. 
33 Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!

Ein bisschen gemein, diese Geschichte. Erst schickt Jesus seine Jünger mit dem Boot weg, weil er alleine beten will. Die Sturmwolken dürften sich doch wohl schon über dem See zusammengezogen haben. Und als der Sturm dann in der Nacht so richtig losgegangen war, da geht er eben mal so übers Wasser und jagt seinen Jüngern einen Riesenschrecken ein. „Seid getrost, ich bin’s! Fürchtet Euch nicht!“, sagt das Gespenst, für das ihn die Jünger wohl halten wohl halten müssen. Toller Auftritt.

Einer von den verschreckten Jüngern will’s dann aber genau wissen. „Herr, bist Du’s, so befiehl mir, zu Dir zu kommen auf dem Wasser.“ Petrus. Natürlich. Wer sonst: Will mal wieder zeigen, dass er der Mutigste ist. Steigt aus dem Boot und geht auf Jesus zu. Auf dem Wasser. Aber kaum wird ihm klar, was da passiert, dass es Wellen und Wind gibt, beginnt er zu sinken. „Herr, hilf mir!“

Was Jesus dann tut, ist so ein bisschen gönnerhaft: Er greift Petrus‘ Hand und zieht ihn raus. Um das Ganze dann noch zu toppen, nennt er ihn auch noch „kleingläubig“. Und kritisiert seinen Zweifel.

Ist das nicht gemein? Darf man so mit der Angst der Menschen umgehen? Und selbst wenn ich mal einräume, dass diese biblische Geschichte sowas wie eine Fabel ist: Was will sie uns heute erzählen, die wir vor dem Kirchturm von Alt-Graun im Reschensee und vor unserer Kirche stehen, der das Wasser bis zum Hals steht?

Ein paar Ideen dazu.

Menschen haben Angst. Mit einem Boot in dunkler Nacht auf stürmischem See zu sein: archetypischer kann man Angst kaum darstellen. Das ist der Stoff, aus dem Alpträume sind. Dahinter steht die Urangst vor dem Tod. Die Fluten werden mich verschlingen und meine Existenz auslöschen. Das ist der Urgrund aller menschlichen Angst. Und steht er nicht auch hinter unserer Angst um die Zukunft unserer Kirche?

Wie immer man zu Jesu Auftritt mit dem Laufen übers Wasser stehen mag: Auf Seiten der Jünger wird deutlich: Angst macht so eng, dass ich Hilfe schwer erkenne und Helfer als angsteinflößende Gespenster erleben kann. Ich will nicht ausschließen, dass das auch bei der Angst um die Kirche so sein kann.

Menschen wollen Angst überwinden. Aber wie? Petrus veranstaltet hier eine Mutprobe im Glauben. Und scheitert. Der Meister schimpft ihn „kleingläubig“ und bemängelt seinen Zweifel. Keine wirklich Mut-Mach-Geschichte am Dienstag morgen für uns Landeskirchenamtsgemeinde, könnte man meinen. Muss man aber nicht.

Man kann die Geschichte auch anders lesen. Und das will ich Ihnen heute anbieten:

Glauben hat nichts mit der unrealistischen Hoffnung zu tun, ich bräuchte nie mehr Angst zu haben in meinem Leben, wenn ich nur „großgläubig“ genug wäre – wenn das das Gegenteil von „kleingläubig“ sein sollte – also „großgläubig“. Aber Glaube bewahrt nicht sozusagen automatisch vor der Angst. Im Gegenteil: Glaube nimmt die Angst ernst. Der Meister geht hin zu den Menschen in der Angst. Klar kann man sagen: gemein, dass er ihnen nun zusätzlich zur Dunkel und dem stürmischen See auch noch solch einen Schrecken einflößt als Gespenst. Man kann aber auch sagen: Die Ängstlichen haben in ihrer Angst ein Gespenst gesehen und nicht einen möglichen Weg aus der Angst – auch wenn der erst einmal wunderhaft und darum ungehbar erscheinen mag. Denn: Wer kann schon übers Wasser gehen?

Einer aber erkennt den Ausweg, selbst wenn er natürlich auch er noch nie in seinem Leben übers Wasser gelaufen ist. Aber er versucht’s. „Wenn Du mir hilfst“, sagt er zu Jesus, „dann will ich es auf Dein Wort hin versuchen.“ Jesus sagt: „Komm her!“ Und Petrus geht los. Losgehen. Ein guter Tipp für den Umgang mit der Angst auch für uns.

Aber das, was dann passiert, kenne auch ich gut genug. Auf halbem Weg verlässt Petrus der Mut. Und er droht unterzugehen. Jesu Antwort „Du Kleingläubiger. Warum hast Du gezweifelt?“ kann man als Demütigung verstehen. Man kann aber auch lesen: Petrus, Dein Versuch war schon richtig. Du hast als erster im Boot erkannt, dass es Wege aus der Angst gibt. Und Du hast erkannt, dass es dazu Mut braucht und Glauben und Vertrauen. Das alles hast Du gehabt.

Nur hat es noch nicht ganz gereicht. Glauben ist eben auch etwas, das man üben muss. In dem man wachsen kann. Aber der Weg, Petrus, der Weg ist richtig. Zwischen „kleingläubig“ und „großgläubig“ gibt es auch ein irgendwas dazwischen: „gläubig“.

Glauben heißt vor allem Vertrauen. Wir singen heute Lieder aus dem Kirchentagsliederbuch von 2019: #lautstärke. Auf der Titelseite können Sie es lesen: „Was für ein Vertrauen“ hieß es damals in Dortmund. Und Vertrauen war nicht nur vor vier Jahren wichtig, es ist es auch heute. Und wird so bleiben. Wo auch immer, in Dortmund, in Bielefeld, in Hannover, in Berlin. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat beim Kirchentag gesagt: „Unser ganzes Land ist auf Vertrauen gebaut. Es ist kostbar, dieses Vertrauen.“ Und gleichzeitig wissen wir, wie wenig selbstverständlich es ist. Wie Vertrauen schwindet, wie verbreitet Angst ist. Sie wissen das, ich weiß das.

Mir ist an dieser Stelle ein Wort des Theologen Karl Barth hilfreich gewesen. Der hat mitbekommen, wie die Kirchenleitenden und die Professoren im 19. Jahrhundert vergessen haben, von Gott zu reden. Der hat mitbekommen, wie die Nazis nicht nur im Staat, sondern auch in der Kirche die Macht übernommen haben, und wie daraufhin alle bis auf wenige Ausnahmen entweder begeistert mitmachten oder in Angst erstarrten. Der hat mitbekommen, wie in der Kirche und in der Gesellschaft nach 1945 die Chance zum Aufbruch verpasst wurde, weil entweder in die falsche Richtung oder gar nicht geleitet wurde. Beides ist ja nicht gut. Am Ende seines Lebens hat Barth dennoch nicht resigniert oder sein Vertrauen verloren. „Es wird regiert“. So formulierte er es am Vorabend seines Todes am 10. Dezember 1968: „Ja, die Welt ist dunkel. … Nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn es wird regiert, nicht nur in Moskau oder in Washington oder in Peking, sondern es wird regiert, und zwar hier auf Erden, aber ganz von oben, vom Himmel her! Gott sitzt im Regimente! Darum fürchte ich mich nicht. … Gott lässt uns nicht fallen, keinen einzigen von uns … ! – Es wird regiert!“

Dieses Vertrauen auf Gottes Regierung wünsche ich mir angesichts aller Ängste in meinem Leben. Und diese Zuversicht, dass doch geleitet wird, wünsche ich uns, wünsche ich Euch und Ihnen, wenn wir Angst um unsere Kirche haben, wenn glauben, dass ihr das Wasser bis zum Hals steht.

Amen.

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Kirchliches

Intelligentes Grußwort

Grußwort auf der VV der Prädikant:innen und Laienprediger:innen am 3.6.23 in Haus Villigst


Liebe Prädikant:innen und Laienprediger:innen der evangelischen Kirche von Westfalen,

es ist mir eine große Ehre und Freude, Ihnen anlässlich Ihrer diesjährigen Vollversammlung ein herzliches Grußwort zu übermitteln. Diese Zusammenkunft ist eine wunderbare Gelegenheit, um gemeinsam auf das vergangene Jahr zurückzublicken, Erfahrungen auszutauschen und neue Impulse für unsere Arbeit in der Kirche zu erhalten.
Als Prädikanten und Laienprediger spielen Sie eine unverzichtbare Rolle in unserer Gemeinschaft. Mit Ihrer Hingabe und Ihrem Engagement vermitteln Sie die frohe Botschaft des Evangeliums und tragen maßgeblich zur geistlichen Entwicklung unserer Gemeinden bei. Ihre Predigten, Gottesdienste und seelsorgerischen Tätigkeiten sind von unschätzbarem Wert und haben einen positiven Einfluss auf das Leben vieler Menschen.

In Zeiten des Wandels und der Herausforderungen ist es von großer Bedeutung, dass wir als Gemeinschaft zusammenstehen und uns gegenseitig unterstützen. Die Vollversammlung bietet uns die Möglichkeit, unser Wissen zu erweitern, neue Ideen zu entwickeln und gemeinsam Lösungen für die Fragen und Anliegen unserer Zeit zu finden. Lassen Sie uns diese Stunden intensiv nutzen, um voneinander zu lernen, uns zu ermutigen und gestärkt in unsere Gemeinden zurückzukehren.
Ich wünsche Ihnen allen eine inspirierende und bereichernde Vollversammlung. Möge dieser Austausch von Erfahrungen und Ideen neue Perspektiven eröffnen und Sie mit frischer Motivation für Ihren wichtigen Dienst erfüllen. Gemeinsam werden wir weiterhin das Evangelium verkündigen und die frohe Botschaft der Liebe und Hoffnung in unsere Gemeinden tragen.
Mit den besten Wünschen und Gottes Segen,


[Pause]

Liebe Geschwister,

vielen Dank für die freundliche Aufnahme meines Grußworts. Sie haben soeben einer künstlichen Intelligenz applaudiert. Das, was ich vorgelesen habe, hat der künstliche Sprachbot „ChatGPT“ verfasst. Auf die Aufgabe: Schreibe ein Grußwort für die Vollversammlung der Prädikanten und Laienprediger in der evangelischen Kirche von Westfalen. Mehr Informationen habe ich nicht gegeben. Das könnte man noch komplexer machen: Schreibe ein Grußwort für die die Vollversammlung der Prädikanten und Laienprediger in der evangelischen Kirche von Westfalen und berücksichtige folgendes Schwerpunktthema. Oder und schreibe es in einem humorvollen Tonfall. Da gibt es viele Möglichkeiten, die ich alle nicht genutzt habe.

So ist Ihnen das Grußwort vielleicht etwas blass und aussagearm vorgekommen, aber sind das Grußworte nicht immer? Oder zumindest oft? Vielleicht haben Sie auch nicht so genau zugehört – ist ja nur ein Grußwort… Jedenfalls finde es erstaunlich, wie gut eine künstliche Intelligenz den Tonfall eines menschlichen Grußworts imitieren kann. Wie finden Sie das? Erschreckend? Begeisternd?

Es ist aber fast schon egal, wie Sie es finden. Es ist nämlich Realität. Das, was man künstliche Intelligenz nennt, ist Teil unserer Welt. Und wird sie mehr und mehr beeinflussen. Nicht nur bei Grußworten, sondern in fast allen Feldern unseres Lebens. Neulich war in der Süddeutschen Zeitung ein interessanter Artikel darüber zu lesen, wieso ChatGPT noch nicht richtig als journalistischer Praktikant für eine Zeitung taugt. Aber ich bin mir sicher: Das wird sich ändern, und zwar schneller als wir denken.

Unsere Welt insgesamt wird sich ändern, und zwar schneller als wir denken. Unsere Kirche wird sich ändern, und zwar schneller als wir denken.

Auf der Landessynode im Mai haben wir über die Veränderungen gesprochen, die aus der steigenden Zahl der Kirchenaustritte resultieren. Die Entwicklung der Mitgliederzahlen, aber darüber hinaus auch die veränderten Rahmenbedingungen für die Kirche insgesamt, das führt zur Frage, ob der Begriff „Volkskirche“ noch die kirchliche Realität widerspiegelt. Aufgrund schwindender Ressourcen ist es schwieriger geworden, in der Fläche große Gruppen mit unseren Angeboten zu erreichen.

Volkskirche im Sinne der Kirche des Volkes sind wir nicht, aber können wir weiterhin wie in den letzten 100 Jahren Volkskirche als Kirche für das ganze Volk sein? Ich bin mir nicht mehr sicher. Und deshalb will ich den Begriff Volkskirche nicht mehr verwenden, obwohl ich vieles gut finde, was der Begriff meint: Offenheit, Vielfältigkeit etc. Er verschleiert aber die Einsicht: Wir sind eine evangelische Kirche im Übergang von der „Volkskirche“ in eine Kirchenform, für die Begrifflichkeit und Gestalt erst noch erarbeitet werden müssen.

Was wird jetzt aus der Kirche? Wenn ich ehrlich bin: Ich weiß ich nicht. Und wenn Sie ehrlich sind, wissen Sie es auch nicht. Lassen Sie uns gemeinsam danach suchen und das, was wir können, miteinander gestalten. Das wird nicht immer einfach. Aber unausweichlich. Und in jeder Herausforderung liegen Chancen. Lassen Sie uns die gemeinsam nutzen.

Die praktische Theologin Uta Pohl-Patalong hat gesagt: „Die aktuelle Situation der Kirche braucht den Mut, mit kleinen Schritten zu beginnen, ohne zu wissen, ob sie zu einer langfristig tragfähigen Lösung führen.“ Diesen Mut wünsche ich uns allen.

Bei all dem vertraue ich darauf, dass der HERR seine Kirche bewahren wird. Er hat nur nicht versprochen, dass er ausgerechnet die Form bewahren wird, die wir gerade kennen.

Zum Schluss. Eines hat Chat GPT in seinem Grußwort nicht aufgenommen, weil ich die KI nicht darüber informiert habe: Es soll eine neue Leitung für die Prädikant:innen und die Laienprediger:innen geben. Dazu werden Sie im weiteren Verlauf der Tagesordnung beraten und beschließen.

Peter Winkemann hat diese Aufgabe schon innegehabt, als ich die Zuständigkeit für die Prädikantenarbeit im Landeskirchenamt übernommen habe. Er war also schon da. Und es gibt Menschen, die behaupten: Er sei immer schon da gewesen als Sprecher der Prädikanten und Laienprediger. Das wird historisch nicht ganz zutreffend sein. Ich habe da sowas von 16 Jahren gehört. Es gibt aber eine Wahrnehmung wieder, die für Fakten steht: Peter, Du hast mit deinem Einsatz und deiner Leidenschaft die Prädikanten und Laienprediger der EKvW über Jahre hinweg begleitet und unterstützt. Dein Wissen, Deine Fähigkeiten und Dein Engagement haben für viele eine Inspiration und Ermutigung bedeutet, ihren Dienst mit Freude und Begeisterung auszuüben. Nun kannst Du das alles als Mitglied der Kirchenleitung in unsere Kirche einbringen. Bei aller Traurigkeit darüber, dass Du nicht mehr als Sprecher dieses Kreises hier weitermachen wirst, freue ich mich persönlich, dass wir uns dort weiterhin sehen.

Und nun nach vorne geschaut. Und noch ein paar Worte an, ja an wen denn genau? Wer auch immer Mitglied des angedachten Sprecherrats werden soll – es gibt ja schon Überlegungen dazu -: Ich freue mich auf die gute Zusammenarbeit mit Ihnen. Und komme auf die Abschlussformulierung von ChatGPT zurück: „Gemeinsam werden wir weiterhin das Evangelium verkündigen und die frohe Botschaft in unsere Gemeinden tragen.“ Das mache ich mir hiermit zu eigen.

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Kirchliches

50 Jahre Leuenberger Konkordie

Im März 2023 gibt es ein 50jähriges Jubiläum!

Vom 12. bis 16. März 1973 wurde auf dem Leuenberg bei Basel die endgültige Textfassung der Leuenberger Konkordie reformatorischer Kirche in Europa erarbeitet und den beteiligten Kirchen übergeben. Die Evangelische Kirche von Westfalen unterzeichnete alsbald als siebte Signatarkirche. Damit war sie Teil der Kirchengemeinschaft zwischen den lutherischen, reformierten und den aus ihnen herausgegangene unierten Kirchen sowie den ihnen verwandten vorreformatorischen Kirchen der Waldenser und der Böhmischen Brüder. Die methodistischen Kirchen traten 1997 bei. Heute sind 95 Kirchen Mitglieder der „Gemeinschaft Evangelischer Kirche in Europa“ (GEKE), wie die Leuenberger Kirchengemeinschaft seit 2003 heißt. In der westfälischen Kirchenordnung ist festgehalten: Die EKvW „pflegt besondere Beziehungen zu den Kirchen, mit denen sie in Kirchengemeinschaft im Sinne der Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie) […] steht.“ (Art. 3 (2) KO EKvW). Auf der Landessynode der EKvW vom 21.-24. Mai 2023 wird das 50jährige Jubiläum deshalb auch eine wichtige Rolle spielen.

Zum 40jährigen Jubiläum der Leuenberger Konkordie habe ich in der Dortmunder St. Petri-Kirche eine Predigt gehalten, die vielleicht auch noch nach 10 Jahren noch interessant ist:

Liebe Gemeinde,

erinnern Sie sich noch an Bruce Low? Ein holländischer Schlager- und Countrysänger, der vor gut 30 Jahren ein paar Mal in der deutschen Hitparade vertreten war. Unter anderem mit einem Lied, das ich in meiner Jugend gerne gehört habe und das Sie vielleicht auch kennen. Mit seiner unnachahmlich tiefen Stimme (ja, deshalb sein Künstlername Bruce Low) sang er auf die Melodie von „By the rivers of Babylon“:
Die Legende von Babylon / und was geschah /
ist ein Lied aus längst vergangnen Tagen. /
Die Legende von Babylon / und was geschah /
hat uns auch heut’ noch allerhand zu sagen.“

Ich habe es lange nicht mehr gehört, dieses Lied, aber als ich mich daran erinnert habe, war es sofort wieder in meinem Kopf da. Ein Lied aus längst vergangenen Tagen, nun gut, aus dem Jahr 1978. Aber es bezieht sich auf ein Lied, eine Geschichte aus viel älterer Zeit, aus der sogenannten Urgeschichte. Also den Anfangsgeschichten der Bibel, die erklären oder noch besser: erzählen wollen, warum die Menschheit so ist wie sie ist.

Ich lese aus der Lutherübersetzung von 1. Mose 11:
„Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache.
Als sie nun nach Osten zogen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst.
Und sie sprachen untereinander: Wohlan, lasst uns Ziegel streichen und brennen! – und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel
und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis in den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder.
Da fuhr der HERR hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten.
Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun.
Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprche verwirren, dass keiner des anderen Sprache verstehe!
So zerstreute sie der HERR von dort in alle Länder, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen.
Daher heißt ihr Name Babylon, weil der HERR daselbst verwirrt hat aller Länder Sprache und sie von dort zerstreut hat in alle Länder.“

Soweit das 1. Buch Mose. – Zurück zu Bruce Low, der meint:
„Die Legende von Babylon, / und was geschah /
hat uns auch heut noch allerhand zu sagen.“

Was uns die Geschichte vom Turmbau zu Babel zu sagen hat, das singt Bruce Low in Form einer Frage:
„Die Legende von Babylon / und was geschah /
das ist nun ein paar Tausend Jahre her /
und heute, versteht heute der eine Mensch den anderen?“

Das sieht nicht nur Bruce Low so, das sehen auch die übliche theologische Deutung: Das zentrale Motiv der Turmbaugeschichte ist die Sprachverwirrung. So wird die Geschichte dann traditionellerweise ausgelegt:
Die Menschheit hat einst in ungestörter Kommunikation und Gemeinsamkeit gelebt. Alle haben eine Sprache gesprochen. Dann haben die Menschen die – an sich positive – Technik des Ziegelbaus und der Verfugung zu einem hybriden Werk missbraucht, zu einem Turm, der an oder sogar bis in den Himmel ragen sollte. Meinten sie zumindest. In Wirklichkeit erzählt die Geschichte zweimal davon, dass Gott tief herabfahren musste, um den Turm überhaupt in Augenschein nehmen zu können. Was er sieht, entsetzt ihn. Die Menschen wollten sich einen Namen machen, auf Hebräisch Schem. Das zielte gegen Gott selbst, der im Hebräisch oft auch mit HaSchem – der Name bezeichnet wurde. Wer sich selbst einen Namen machen will, indem er den Himmel erstürmt, der lästert den Namen dessen, der im Himmel wohnt. Prompt folgt die Strafe auf dem Fuß: Gott verwirrt ihre Sprache, die Menschen verstehen einander nicht mehr, müssen den Bau abbrechen und werden in alle Winde, in alle Länder zerstreut.

Diese biblische Geschichte kommt in der Ordnung unserer Predigttexte zu Pfingsten vor. Und das Pfingstwunder ist dann die Gegengeschichte zum Turmbau zu Babel. Dank der Gabe des Heiligen Geistes können die Menschen aus aller Welt ihre unterschiedlichen Sprachen wieder verstehen: die Parther und Meder und Elamiter und wie sie in der Apostelgeschichte alle heißen.

Und in diesem Blickwinkel ist „die Legende von Babylon“ auch die Gegengeschichte zu dem, was wir heute feiern, zum 40. Geburtstag der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa. Die Situation vor 1973 ist geprägt gewesen von den vielen evangelischen Sprachen, von der Vielzahl reformatorischer Theologien und Kirchen. Das ist – quasi pfingstlich-wunderhaft – anders geworden durch den Text, der in unserem Gesangbuch unter die wichtigsten Bekenntnisse und Lehrzeugnisse der Kirche aufgeführt wird: durch die Leuenberger Konkordie. Darin haben inzwischen 106 evangelische Kirchen aus Europa ein gemeinsames Verständnis des Evangeliums festgestellt. Es ist nicht mehr so, dass einer des anderen Sprache nicht versteht. Wir haben einander zugehört, haben uns einander verständlich gemacht. Wir haben die Gegensätze in der Lehre vom Abendmahl, im Verständnis der Heilsbedeutung Jesu Christi und in der Theologie der Prädestination soweit überwunden, dass unsere unterschiedlichen Akzente nicht mehr kirchentrennend sind.
Wir können Kirchengemeinschaft erklären zwischen Reformierten und Lutheranern, zwischen Methodisten und Unierten und Waldensern und und und.
Das hört sich tatsächlich pfingstlich an: die Parther und die Meder und die Elamiter – sie alle kommen unter dem gemeinsamen Verständnis des Evangeliums zusammen.
Das ist die „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“, wie die Leuenberger Theologie treffend zusammengefasst worden ist. Und insofern eine Überwindung der babylonischen Sprachverwirrung, unter der wir alle gelitten haben.

Als Pfarrerin Stephanie Lüders und ich im letzten September [2012] an der 7. Vollversammlung der Gemeinschaft Evangelischer Kirche in Florenz teilgenommen haben, haben wir diese Gemeinschaft erfahren können. Haben mit Menschen aus anderen evangelischen Traditionen Abendmahl gefeiert, haben die Gemeinschaft zwischen unseren Kirchen im Gottesdienst bestätigt, haben gemeinsam Worte gefunden für unser Verständnis der frohen Botschaft, für unser Verstehen von Schrift und Bekenntnis. Haben uns als zusammengehörig erlebt trotz kultureller und historischer Unterschiede zwischen Schweden, Norwegern, Ungarn, Tschechen und Österreichern, ja sogar zwischen Westfalen und Rheinländern. Unglaublich, dass das erst seit vierzig Jahren so möglich ist. So selbstverständlich kam es uns vor. Die in Leuenberg 1973 erklärte Kirchengemeinschaft ist verwirklicht.

Doch das ist nur die eine Seite der Jubiläumsmedaille.
Die andere wird sowohl beim Blick auf die Leuenberger Kirchengemeinschaft deutlich als auch, wenn wir uns die Geschichte vom Turmbau zu Babel in einer anderen Perspektive anschauen. Denn: Ist die Vielfalt der Sprachen wirklich falsch? Ist die Ausbreitung der Menschen über die ganze Erde wirklich göttliche Strafe? Hat nicht Gott die Menschen dazu erschaffen, fruchtbar zu sein und sich zu mehren und die Erde zu füllen? (Gen 1,28) Und wird nicht in den Kapiteln vor dem heutigen Predigttext darauf hingewiesen, dass die Menschen eben das taten – sich über die Erde auszubreiten? (z.B. Gen 10,18) Folgen wir der biblischen Erzählung, dann bestand die Menschheit bereits aus vielen Völkern und vielen Sprachen, bevor sie von Osten her in Ebene Schinar kam und dort zu dem einen Volk mit der einen Sprache und dem eindeutigen Wortschatz wurde.
Wenn aus einer bunten Vielfalt von Sprachen, Dialekten und Kulturen Uniformität wird, dann riecht das, dann stinkt das nach Gewalt, Unterdrückung und zwangsweiser Assimilation. Wir kennen das aus der Geschichte immer wieder: Stammesgruppen, Ethnien, Völker werden in ihrer Identität gebrochen und zerbrochen, es wird ihnen verboten, ihre Muttersprache zu sprechen, ihnen werden fremde Namen gegeben.
Dann wäre die eigentliche Sünde von Babel, dass sich die Menschen der gottgewollten Vielfalt widersetzt haben und sich eigenmächtig, vielleicht sogar gewalttätig zusammenschließen. Und dann ist die Zerstreuung, von der die Geschichte am Ende berichtet, zumindest nicht nur Strafe, sondern auch Wiederherstellung des göttlichen Schöpfungsplans.

In dieser Perspektive ist auch das Pfingstwunder der Apostelgeschichte zu lesen. Denn dort wird ja nicht behauptet, die Parther und Meder und Elamiter hätten alle eine einzige Sprache gesprochen. Nein, ihre Sprachen blieben unterschiedlich. Neu und wunderbar ist nur, dass sie alle ihre unterschiedlichen Sprachen nun gegenseitig verstanden. Und diese Gemeinschaft im Hören ist das Wunder von Pfingsten.

Diese Linie kann man auch zur Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa weiterdenken. Die „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ kann eben nicht nur vorne betont werden, sondern auch hinten, als „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“. Methodisten müssen keine Reformierten werden, Unierte keine Lutheraner. Wichtig ist, dass sie sich als gemeinsam Hörende begreifen, dass sie auf Gottes Wort hören. Und aufeinander. Das ist nicht einfach: Eine lutherische Staatskirche wie in Dänemark kann sich nicht in gleicher Weise sozialpolitisch zur wirtschaftlichen Situation der EU äußern wie die Waldenser als Minderheitenkirche im katholischen Italien. Und die reichen und großen Landeskirchen in Deutschland haben ganz andere kirchliche Herausforderungen als die armen und wenigen Evangelischen in Osteuropa. Diese Verschiedenheit können wir nicht nur als Problem oder gar als göttliche Strafe begreifen. Sie bereichert uns auch, sie zeigt, wie evangelisches Christsein auch anders gelebt werden kann.

Und sie öffnet die Augen dafür, dass im Leben des 40jährigen Jubilars eben nicht nur alles Licht und Glanz ist. Sondern dass die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen auch nicht ganz von dem verschont geblieben ist, was bei menschlichen Jubilaren um die 40 manchmal die midlife-crisis genannt wird. Die in Leuenberg 1973 erklärte Kirchengemeinschaft ist eben nicht nur verwirklicht, sie muss auch immer wieder verwirklicht werden. Und zwar nicht nur auf der Ebene von Konsensdokumenten. Sondern vor allem im Leben der Kirchen und Gemeinden.
Wir verwirklichen Kirchengemeinschaft, indem wir gemeinsam Abendmahl feiern. Dazu heißt es in (Artikel 16) der Konkordie: „Wenn wir das Abendmahl feiern, verkündigen wir den Tod Christi, durch den Gott die Welt mit sich selbst versöhnt hat. Wir bekennen die Gegenwart des auferstandenen Herrn unter uns. In der Freude darüber, dass der Herr zu uns gekommen ist, waren wir auf seine Zukunft in Herrlichkeit.“
Und wir verwirklichen Kirchengemeinschaft, indem wir gemeinsam singen. Im Vorwort zum Gesangbuch „Colours of grace“ heißt es: „Einstimmend in das gemeinsame Lied erfährt die Gemeinde, dass sie zusammengehört, allem Trennenden zum Trotz.“

„Die Legende von Babylon / und was geschah /
das ist nun ein paar Tausend Jahre her /
und heute, versteht heute der eine Mensch den anderen?“

Nun, immerhin die evangelischen Kirchen in Europa verstehen einander. Allem Trennenden zum Trotz. Zumindest besser als sie das vor einem halben Jahrhundert getan haben. Sie haben Gemeinschaft erfahren. Diese Erfahrung wünsche ich auch mir und wünsche ich uns. Jetzt im Gottesdienst und darüber hinaus, in der ganzen Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa.


Amen.

Quelle: Kirchengemeinschaft erklärt und verwirklicht. Predigt über Gen. 11,1-9 anlässlich des 40jährigen Jubiläums der Leuenberger Konkordie am 17. März 2013 in St. Petri Dortmund, in: 40 Jahre Leuenberger Konkordie. Kirchengemeinschaft als zukunftsweisendes Modell kirchlicher Einheit? (epd-Dokumentation Nr. 43 v. 22.10.2013), S. 27-29

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Wissenschaftliches

Sieben Jahrhunderte Christentumsgeschichte

Rezension von:
Wolf-Friedrich Schäufele, Kirchengeschichte II: Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart (Lehrwerk Evangelische Theologie 4), Leipzig Evangelische Verlagsanstalt 2021. XX und 544 Seiten, gebunden, ISBN 9783374954848; 48,00€

Erneut liegt ein Band aus der gelungenen Reihe „Lehrwerk Evangelische Theologie“ vor, der auf „eine Leserschaft, die Freude an theologischer Bildung hat“ (V) zielt. Der Marburger Kirchenhistoriker Wolf-Friedrich Schäufele zeichnet mit „Kirchengeschichte II: Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart“ die letzten 700 Jahre Christentumsgeschichte nach.

Wissend, dass Kirchengeschichte nicht immer den besten Ruf hat, betont Schäufele in seinem konzisen Vorwort, dass das Verständnis für die Zusammenhänge wichtiger sei als Detail- und Datenwissen. Denn die Aufgabe der Kirchengeschichte sei es, verständlich zu machen, welche Transformationen und Neukonfigurationen dazu beitragen haben, dass „das Christentum, eine vor zwei Jahrtausenden im Vorderen Orient entstandene Religion, noch heute im 21. Jahrhundert […] von einer Mehrheit der Weltbevölkerung als ein plausibles Angebot der Welt- und Selbstdeutung, der Sinnstiftung und der moralischen Orientierung empfunden wird“ (XVII). Dabei sei im vorliegenden Band eine Konzentration auf Europa und Deutschland sinnvoll, um „angehenden Pfarrerinnen und Pfarrern und Religionslehrerinnen und Religionslehrern ein historisch begründetes Verständnis eben jener Gestalt des Christentums zu erschließen, mit der sie in ihrem Wirkungskreis aktuell konfrontiert sind und für die sie in ihrem Amt einzustehen haben“ (XVIII).

Die Einteilung in Zeitabschnitte ist etwas kleinschrittiger als üblich, aber einleuchtend. Im 1. Kapitel „Kirche und Theologie im Spätmittelalter (1294-1517)“ wird deutlich, dass auch diese Zeit mit ihren gesellschaftlichen, kirchenpolitischen und theologischen Entwicklungen zur Geschichte der evangelischen Kirche gehört. Ein Schwerpunkt liegt aber auf dem 16. Jahrhundert, das im 2. Kapitel „Die Reformation im deutschsprachigen Raum (1517-1555), im 3. Kapitel „Die Reformation in Westeuropa (1520-1648)“ und im 4. Kapitel „Kirche und Theologie im Konfessionellen Zeitalter (1555-1648)“ behandelt wird. Als Westfale mag man die wenigen Zeilen zum Täuferreich in Münster (vgl. 103) zu kurz finden, aber angesichts des Anspruchs, die großen Linien und nicht die kleinen Details zu beachten, steht eine solche Anfrage wieder etwas zurück. Und die Zusammenfassung der Zusammenhänge gelingt Schäufele hier durchweg, beispielsweise in der Charakterisierung des Protestantismus als neuer Grundtyp des Christentums: „Charakteristisch dafür ist die Aufhebung der Unterscheidung von Klerus und Laien und die daraus resultierende Ausschaltung der sakramentalen priesterlichen Heilsvermittlung sowie die konsequente Individualisierung der religiösen Existenz im Sinne einer Gottunmittelbarkeit jedes einzelnen Gläubigen.“ (569)

Im 5. Kapitel „Kirche und Theologie im Zeitalter von Pietismus und Aufklärung (1648-1789)“ betont Schäufele das Verbindende dieser Bewegungen: erstens die Betonung des subjektiven Wahrheitsbewusstseins, zweitens die Orthopraxie statt der Orthodoxie und drittens die Abkehr von der polemischen Kontroverstheologie. Das wird deutlich gemacht durch den Abdruck eines sprechenden Bildes aus Johann Arndts „Vom Wahren Christentum“ (227); man hätte sich noch mehr solcher Abbildungen in diesem Lehrbuch gewünscht. Aber der Westfale wird gleich wieder durch die ausführliche Darstellung des Wittgensteiner Radikalpietismus (vgl. 263-265) versöhnt. In der Einleitung zum 6. Kapitel „Kirche und Theologie im langen 19. Jahrhundert (1789-1918)“ betont Schäufele zu Recht: „Vieles von dem, was für unsere Lebensweise und unser Lebensgefühl heute selbstverständlich erscheint, ist erst im 19. Jahrhundert unter teilweise heftigen Verwerfungen errungen worden“ (298). Diese Erkenntnis kann gerade in den heutigen kirchlichen Umbrüchen kaum genug betont werden: Die jetzige Gestalt der Kirche geht eben überwiegend nicht auf Reformation und Urchristentum zurück, sondern auf das 19. Jahrhundert. Gerade in diesem Kapitel überzeugt die Reihenfolge der behandelten Themen: zunächst die Politik, dann der Bereich Wirtschaft/Soziales, folgend die geistigen Umwälzungen und erst dann die Auswirkungen auf Christentum und Kirche. So tritt die Kirchengeschichte der Illusion entgegen, „als habe es die Theologie nur mit Theologie zu tun“ (Gerhard Ebeling). Auf das „lange“ 19. Jahrhundert folgt im 7. Kapitel „Kirche und Theologie im kurzen 20. Jahrhundert (1918-1990)“. Ob das Engagement von Kurt Gerstein wirklich „befremdlich“ (430) war und der Einfluss der 68er-Bewegung auf die evangelische Kirche wirklich „gering blieb“ (454), kann man fragen. Aber damit wäre man schon wieder im Bereich der Details und nicht in den Zusammenhängen, die auch für die Kirchliche Zeitgeschichte überzeugend dargestellt werden. Etwas angehängt wirkt das Unterkapitel 7.12 „Christsein in der Ökumene“, besonders der Exkurs 7.12.5 „Zur Geschichte der Ostkirchen in der Neuzeit“. Hier wäre eine bessere Synchronisation innerhalb der Lehrwerk-Reihe mit Ulrich Körtners Ökumenischer Kirchenkunde denkbar gewesen.

„Ein Wort zum Schluss“ bildet das 8. Kapitel; dort beobachtet Schäufele gegenwärtige Trends und kommt zu dem Schluss, die Geschichte der kirchlichen Transformationen werde fortgesetzt werden müssen: „Die hergebrachten volkskirchlichen Strukturen werden neuen Modellen weichen müssen […]. Innovative Lösungen sind gefragt“ (504). Doch er ist gerade nach dem Rückblick auf die letzten 7 Jahrhunderte überzeugt, dass dies den christlichen Kirchen mit der Hilfe Gottes auch zukünftig gelingen werde.

(Kirchliches Amtsblatt der EKvW Teil II Ausgabe 2/2023, S. 9f.)

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Wissenschaftliches

Volkskirche im Wandel

Vicco von Bülow (Hg.), „Modell“ Volkskirche? Ein Jahrhundert im Wandel. Strukturen, Praxis, Perspektiven (Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte 49), Bielefeld 2022.
(auch als e-book erhältlich)

„Kirche verstehen“ als Grundlage für „Kirche gestalten“ – das gilt auch eine Kirche vom Übergang von der „Volkskirche“ in eine Kirchenform, für die Begrifflichkeit und Gestalt erst noch erarbeitet werden müssen. In dieser Übergangszeit gilt ganz pragmatisch: „Die aktuelle Situation der Kirche braucht den Mut, mit kleinen Schritten zu beginnen, ohne zu wissen, ob sie zu einer langfristig tragfähigen Lösung führen.“

Mit diesem Zitat von Uta Pohl-Patalong habe ich meine Einleitung zum Tagungsband „Modell“ Volkskirche? beendet, der in der Reihe Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte die Tagung der Kommission für Kirchliche Zeitgeschichte vom März/April 2022 dokumentiert.

Ich bin froh, dass das Buch – auch dank der Hilfe des Landeskirchlichen Archivs und der guten Arbeit des Luther-Verlags – noch in diesem Jahr erscheinen konnte. Und ich hoffe, dass es in dem von mir genannten Sinne zum Verstehen und zum Gestalten der Kirche hilfreich sein kann.

Wolf-Friedrich Schäufele hat in seinem aktuellen Lehrwerk zur Kirchengeschichtedie Kernaufgabe der Kirchengeschichte als theologischer Disziplin“ darin definiert, „angehenden Pfarrerinnen und Pfarrern und Religionslehrerinnen und Religionslehrern ein historisch begründetes Verständnis eben jener Gestalt des Christentums zu erschließen, mit der sie in ihrem Wirkungskreis aktuell konfrontiert sind und für die sie in ihrem Amt einzustehen haben.“ In diesem Sinne will ich auch dieses Buch zur Geschichte der Volkskirche in Westfalen verstanden wissen.

Aus dem Inhalt:

Vicco von Bülow
„Versammelte Gemeinde und ausgesandte Boten“ – Einleitung zum Tagungsband „Modell“ Volkskirche ? . . . . 11

Hinnerk Wißmann
Die Volkskirche als Resonanzraum des Religionsverfassungsrechts . . . . 23

Benedikt Brunner
Volkskirche – Konfigurationen und Potenziale eines evangelischen Grundbegriffs im 20. Jahrhundert . . . . 41

Norbert Friedrich
Wilhelm Zoellner, ein Mann der Kirche und der Diakonie zwischen Kaiserreich und Diktatur . . . . . 67

Ute Gause
„Den Pastoren leistet Ehrerbietung und Gehorsam.“ – Gemeindepflege der Sareptadiakonissen im Ruhrgebiet und in Westfalen . . . . 89

Jürgen Kampmann
Konkurrierende Konzeptionen von Volk, Kirche und Volkskirche in der nationalsozialistischen Zeit . . . . 103

Axel Noack
Von der Orientierung auf die Kerngemeinde zur Kirche in der Diaspora – Überlegungen zur „Volkskirche“ in der DDR . . . . 167

Tobias Sarx
Kirchenkritik um 1968 – Volkskirche als überholtes statisch-harmonisierendes Ferment der bürgerlichen Gesellschaft? . . . . 193

Christoph Kösters
Vom Wandel des katholischen Milieus und dem Ende der „Volkskirche“ nach 1945 – Deutungskonflikte um „Kirche“ und „Katholizismus“ in der Bundesrepublik . . . . 207

Gerhard Wegner
Die Entwicklung der Kirchenmitgliedschaft in der Evangelischen Kirche in Deutschland – Faktoren und Folgen . . . . 251

Traugott Jähnichen
Kirche im Volk – Transformationen volkskirchlicher Leitbilder seit dem 19. Jahrhundert . . . . 267

Antje Roggenkamp
Kirchbautag und Volkskirche – Strukturtheoretische Antinomien einer demokratisch konnotierten Begrifflichkeit . . . . 283

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Kirchliches Musikalisches

„Ein bisschen Frieden“

Vor einigen Jahren habe ich – zusammen mit dem Kirchenmusiker Matthias Nagel (damals Beauftragter der Ev. Kirche von Westfalen für Popularmusik) – eine Tagung zum Thema „Kirche und Schlager“ veranstaltet, die dann auch in einer Buchveröffentlichung mit dem Titel „Ein bisschen Frieden… Schlager und Kirche im Gespräch dokumentiert wurde.

Immer mal wieder gab und gibt es Anfragen dazu. Am 14. November 2022 hat der Bayrische Rundfunk für seine Sendung „Theologik“ ein spannendes Interview mit mir geführt. Die Sendung ist als Podcast auch nach der Ausstrahlung verfügbar (etwa ab der 20. Minute komme ich dazu). Es ging, natürlich, um Nicole („Ein bisschen Frieden“) und den biblischen Schalom, es ging um Karat („Über sieben Brücken musst du gehn“) und Psalm 23, es ging um Tiefgang und Oberflächlichkeit, um Familienbilder und Gesellschaftsentwürfe. Ganz im Sinne dessen, was ich in der Einleitung zum Buch 2014 geschrieben habe:

Wie eine Blume am Winterbeginn / so wie ein Feuer im eisigen Wind,
wie eine Puppe, die keiner mehr mag, / fühl ich mich am manchem Tag.
Dann seh ich die Wolken, die über uns sind, / und höre die Schreie der Vögel im Wind.
Ich singe aus Angst vor dem Dunkel mein Lied / und hoffe, dass nichts geschieht.

So beginnt Nicoles legendärer Schlager aus dem Jahr 1982: Ein bisschen Frieden. Damals gewann sie als 17jährige im adretten Kleid mit ihrer weißen Gitarre das, was heute „ESC“ heißt und damals Grand Prix Eurovision de la Chanson, der Große Preis des europäischen Schlagers. 32 Jahre später, also nach einer Generation, fragen wir: Wie ist das mit dem „und“ zwischen Schlager und Kirche? Passt das dahin? Oder gerade nicht? Und warum?
Anders als Nicole hoffen wir aber nicht, „dass nichts geschieht“. Sondern wir hoffen, dass etwas geschieht. Und damit meinen wir nicht nur die Frage, ob Schlagersänger in einer Kirche auftreten dürfen. Das hat Nicole schon getan, die 2009 erstmals auf eine Kirchentournee ging. Und im vergangenen Jahr 2013 gab es in Minden und darüber hinaus etwas Unruhe, als Heino in der St. Marien-Kirche auftrat.
Aber uns geht es nicht um Kirchgebäude als besonders coole Location für weltliche Schlagermusiker. Sondern wir wollen tiefer ansetzen. Für die meisten Pfarrer und Pfarrerinnen, für die meisten hauptberuflichen Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker wird das etwas sein, was sie nicht regelmäßig tun. Denn sie gehören einem Milieu an, dass sich musikalisch oft durch den Satz charakterisieren lässt: „Ich höre alles außer Schlager“. Aber wenn der Schlager zu den populärsten Musikformen gehört, wie die Albumcharts im Januar 2014 zeigen, die von Helene Fischer („Farbenspiel“, Platz 1) angeführt werden, Andrea Berg folgt bald danach („Atlantis“, Platz 4) – und wenn das auch viele Gemeindeglieder so empfinden und also unsere Kirchengemeinden zu einem großen Anteil aus Schlagerhörern bestehen – warum sollten wir uns kategorisch davon distanzieren?
Eine Beschäftigung mit dem Schlager ist bisher in der Kirche zumeist unterblieben, wenn es doch geschah, dann meistens in abgrenzender Form. Wir wollen das ändern – und vielleicht gibt es als Ergebnis dieser Beschäftigung so etwas wie „ein bisschen Frieden“ zwischen Kirche und Schlager.
Aber was ist das eigentlich, ein Schlager? Ich gebe offen zu, mich damit erst im letzten Jahr wirklich intensiver beschäftigt zu haben. Denn auch ich gehöre dem Milieu an, das von sich behauptet: „Ich höre alles, außer Schlager“. Aber was höre ich denn nicht? Was ist ein Schlager? Wie fast immer, wenn man einfache Fragen stellt, sind die Antworten gar nicht so einfach. Es sind kluge Abhandlungen darüber verfasst worden, was denn wann als Schlager verstanden worden ist. Das variiert nämlich sehr, je nachdem, ob man sich im 19., im 20. oder im 21. Jahrhundert befindet, je nachdem ob man musikalisch, soziologisch, psychologisch, ökonomisch oder gar theologisch denkt. Möglicherweise war der erste Schlager „An der schönen blauen Donau“ 1867. Damals ist der Begriff „Schlager“ vor allem für solche Musikstücke verwendet worden, in denen den Zuhörern in sprachlichen Anspielungen eine gewisse frivol-erotische Doppeldeutigkeit schlagartig bewusst wurde.
In den 1920er Jahren differenzierte man zwischen „Gassenhauern“ und „Schlagern“ – manche haben damals den Gassenhauer als kulturell höherwertig verstanden, weil er aus dem Volk heraus entstand und diesem nicht übergestülpt werde. So schrieb ein entsprechender Kritiker 1924: „Die massenpsychologische Wirkung des Schlagers beruht auf dem Gesetz des geringsten Aufwandes musikalischer Energie. Wiederholung der gleichen akustischen Einwirkung wirkt energiesparend und ist lustbetont [und das ist dann natürlich negativ zu bewerten]; je primitiver musikalisch empfunden wird, desto sicherer die Wirkung.“
Wenn heutzutage Schlagermusik und Volksmusik oft in eins gesetzt werden, dann irritiert ein Blick in die 1940er Jahre, als innerhalb der nationalsozialistischen Ideologie der Schlager zum Inbegriff aller sogenannten volksfremden Musik wurde, deren Urheber selbstverständlich im Judentum lokalisiert wurden.
Seit den 1950er Jahren wird der Begriff „Schlager“ als eine „Kurzform leicht eingängiger Tanz- und Unterhaltungsmusik“ oder als Bezeichnung für „einfache liedartige Melodien, die leicht zu behalten sind“ bezeichnet. Vielleicht lassen sich diese Formulierungen als Arbeitsdefinition verwenden. Wobei der Begriff weiterhin schwer zu umgrenzen und damit an den Rändern durchaus unscharf bleibt. So konnte das „Fach“magazin „Prisma“ in einem Artikel über „Andreas Gabalier und die Rückkehr des Schlager“ im August 2013 titeln: „Rock’n’Roll in Lederhosen“. Ja, was denn nun: Schlager oder Rock’n’Roll? Oder hat vielleicht doch die Deutsche Bahn recht, als sie in ihrem Kundenmagazin im Dezember 2013 anlässlich eines Artikels über Helene Fischer titelte: „Schlager wird Pop“?
Eine grundlegende Kritik am Schlager kam von Theodor Adorno. Er sah den Schlager als Teil der Kulturindustrie und wies auf den zunehmenden Warencharakter der Kultur hin. Besonders bei der Musik beeinflusse die Industrie in ihrer Rolle als Vermittler zwischen Werk und Konsument das Subjekt stark. Musik mutiere zum Massenprodukt des Amüsements. Popular music war Adorno ein besonderer Dorn im Auge. Sie führe zu einer Regression des Hörens. Der Rezipient sei gar nicht mehr in der Lage, Werke zu beurteilen, denn, so schreibt Adorno, „die Bekanntheit des Schlagers setzt sich an Stelle des ihm zugesprochenen Wertes“. Der Hörer setze das Wiedererkennen eines Stückes an Stelle des Wertens. Er sei also gar nicht mehr fähig aus seiner von „standardisierten Musikwerken“ umzingelten Situation herauszubrechen und die Musik objektiv zu betrachten. Der Einfluss der Medien und der Industrie mache den Bürger unmündig. Adorno formulierte seine Kritik in einer Zeit eines musikalischen Umbruchs, nämlich des Einbruchs der internationalen Pop- und Rockmusik in die deutsche und damit deutschsprachige Musikszene.
Die Deutschsprachigkeit scheint ein ganz wichtiges Kriterium des Schlagers zu sein. Während 1962 noch fast alle Hits in Deutschland auf Deutsch gesungen wurden, waren es zum Ende dieses bewegten Jahrzehnts nur noch 5-10%. Und lange Jahre blieb das auch so, vielleicht kurz unterbrochen von der Neuen Deutschen Welle in den frühen 80ern. Mit einem Blick auf die heutigen Charts und auf die Beliebtheit mancher traditioneller Schlagersender kann man fragen: Sind wir wieder auf dem Weg in die 50er? Oder ist der Schlagerhype nur gehypt? Tatsächlich ist es ja so, dass auf den sogenannten Schlagersendern viel Englisches gespielt wird und manches, was eindeutig nicht aus dem Bereich des Schlagers kommt, der Generation Ü40 aber dennoch in ähnlicher Weise vertraut ist.
Was hat das Ganze nun mit der Kirche zu tun? Das hat in ähnlicher Weise schon 2002 die EKD-Kulturdenkschrift „Räume der Begegnung“ gefragt. Und sie hat damals als eines der Ziele der Begegnung von Kirche und Kultur das „Ernstnehmen des Trivialen“ propagiert. In ihrer Analyse des Trivial-Populären haben die Autoren der Denkschrift Adorno widersprochen: „Die kulturindustriellen Produktionsformen, die der Gewinnmaximierung dienen, mindern weder automatisch die Qualität eines Produkts noch bestimmen sie die Werte, die es vermittelt.“ Die Denkschrift vermeidet es klug, das Religiöse und das Triviale zu identifizieren – oder auf unserer Thema übertragen: den Schlager und die Kirche. Sie stehen zu einer Beziehung zueinander, aber sie sind nicht eins. Wieso sollte sich die evangelische Kirche mit etwas so Trivialem wie dem Schlager beschäftigen? Ich zitiere die EKD-Denkschrift auch deshalb, weil sie mein eigenes Interesse trifft: „Es liegt in der Technik, Komplexität in emotionale Eindeutigkeit zu übersetzen. Oder anders gesagt: Das Triviale ist einer von mehreren Wegen, der protestantischen Verkopfung zu ent-gehen.“ Von anderen lernen, heißt es also wieder einmal.
Oder haben wir das schon längst getan? Hat nicht mit dem sogenannten Neuen Geistlichen Lied der Schlager schon Einzug in die Kirche gehalten? „Danke für diesen guten Morgen“ (EG 334) hat nicht umsonst nicht nur in der Kirche, sondern auch auf Schlager-CDs seinen Platz gefunden, bis hin zu der Sammlung von Partykrachern eines Mickie Krause. Und als wir im Landeskirchenamt 2012 im „Jahr der Kirchenmusik“ alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach ihrem Lieblingslied im Gesangbuch gefragt haben, kam ein kirchlicher Schlager auf Platz 1: „Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer“ (EG RWL 663). Ist das ein Grund zum Spotten oder heißt das nur, dass die Menschen im LKA gar nicht so abgehoben von der kirchlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit sind, wie manchmal vermutet wird?
Jedenfalls erscheint es notwendig, dass in der Kirche Berührungsängste und Vorurteile gegenüber dem Schlager abgebaut werden. Wenn wir populäre Musik wie Jazz, Rock und Pop als ernstzunehmenden Teil der Kirchenmusikszene ansehen, wie weit gilt das dann auch für den Schlager? Eines ist allerdings klar, bei allen Formen von klassischer und populärer Kirchenmusik: Wir müssen auf Qualität achten und in der Aus-, Fort- und Weiterbildung auch selbst dafür sorgen. Gegebenenfalls auch beim Schlager.
In seiner Autobiographie berichtet Marcel Reich-Ranicki von einem Erlebnis aus seiner Schulzeit, das diese Hochschätzung der Qualität auch außerhalb der Hochkultur anschaulich macht: „Als die Schüler, die ein Instrument beherrschten, etwas zum besten geben sollten und einer – und zwar ein Jude – im Unterschied zu den anderen, die mit klassischen Stücken aufwarteten, einen miserablen Schlager klimperte, befürchteten wir, [unser Lehrer] Steineck werde ihn streng zu-rechtweisen. Doch was vorgefallen war, hatte ihn nicht empört, sondern nur betrübt. Er sagte ganz leise: ‚Dies war schlechte Musik. Aber auch schlechte Musik kann man anständig spielen.‘“