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Kirchliches Musikalisches

Sozusagen grundlos vergnügt

Andacht am 28. März 2025 im Landeskirchenamt Hannover

Geh aus mein Herz und suche Freud

Vom großen Theologen Eberhard Jüngel ist überliefert, er habe im Examen sagen müssen, was die Aussage des neutestamentlichen Philipperbriefs gewesen sei. Er habe geantwortet „Freuet euch in dem Herrn allewege“. Und der Prüfer habe weiter gefragt: „Aber da steht doch bestimmt noch mehr drin?“ Und dann habe Jüngel geantwortet: „und abermals sage ich: Freuet euch!

Freuet euch in dem Herrn allewege. Leichter gesagt als getan. Geh aus mein Herz und suche Freud. Leichter gesucht als gefunden.

Ein Blick in die Tagesschau App:
Donald Trump und Elon Musk führen in den USA eine reaktionäre Revolution von oben durch, die die Demokratie in der mächtigsten Nation der Welt gefährdet. Und das Gleichgewicht des Weltfriedens gleich mit. Die Waffen zwischen Israel und der Hamas schweigen nicht mehr. Das Klimaziel von maximal 1,5 Grad zusätzlicher Erderwärmung ist endgültig verfehlt.
Aber nicht nur weltweit, sondern auch persönlich ist das mit der Freude so eine Sache:
Ich war in der letzten Woche nicht nur krank geschrieben, sondern wirklich krank. Ein Freund und ehemaliger Kollege hatte einen Schlaganfall. Die Mutter einer Nachbarin liegt im Hospiz und also im Sterben.
Ich gestehe: Das ist nicht nur so eine rhetorische Aneinanderreihung von schlechten Beispielen. Das macht mich wirklich fertig. Da Grund zur Freude zu finden, das schaffe ich nicht. Da hilft mir auch der große Theologe nicht weiter.

Und in der Situation kommt mir ein Song der Berliner Liedermacherin Dota Kehr auf die Kopfhörer. Die hat zum zweiten Mal ein Album der Dichterin Mascha Kaléko vertont. Mascha Kaléko ist die einzige bekannte dichtende Frau der Neuen Sachlichkeit. Sie wurde häufig mit ihren männlichen Kollegen verglichen; so bezeichnete man sie als „weiblichen Ringelnatz“ und „weiblichen Kästner“. Eigentlich könnte man es aber auch umgekehrt sehen: Ringelnatz und Kästner als „männliche Kalékos“.

Mascha Kaléko wurde 1907 in West-Galizien (damals Österreich-Ungarn, heute Polen) in eine jüdische Familie geboren. Um den Pogromen zu entkommen, floh die Familie 1914 nach Deutschland; ab 1918 lebte sie Berlin. Dort ging Mascha Kaléko zur Schule und machte anschließend eine Bürolehre. 1928 heiratete sie ihren ersten Mann. Ab 1929 veröffentlichte sie in Zeitungen und dann auch Büchern ihre ersten Gedichte.
Der Aufstieg der Nazis und das Publikationsverbot, mit dem sie Mascha Kaléko 1935 belegten, setzten ihrem Aufstieg ein jähes Ende. 1938 emigrierte sie mit ihrem zweiten Ehemann und dem gemeinsamen Sohn nach New York, wo sie zwar weiter Gedichte veröffentlichte, aber insgesamt unglücklich blieb. Als Buchtipp aus der Zeit: Verse für Zeitgenossen (1945, Neuauflage 2024).
1956 trat Mascha Kaléko ihre erste Deutschlandreise nach dem Krieg an; zu dieser Zeit erschienen Wiederauflagen ihrer Gedichtbände. 1959 zog das Ehepaar aus den USA nach Jerusalem. Eine Heimat fand die Dichterin dort aber auch nicht; bis an ihr Lebensende reiste sie viel. Sie starb auf einer Europareise 1975 in Zürich.
Insgesamt hatte Mascha Kaléko kein leichtes Leben. Nicht allzu viel Grund zur Freude. Und trotzdem hat sie ein Gedicht geschrieben, das mich froh gemacht hat. An dem ich mich festhalten konnte und kann. Es heißt „Sozusagen grundlos vergnügt“ (aus: In meinen Träumen läutet es Sturm, 1977 aus dem Nachlass). Dieses Gedicht habe ich als Geschenk empfunden. Und ich schenke es Ihnen weiter. Hören Sie zu, genießen Sie es und freuen Sie sich daran.

Mich hat das Lied erfreut. Der swingende Rhythmus. Die intensive, aber nicht aufdringliche Stimme von Dota Kehr. Aber vor allem der Text von Mascha Kaléko. Sie freut sich. Ich brauche das, dass Menschen sich freuen. Wenn andere sich freuen, fällt es mir leichter, mich auch zu freuen.
Und angesichts der wiederholten schlechten Nachrichten brauche ich die Wiederholung der Freude – achtmal taucht sie in dem kleinen Liedchen auf.
Und zunächst mal ganz unerwartet: Freude über Wolken, Regen, Hagel, Frost und Schnee. Das will ich lernen. Mich freuen an dem, was nicht auf den ersten Blick erfreulich ist.
Dann die Freude am Erwartbaren: An grünen Pflanzen, Vogelgezwitscher und Insektengesumme. Mich an Mückenstichen zu freuen, da bin ich noch nicht ganz so weit. Da ist die Dichterin weiter als ich.
Mond und Sonne sind Grund zur Freude, das wiederum kriege ich hin. Auch wenn ich wohl zu den Neunmalklugen gehöre, die alles erst einmal mit dem Kopf verstehen wollen, bevor sie sich freuen können.
Was ich aber verstehe: Freude ist des Lebens Sinn. Ohne Freude macht es keinen Sinn mehr. Ja, davon kann jeder depressive Mensch ein Lied singen. Und gerade deshalb will ich dieses Lied hier hören und mitsingen.
Und mit Mascha Kaléko vom Sonnenschein und Vogelgezwitscher auf die Meta-Ebene gehen. Mich freuen, dass ich bin. Naja, ob ich mich immer so freuen kann, wie ich bin, nun gut, auch das muss sich noch entwickeln. Aber ja, dass ich bin, das sehe ich ein, das ist schon nicht schlecht. Sonst könnte ich ja Freitags nicht mit Ihnen Andacht feiern.
Und ohne dass Mascha Kaléko Gott erwähnt, ist er plötzlich doch da. Da ist nämlich der Himmel offen, das Leben himmlisch. Dann wird es geradezu theologisch und das Gebot der Nächstenliebe klug hergeleitet: „Da kann der Mensch, wie es ihm vorgeschrieben, – Weil er sich selber liebt – den Nächsten lieben.“ Ohne Selbstliebe keine Nächstenliebe. Fast könnte es hier schon aufhören. Doch dann geht’s noch weiter im Text.
Wichtig: Das Schöne niemals für selbstverständlich halten. Sich nicht an Wunder gewöhnen, sondern dankbar dafür sein. Offen für das Neue. Da geht noch was.
Und zum Schluss ein Satz, der auf der Ebene der ganz großen Sätze spielt. So was wie „Ich denke, also bin ich“. – „Ich freue mich, dass ich mich freu“. Ja, Freude zieht Freude nach sich. Mascha Kaléko freut sich, dass sie sich freut. Und auch ich freue mich, dass sie sich freut.

Und denke: Vielleicht hatte Eberhard Jüngel doch Recht, obwohl er ein so großer Theologe war: „Freuet euch in dem Herrn allewege! Und abermals sage ich: Freuet euch!

Amen.

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Wissenschaftliches

Erkenntnis und Glaube. 75 Jahre Evangelische Forschungsakademie

Thomas von Woedtke / Vicco von Bülow (Hrsg.), Erkenntnis und Glaube. 75 Jahre Evangelische Forschungsakademie (Erkenntnis und Glaube. Schriften der Evangelischen Forschungsakademie Bd. 54), Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2025.

Das Verhältnis von Erkenntnis und Glaube ist nicht nur spannend, sondern auch von Spannungen geprägt. Spätestens seit der Aufklärung ist die wissenschaftliche Erkenntnis neben die oder an die Stelle der glaubensbestimmten Welt- und Lebensdeutungen getreten. In einer säkularen Perspektive wird der christliche Glaube nicht (mehr) als Grundlage für wissenschaftliche Erkenntnisprozesse angesehen, sondern als irrelevant oder gar als Widerspruch.

Das prägte auch die Gründung der Evangelischen Forschungsakademie 1948. Deshalb war der Einsatz gegen eine wechselseitige Gleichgültigkeit oder gar Unvereinbarkeit von Glaube und Erkenntnis das Kernthema ihrer interdisziplinären Arbeit. Im Rahmen einer Jubiläumstagung im Januar 2024 wurde eine aktuelle Bestimmung des Themas als Leitmotiv für Wissenschaft und Gesellschaft versucht. Mit Beiträgen von Christian Ammer, Volker Gerhardt, Heino Falcke, Martin Laube, Volker Jung und Sarah Rosenhauer.

Aus dem Vorwort der Herausgeber:

Der vorliegende Band dokumentiert Beiträge der 151. Tagung der
Evangelischen Forschungsakademie (EFA)
, die Anfang Januar 2024 in Berlin als Jubiläumstagung anlässlich der Gründung der EFA vor 75 Jahren stattfand.
Erkenntnis und Glaube – das sind zwei Pole, zwischen denen
sich das Leben, Denken und Handeln eines christlichen Wissenschaftlers, einer christlichen Wissenschaftlerin unweigerlich auffächert – mehr oder weniger offen und deutlich im täglichen Vollzug, bei dem einen oder der anderen mehr als Herausforderung oder vielleicht eher als selbstverständliche Einheit. Erkenntnis und Glaube ist auch der Titel der Schriftenreihe, die seit vielen Jahren bei der Evangelischen Verlagsanstalt erscheint und insbesondere die Januartagungen der EFA dokumentiert und deren Band 54 hier vorgelegt wird. […]

Für die Arbeit der Evangelischen Forschungsakademie und ihr
Motto Erkenntnis und Glaube ist gemäß ihrer Ordnung wie ihrer
Praxis zu konstatieren, dass mit Glaube der christliche Glaube gemeint ist. Zwar ist der Glaube in der christlichen Tradition mit
dem Theologen Otto Weber „primär als fiducia [Vertrauen] zu
verstehen, als Antwort auf die in Jesus Christus geschehene Selbstzuwendung Gottes […]. Er ist die Zuversicht zu Gott, die uns allein in der Begegnung mit dem uns versöhnenden Herrn erwächst.“ Er enthält aber auch die Elemente notitia (Erkenntnis) und assensus
(Zustimmung). […]

Ein Blick in die Zukunft ist bekanntermaßen immer mit erheblichen Unsicherheiten verbunden. Wir wissen nicht, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen sich wissenschaftliche Arbeit in den kommenden Jahren vollziehen wird […] und wie sich zukünftige Entwicklungen auch auf die Arbeit der EFA auswirken werden. Als Christen wissen wir, dass wir nicht alles selbst in der Hand haben, sondern auf die gnädige Führung und Bewahrung durch Gott angewiesen sind. In diesem Sinne sollten wir uns für die zukünftige Arbeit der EFA von der Botschaft des Paulus ( 1. Kor. 1,26-2,5) leiten lassen, die Kirchenpräsident Volker Jung uns in seiner Predigt im Festgottesdienst zum 75. Gründungsjubiläum der EFA mit auf den Weg gegeben hat:
„Vertraut euch Christus und seiner Gnade an!“

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Allgemeines

Orientierung im neuen Jahr 2025

Gehören Sie auch zu den Menschen, die sich gute Vorsätze zum neuen Jahr vornehmen? Mehr Sport, weniger Süßigkeiten vielleicht? Jedenfalls mehr als im letzten Jahr. Oder weniger, je nachdem. Einmal im Jahr ergibt sich kalendarisch ein Neuanfang, der von vielen Menschen als Anlass genommen wird, sich mit guten Vorsätzen neu zu orientieren. Es gibt viele Anlässe für Neuorientierung im beruflichen oder privaten Leben. Manchmal kommen wir selbst darauf, uns neu zu orientieren, manchmal aber zwingen uns äußere Faktoren die eine oder andere Neuorientierung auf. Trennungen egal welcher Art haben oft große Krisen im Leben zur Folge. Krankheiten zwingen uns, neue Wege einzuschlagen. Doch auch globale Krisen, von denen langfristig niemand verschont bleibt, bewegen uns manchmal dazu, uns neu zu orientieren. Zum Glück können wir Menschen das: Uns bewusst orientieren. Orientierung ist das Sich-Zurechtfinden in Räumen oder einer Gegend. Dazu braucht es Markierungen, anhand derer wir uns orientieren. Das können konkrete Orientierungspunkte oder Himmelsrichtungen sein, aber auch Erkenntnisse, Erfahrungen oder Werte. Wer kein Ziel hat, verliert leicht die Orientierung.

Die Jahreslosung für 2025 kann bei der Orientierung helfen. Sie lautet „Prüft alles und behaltet das Gute!“ und stammt aus dem Neuen Testament, aus dem 1. Thessalonicherbrief des Paulus, Kapitel 5, Vers 21. Das ist von Paulus so pointiert formuliert, dass es hängen bleibt. Paulus rät mit seinem Brief den Mitgliedern der jungen Christengemeinde in Thessaloniki, die kulturellen Eigenheiten mit ihrer gesellschaftlichen Umgebung abzugleichen. Sollen die Gläubigen beim Beten stehen bleiben oder sich auf den Boden knien? Wie sollen sie mit Sklavenhändlern umgehen? Wie sollen Sie sich gegenüber denen verhalten, die den Christinnen und Christen Böses wollen? Paulus appelliert an die Toleranz seiner Leser. Er wünscht sich eine offene Gemeinde, die in großer Gelassenheit die Verständigung mit ihrer Umgebung sucht und sich nicht angstvoll von ihr abgrenzt. Paulus gibt Orientierung: Lasst Euch Zeit. Nehmt wahr, was ihr seht, hört oder fühlt. Erkennt die bunte Vielfalt. Und dann überlegt, was Ihr behalten wollt – und was auch nicht. Denn gleichzeitig macht Paulus auch klar: Es gibt Grenzen. Toleranz ist nicht Beliebigkeit. Paulus ist nicht gleichgültig, weil ihm alles gleich gültig wäre. Nein, er appelliert an die Menschen, auf die Welt achtzugeben. Sie genau wahrzunehmen, um sich eine Meinung zu bilden und daran das eigene Handeln zu orientieren. Um Entscheidungen zu treffen, welche Schritte gegangen werden können – und welche nicht.

Denn den Weg einer Neuorientierung geht man am besten wie jeden anderen auch: Schritt für Schritt. Zur Orientierung beim Orientieren im neuen Jahr 2025 können Ihnen vielleicht einige Fragen weiterhelfen: Womit möchten Sie abschließen? Was genau soll oder kann nicht so weitergehen wie bisher? Was muss sich ändern? Was kann überhaupt geändert werden? Und: Was soll so bleiben wie es ist? Warum wollen Sie etwas ändern? Oder warum wollen Sie es so wie bisher belassen? Woran haben Sie sich bisher orientiert? Wollen Sie bei diesen Orientierungspunkten bleiben, oder wollen Sie den einen oder anderen nicht lieber auszutauschen oder erneuern? Was hat Sie in der Vergangenheit getragen und wie können Sie dafür sorgen, dass Sie sich auch in Zukunft dort festhalten können?

Und es gibt noch viel mehr Fragen, die Ihnen dabei helfen, sich selbst zu reflektieren. Die wichtigste Frage, auf die es aber auch beim Thema Orientierung am meisten ankommt, ist so einfach und so schwer gleichzeitig: Was ist gut für Sie, für Ihre Mitmenschen, für unsere Gesellschaft, für unsere Welt?  Vielleicht ist das der wichtigste Vorsatz für das neue Jahr: Prüfen Sie alles, was Sie tun wollen, ob es gut ist für Sie und für alle. Und das behalten Sie dann im Blick als Orientierungspunkt für Ihren Weg durch das neue Jahr.

Einige Gedanken wurden angeregt durch die lesenswerte Auslegung der Jahreslosung durch Rieke C. Harmsen im Sonntagsblatt 360° Evangelisch.

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Kirchliches

Von Engeln und Eselinnen

Gottesdienst anlässlich des von Bülowschen Familientags
Themen-Gottesdienst „Engel“
am Michaelistag, 29. September 2024 in der Augustinerkirche Gotha

Pfarrerin Angela Fuhrmann (AF) und Pfarrer Dr. Vicco von Bülow (VvB)

Kurze Zusammenfassung der Vorgeschichte (VvB):
Eine Migrationsgeschichte aus der Zeit der biblischen Wüstenwanderung. Das Volk Israel kommt aus Ägypten und sucht seine neue Heimat im gelobten Land. Doch die sesshaften Völker, durch deren Gebiete die Israeliten hindurch müssen, betrachten diesen Haufen wandernder Nomaden mit verständlichem Misstrauen. Sie sind sehr zahlreich, sie sind bewaffnet – und niemand kann genau wissen, was sie vorhaben. Die Amoriter und das Volk aus Baschan jedenfalls schaffen es nicht, sie aufzuhalten. So gelangen sie dann an die Grenzen des Königreichs Moab. Und als Balak, der König der Moabiter, das Volk kommen sieht, ist ihm klar, dass er es mit militärischen Mittel allein nicht besiegen kann. Denn er ist in diesem Punkt klüger als andere Könige. Er versteht, dass es hier weniger um Waffen geht als um den „himmlischen Rückenwind“ der Israeliten: Israel hat den Segen Gottes auf seiner Seite. Also will Balak zuerst Gott auf seine Seite ziehen, um anschließend gegen Israel bestehen zu können. Und da kommt Bileam ins Spiel. Der ist ein berühmter Gottesmann, Magier und Wahrsager – sozusagen ein „Profi“ fürs Segnen und Fluchen, Beschwören und Verwünschen. Darum lässt ihn König Balak durch Boten herbeirufen, verspricht ihm großen Lohn und bitte ihn darum, das wandernde Volk Israel zu verfluchen. Bileam ist nicht abgeneigt, den Auftrag zu übernehmen. Auch ein Magier muss von irgend etwas leben. Doch in der Nacht spricht Gott zu ihm und sagt: „Geh nicht mit ihnen, verfluche das Volk auch nicht; denn es ist gesegnet“ (4. Mose 22,12). Bileam akzeptiert das und erteilt der Gesandtschaft am nächsten Morgen eine Abfuhr. Doch König Balak lässt so schnell nicht locker. Er schickt eine neue Delegation, die Bileam wiederum Gold, Silber und große Ehre verspricht, wenn er nur den Auftrag zur Verfluchung Israels übernimmt. Bileam schläft erstmal eine Nacht drüber. Und in der Nacht hört er Gottes Stimme, der es ihm erlaubt, das Angebot des Königs anzunehmen, wenn er bei dem Unternehmen nur jederzeit tut, was Gott ihm sagt. Bileam meint, er hätte nun „grünes Licht“. Aber hat er Gottes Wort auch richtig verstanden? Oder hat er im Schlaf bloß gehört, was er hören wollte? Am nächsten Morgen sattelt er jedenfalls seine Eselin und will mit der königlichen Delegation nach Moab ziehen. Aber Gott ist mit Bileams Entschluss keineswegs einverstanden, sondern ist sehr zornig und stellt dem Reisenden seinen Engel entgegen – mit einem Schwert in der Hand. Allerdings für Bileam nicht sichtbar. Zum Glück ist das Reittier klüger als der Reiter. Die Eselin sieht den Engel und versucht ihm auszuweichen. Bileam schlägt sie mit der Gerte, um sie wieder auf den Weg zu bringen. Einmal, zweimal, dreimal. Dann kann sie nicht mehr. Die Eselin fällt auf die Knie und bricht zusammen. Und während Bileam den Engel immer noch nicht sieht, kann er jetzt zumindest die Eselin hören.
„Was habe ich dir getan, dass du mich nun schon zum dritten Mal schlägst?“ Bileam wundert sich nicht einmal über die sprechende Eselin, sondern schreit sie an: „Du hältst mich zum Narren! Hätte ich doch ein Schwert zur Hand! Dann wärst du jetzt schon tot!“ Die Eselin erwidert: „Bin ich nicht deine Eselin, auf der du dein Leben lang geritten bist? War es je meine Art, so etwas zu tun wie heute?“ „Nein“, gibt Bileam zu. Er ist der eigentliche dumme Esel. Und in dem Moment passiert es:

Biblische Lesung: 4. Mose 22,31-35 (Neue Genfer Übersetzung)
31 Da öffnete der Herr ihm die Augen, und er sah den Engel mit gezücktem Schwert auf dem Weg stehen. Bileam warf sich vor ihm nieder und berührte mit seiner Stirn den Boden.
32 »Warum hast du deine Eselin nun bereits dreimal geschlagen?«, stellte der Engel des Herrn ihn zur Rede. »Ich war es, der sich dir entgegengestellt hat, denn du bist auf dem verkehrten Weg.
33 Die Eselin hat mich gesehen und ist mir dreimal ausgewichen. Hätte sie es nicht getan, dann hätte ich dich getötet und sie am Leben gelassen!«
34 Da sagte Bileam zu dem Engel: »Ich habe Schuld auf mich geladen. Ich habe nicht erkannt, dass du mir den Weg versperrt hast. Wenn meine Reise dir missfällt, kehre ich sofort um.«
35 »Du kannst weiter mit diesen Männern gehen«, antwortete der Engel des Herrn. »Aber sag nur das, was ich dir auftrage!« So zog Bileam mit den Abgesandten Balaks weiter.

Persönliche Geschichten mit Engelfiguren aus Gemeinde und Familie (Moderation AF)

Bileams Engel … (VvB)
Michaelis ist der „Tag des Erzengels Michael und aller Engel“. Brauchen wir so etwas in der evangelischen Kirche? Vielleicht haben wir uns zu lange zu wenig Gedanken über Engel gemacht, obwohl sie doch biblische Gestalten sind. Und dies, obwohl der Angelus im Evangelium steckt.
Sie erinnern sich an die biblische Lesung von vorhin?
Bileam ist auf dem Rücken seiner Eselin unterwegs nach Moab. Gott stellt ihnen einen Engel in den Weg, doch Bileam sieht ihn nicht. Nur seine Eselin hat ein Sensorium für die göttliche Mitteilung und Warnung. Das schon ist kurios: der göttliche Bote braucht eine weitere Botin. Bileams Eselin verhält sich so, wie Esel nun einmal sind: störrisch. Bileam versteht das Verhalten seiner Eselin nicht und schlägt sie.
Die keineswegs sture, sondern hellsichtige Eselin belehrt Bileam dann über Gottes Wege. Sie ist die Seherin – und er der blinde und sture Bock. Es bedarf der Weisheit einer Eselin, um den Seher Bileam über das aufzuklären, was er nicht sieht: den warnenden Engel Gottes, der sich Bileam in den Weg stellt, um ihn von einem verhängnisvollen Irrweg abzubringen. Die Eselin, das gewöhnliche Last- und Reittier, wird zum Vehikel einer göttlichen Offenbarung.
Bei Bileam dämmert es nur langsam: erst muss Gott einen Engel schicken, dann einer Eselin den Mund öffnen und schließlich noch Bileam die Augen. Ziemlich viel Nachhilfe für einen, der es eigentlich wissen sollte. Doch Gott beweist eine Eselsgeduld im Umgang mit Bileam. Gelehrsamkeit ist eben offenbar keine Garantie für Wahrheitserkenntnis. Manchmal sind es die einfachen Weisheiten, sprich: Eseleien, die zielführend sind.
Das kenne ich, und ich vermute, das kennen Sie auch: Manchmal frage ich mich, wo Gott denn nun in meinem Leben ist. Ob er überhaupt noch mit mir spricht. Und dabei übersehe ich, dass er das tut. Nur manchmal halt etwas indirekter. Er schickt Engel. Oder Esel. Die mir Gottes Botschaft ausrichten. Aber ich bin blind, sehe den Engel nicht und höre vom Esel nur das I-A. Gott wirkt in meinem Leben. Ich sollte nur besser zusehen und hinhören. Augen und Ohren auf für Gottes Boten, das ist meine Lehre aus der biblischen Geschichte.
Übrigens, diese Geschichte geht noch weiter: Nach der Begegnung mit dem Engel reitet Bileam auf seiner Eselin weiter und trifft König Balak. Der gibt Bileam den Auftrag, Israel zu verfluchen, um auf diese Weise das Geschehen eines bevorstehenden Kampfes zu beeinflussen, doch heraus kommt am Ende ein Segen. Diese Szene wiederholt sich zwei weitere Male mit jeweils dramatischer Steigerung. Das erregt verständlicherweise den Zorn Balaks, der Bileam nach Hause jagen will. Bileam jedoch – schon im Abgang begriffen – spricht einen letzten vierten Segen über Israel aus. Damit ist auch er zu einem Engel geworden, einem Boten Gottes, der im Namen Gottes spricht und handelt.
Auch das ist was für uns, die wir hier als Michaelis-Gemeinde in Gotha versammelt sind: Auch wir können Engel werden, Boten Gottes, die in seinem Namen sprechen und handeln. Selbst wenn, das, was wir so sagen und tun, uns eher wie eine Eselei vorkommt.

… und unsere Engel (AF)
Der hebräische Name „Michael“ bedeutet „Wer ist wie Gott?“ Der Name zeigt, dass Engel auch gegen die Selbstüberschätzung von Menschen zu kämpfen haben.
In unserer Vorbereitungsrunde, als wir unsere verschiedenen Engel-Figuren angeschaut haben, fiel nebenbei die Bemerkung: „Wenn man dran glaubt…“ Und da waren viele Fragezeichen in der Stimme.
Wir waren uns schnell einig: Engel aus Ton oder Papier oder Glas sind es nicht, die uns beschützen. Sie sind kleine Hinweise auf eine Macht, die größer ist als unsere Sorgen.
Und trotzdem gibt es viele berechtigte Fragen:
Fragen an Engel: „Wo wart ihr, als…? Wo seid ihr heute, wenn …?“
Engel reden eine besondere Sprache. Du musst sehr still sein, damit du sie verstehst. Aber dann sagen sie dir:
„Ihr Menschen seid nicht unsere Chefs! Das ist ein anderer! Ihr seid nicht Gott! Ihr versteht vieles nicht, was zwischen Himmel und Erde passiert. Ihr seht ja immer nur ein kleines Puzzleteil vom Ganzen. Gott hat den Überblick. Darum hören wir nur auf ihn. Auf seine Befehle. Wir Engel sind immer übrigens immer da, wenn wir gebraucht werden. Wir streicheln die Traurigen, den Kranken singen wir Mutmach-Lieder ins Herz, die Sterbenden nehmen wir in die Arme und tragen sie in den Himmel. Wenn du Angst hast, zünden wir eine Hoffnungs-Kerze an. Und wenn du nicht weiter weißt, tragen wir dich ein Stückchen. Wie ein Kind, das an den Händen der Eltern über die Pfütze fliegen darf – hui…
Lass dich doch einfach tragen! Über die Pfützen und Abgründe des Lebens. Von Puzzle-Teil zu Puzzle-Teil. Du wirst am Ende schon sehen, dass alles gut wird.
Übrigens: Wir können dich richtig beflügeln, wenn du für andere zum Engel wirst. Und: Wir lieben es, wenn ihr mit uns zusammen singt:

Lied:
Gott hat mir längst einen Engel gesandt,
mich durch das Leben zu führen.
Und dieser Engel hält meine Hand,
wo ich auch bin, kann ich’s spüren.
Mein Engel bringt in Dunkelheit mir Licht.
Mein Engel sagt mir: „fürchte dich nicht!“
Du bist bei Gott aufgehoben!
(Text: Eugen Eckert, Musik: Thomas Gabriel)

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Kirchliches

Mein Gegner – von Gott geliebt

Als X noch Twitter hieß und die Tweets auf 180 Zeichen beschränkt waren, hat die Internet-Seite evangelisch.de die Bibel in Kurznachrichten zusammengefasst („Und Gott chillte“). Die Erzählung 1. Samuel 24 ging dann so:

(1-7) Zufälle gibt’s! Saul ruht sich in einer Höhle aus, in der David sich grade versteckt hält. David schneidet einen Zipfel von Sauls Mantel ab. (8-15) David sagt zu Saul: Höre nicht auf die Leute. Ich hätte dich töten können, tat’s aber nicht. Gott will das nicht und ich bin nicht böse. (16-23) David sprach zu Saul: Der Herr sei der Richter und David soll Recht haben. Saul: Du hättest mich töten können und hast es nicht getan!

Wie jede Zusammenfassung lässt auch diese notwendigerweise wichtige Teile der Erzählung aus. Also muss man den Text selber vollständig lesen, gut eignet sich dafür die Übersetzung der Basis-Bibel. Zum Verstehen bietet es sich an, diesen (langen) Text in Abschnitte zu unterteilen.

Verkehrte Machtverhältnisse

Im ersten Abschnitt spielt die Handlung: Der mächtige König Saul verfolgt den Rebellen David. Als er sich einmal dringend erleichtern muss (die Lutherbibel übersetzt wortwörtlich und etwas verschämt „sich die Füße bedecken“), zieht er sich in eine Höhle zurück. Dort hat sich David mit seiner Truppe versteckt und könnte die Gelegenheit nutzen, als der König die Hosen heruntergelassen hat. Aber David tötet Saul nicht, obwohl ihn seine Leute dazu anstiften. Er schneidet ihm nur ein Stück Kleidung ab.

David lässt Saul jedoch nicht einfach so ziehen, sondern konfrontiert ihn im zweiten Abschnitt mit der Situation. Er hält die längste Rede, die in der Bibel von ihm überliefert wurde und spricht Saul als „mein Herr und König“ an. So präsentiert er sich großmütig als jemand, der Böses tun könnte, es aber nicht tun will. Er schwingt sich nicht zum Richter über den König auf, sondern er überlässt das Urteil Gott. Das verändert alles.

Bei aller Großmütigkeit ist es allerdings schwer vorstellbar, dass Saul das nicht auch als eine Demütigung verstehen musste. David bringt ihn zum Weinen. Und zur Erkenntnis, dass David nicht nur ihm gegenüber im Recht ist, sondern ihm auch als König nachfolgen wird. Saul bleibt im dritten Abschnitt nur noch übrig, ihn vor Gott für seine Familienmitglieder um Gnade zu bitten. So haben sich die Machtverhältnisse umgekehrt. Und alles ohne Blutvergießen.

Großes Kino, diese Geschichte! Weil sie so spannend ist, wurde sie in der Bibel schon zwei Kapitel später (1. Samuel 26) mit leichten Abweichungen erneut erzählt. Weltliteratur, diese Geschichte! Stephan Heym hat sie in seinem Buch „Der König David-Bericht“ aufgenommen.

Aber es geht in ihr nicht nur um Menschlich-Allzumenschliches („Zufälle gibt’s!“). Sondern auch um Gott. Jeder weiß hier, was Gott eigentlich will: Davids Leute behaupten: „Es ist soweit! Das ist der Tag, von dem der HERR zu dir gesagt hat.“ David weiß, wie Gott richten wird: „Der HERR soll Schiedsrichter sein. Er soll mir dir gegenüber zum Recht verhelfen.“ David ist überzeugt, dass Gott sich auf seine Seite stellen wird. Aber er überlässt Gott das Urteil und durchbricht so die Logik der Vergeltung. Und Saul schließlich ist sich sicher, dass Gott ihn in die Hand Davids gegeben hat und dass Gott David dafür mit dem Königtum belohnen wird.

Und Gott? Tut und sagt in dieser Geschichte erst einmal nichts. Kommt als Akteur nicht vor. Hier kommen mir Fragen: Wo lege ich meine (bösen) Gedanken Gott in den Mund? Wann instrumentalisiere ich Gott, indem ich davon ausgehe, dass er mir und nicht dem Anderen Recht geben wird?  Wie kann ich zu Gott beten – nicht für mich, sondern für andere?

Wenn ich beim Lesen dieser Geschichte auf mich und meine Mitmenschen schaue, kommen mir ebenfalls Fragen: Sehe ich, dass auch mein Gegner ein von Gott geliebter Mensch ist? Verzichte ich darauf, das zu tun, was ich tun könnte? Schaffe ich es, mich nicht vom Bösen überwinden zu lassen, sondern das Böse mit Gutem zu überwinden (Römer 12,21)? In unserer aktuellen gesellschaftlichen Situation würde es gut tun, wenn mehr Menschen so handeln würden.

Fragen, auf die die Erzählung von Saul und David keine eindeutigen Antworten gibt. Denn sie ist ja in sich selbst nicht eindeutig und verteilt Gut und Böse eben nicht einfach so auf David und Saul. Beide sind  – wie alle Menschen –  gerecht und sündig, gut und böse zugleich. Ich kann nur hoffen, dass mir das im entscheidenden Moment in meiner Höhle (oder modern gesprochen: „bubble“) auch einfällt. Dass mir Gott einfällt und seine Menschenfreundlichkeit. Und dass der Hass nicht das letzte Wort haben darf.

Andacht zu 1. Samuel 24,1-23 für Unsere Kirche zum 4. Sonntag nach Trinitatis (23. Juni 2024)

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Kirchliches Wissenschaftliches

Die Barmer Theologische Erklärung im Kontext des „Kirchenkampfes“ 1933-45

  1. Der historische Kontext
    Die Barmer Theologische Erklärung vom 31. Mai 1934 ist nicht ohne ihren zeitgeschichtlichen Kontext zu verstehen, auch wenn sie weit über ihn hinaus Bedeutung hat. Rückblickend kann man verschiedene Phasen unterscheiden: Die erste Phase des „Kirchenkampfes“ begann im Januar 1933 und reichte bis Anfang 1934 (siehe 2). Die zweite Phase umschloss die Zeit von Mai bis Oktober 1934 und damit die Bekenntnissynoden von Barmen und Dahlem. Diese Phase ist wohl als der Höhepunkt des Kirchenkampfes anzusehen (siehe 3). Aber auch danach gab es noch wichtige Ereignisse (siehe 4).
  2. Vom Januar 1933 bis Anfang 1934
    Reichskanzler Adolf Hitler versuchte nach dem 30. Januar 1933 den Kirchen gegenüber entgegenkommend zu wirken. Weithin wurde dies auch so angenommen, allerdings gab es schon am 9. Mai mit der Gründung der Jungreformatorischen Bewegung durch Martin Niemöller und andere eine erste Gegenbewegung. Sie konnte allerdings nicht verhindern, dass die von der NSDAP unterstützten Deutschen Christen (DC) im Juli eine 70%ige Mehrheit bei den deutschen Kirchenwahlen erreichten. Im Amt blieben nur die Bischöfe der später „intakt“ genannten Landeskirchen, nämlich Theophil Wurm aus Württemberg, Hans Meiser aus Bayern und August Marahrens aus Hannover. In den anderen Landeskirchen hatten DC, deren Bestreben die Einführung des Führerprinzips in die evangelische Kirche war, klare Mehrheiten. Ein erster Schritt auf dem Weg zur Durchsetzung des Führerprinzips war die am 27. September durch die Nationalsynode der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) erfolgte Wahl Ludwig Müllers zum Reichsbischof. Er versuchte eine weitere Zentralisierung durchzusetzen, blieb jedoch damit erfolglos. Als die Deutschen Christen am 13. November auf der Berliner Sportpalastkundgebung den Ausschluss des Alten Testaments aus der Bibel forderten, war dies auch vielen ihrer gemäßigten Mitglieder zu radikal, und so erlebte der im September gegründete Pfarrernotbund Martin Niemöllers einen regen Zulauf. Seine Wirksamkeit trug entscheidend zur Bildung der „Bekennenden Kirche“ (BK) bei.
  3. Die beiden Bekenntnissynoden 1934
    Vom 29. bis 31. Mai 1934 versammelte sich die Bekennende Kirche in Wuppertal-Barmen zu ihrer ersten Synode, die vor allem wegen der von den dort versammelten Lutheranern, Unierten und Reformierten verabschiedeten „Theologischen Erklärung“ bedeutsam ist. Theologisch war sie vor allem vom Reformierten Karl Barth geprägt, aber auch vom Lutheraner Hans Asmussen, der den Text in die Synode einbrachte. Mit ihrer ersten These, die Jesus Christus als die einzige Offenbarung Gottes bekannte, wurde der Anspruch der DC abgelehnt, die in der NSDAP und in Hitler eine Offenbarung Gottes sahen. Die Barmer Theologische Erklärung gab der Bekennenden Kirche ihr Fundament und ihre Richtung. Die zweite Bekenntnissynode am 19. und 20. Oktober 1934 in Berlin-Dahlem stand unter dem Eindruck der kurz zuvor erfolgten Übernahme der bayerischen und württembergischen Kirchenleitung durch die deutsch-christliche Kirchenregierung. Während die BK in Barmen den Anspruch, Kirche im Sinne Jesu Christi zu sein, theologisch begründet hatte, setzte sie ihn in Dahlem praktisch durch das Mittel des Kirchlichen Notrechts durch. Diese Linie wurde jedoch nicht mit voller Energie weiterverfolgt, weil sie vielen als zu weitgehend erschien.
  4. Die Jahre 1935 bis 1945
    In der Folgezeit verstärkte sich der Gegensatz zwischen dem eher bruderrätlich orientierten Flügel der BK und dem Flügel, der sich auf die intakten Landeskirchen stützte. Zwar konnte man sich noch auf eine Vorläufige Kirchenleitung einigen, die im Juni 1935 auf der dritten Bekenntnissynode in Augsburg bestätigt wurde, aber spätestens auf der vierten Bekenntnissynode im Februar 1936 in Bad Oeynhausen war die BK als Organisation zerbrochen. Dies trug dazu bei, dass die Einigungsversuche des im Juli 1935 eingesetzten Ministers für kirchliche Angelegenheiten, Hanns Kerrl, erfolglos blieben. Seine Politik wurde aber auch durch härtere antikirchliche Maßnahmen der Gestapo unterlaufen. Zwar hatte die 2. VorläufigeKirchenleitung der BK im Mai 1936 in einer Denkschrift an Hitler gegen Entchristlichung, Antisemitismus und Terrormaßnahmen wie z.B. Konzentrationslager protestiert, aber als am 9. November 1938 in der Reichspogromnacht die Synagogen brannten, ist die Kirche eine Reaktion schuldig geblieben. Aktivitäten wie z.B. das „Büro Grüber“ in Berlin, das Hilfen für sogenannte „getaufte Nichtarier“ anbot, blieben die Ausnahme. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 wurden viele Mitglieder der BK in den Untergrund gedrängt oder verhaftet. Die Leitung der DEK lag seit 1937 in den Händen eines deutsch-christlichen Juristen, der seit Kriegsbeginn vom Geistlichen Vertrauensrat unterstützt wurde. Dieser Vertrauensrat setzte sich zwar in Einzelfällen für die bedrängte Kirche ein, blieb aber insgesamt zu unkritisch und staatstreu. Von dort kam kein Protest gegen den Ausschluss getaufter Juden aus der DEK im Dezember 1941, auch nicht gegen das seit 1939 laufende nationalsozialistische Euthanasieprogramm. Bischof Wurm dagegen protestierte mehrmals gegen diese Tötung sogenannten „lebensunwerten Lebens“. Er wurde in dieser Zeit zu einem Sprecher der Bekennenden Kirche. Sein Ende 1941 gegründetes „Kirchliches Einigungswerk“ bildete nach 1945 einen wichtigen Grundstock für den Aufbau der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Zuerst veröffentlicht in:

75 Jahre Barmer Theologische Erklärung.
Eine Arbeitshilfe zum 31. Mai 2009
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Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland,
Amt der Union Evangelischer Kirchen in der EKD,
Amt der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands:
Dr. Vicco von Bülow, Dr. Martin Heimbucher, Dr. Mareile Lasogga,
Hannover 2009

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Kirchliches

„Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben“

Andacht bei der Pfingsttagung der Evangelischen Forschungsakademie am 18.05.2024 im Kloster Drübeck

Lesung: Jesaja 6,1-8

Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben.
Ich brauche ihre Schönheit und Erhabenheit.
Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt.
Ich will zu leuchtenden Kirchenfenstern hinaufsehen und mich blenden lassen von den unirdischen Farben.
Ich brauche ihren Glanz.
Ich brauche ihn gegen die schmutzige Einheitsfarbe der Uniformen.
Ich will mich einhüllen lassen von der herben Kühle der Kirchen.
Ich brauche ihr gebieterisches Schweigen.
Ich brauche es gegen das geistlose Gebrüll des Kasernenhofs und das geistreiche Geschwätz der Mitläufer.
Ich will den rauschenden Klang der Orgel hören, diese Überschwemmung von überirdischen Tönen.
Ich brauche ihn gegen die schrille Lächerlichkeit der Marschmusik.
Ich liebe betende Menschen.
Ich brauche ihren Anblick.
Ich brauche ihn gegen das tückische Gift des Oberflächlichen und Gedankenlosen.
Ich will die mächtigen Worte der Bibel lesen.

Ich brauche die unwirkliche Kraft ihrer Poesie.
Ich brauche sie gegen die Verwahrlosung der Sprache und die Diktatur der Parolen.
Eine Welt ohne diese Dinge wäre eine Welt, in der ich nicht leben möchte.

Der Schriftsteller Pascal Mercier hat diese Worte in seinem Bestseller-Roman „Nachtzug nach Lissabon“ (2006, S. 198) aufgezeichnet. Ein Abiturient, der sich selbst als ungläubig bezeichnet, bekennt sich in seiner Abitur-Rede zu erhabenen Kathedralen, zu schöner Orgelmusik und zu intimen Gebeten. Vor einigen Jahren ist der Roman mit Jeremy Irons in der Hauptrolle verfilmt worden – und diese Rede hat mich auch dort wieder beeindruckt.

Denn auch ich sehne mich nach solchen Erfahrungen, nach Erlebnissen, die es gerade nicht auf der Party am Wochenende oder am offenen Verkaufssonntag in der Einkaufspassage gibt. Einmal die Dinge überblicken, einmal mehr als dies alles sehen, einmal hinüberschauen in eine andere, ja in eine jenseitige Welt.

So wie es Jesaja getan hat. Der auf einer Wallfahrt nach Jerusalem in den Tempel gekommen ist. Seit Kindesbeinen hat er es immer wieder gehört. Dort oben wohnt Gott. Dort, im heiligen Tempel auf dem Zion berührt sein Gewand die Welt: Hier ist der Schemel seiner Füße.

Auch Jesaja und sein Volk können nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Der Prophet bekommt seinen Auftrag an einem Ort, den Gott selbst für sich als Wohnung erkoren hat. Er hätte es bestimmt auch draußen am Fluss oder unter einem Baum tun können. Aber wir Menschen brauchen Zeichen. Uns zuliebe, weil wir so sind, wie wir sind, zeigt sich Gott an besonderen Orten. Dort, wo sich nach biblischem Zeugnis Himmel und Erde berühren. Dort, wo sich Diesseits und Jenseits schneiden. Wer in Jerusalem vom Ölberg auf den Tempelplatz in Jerusalem blickt, hat vielleicht eine Ahnung davon.

Aber auch anderswo gibt es solche Orte, auch Kirchen, vielleicht hier in St. Vitus in Drübeck, vielleicht in der Stadt, in der Ihr wohnt oder die Ihr im Urlaub besichtigt habt. Kirchgebäude, die einem eine Ahnung davon vermitteln können, davon, dass in der Kirche nicht nur der Pfarrer predigt, sondern auch die Mauern und Steine. Davon, dass Kirchen ein Asyl für die letzten Dinge sind. Davon, dass Altäre Gemeinschaft stiften. Davon, dass Orgeln und Glocken Gott loben. Davon, dass Kunstwerke die Geschichte unserer Kultur erzählen. Davon, dass Kerzen erinnern und mahnen. Davon, dass Schmuck ein Ausdruck des Dankes ist für alle guten Gaben des Schöpfers. Davon, dass es so etwas gibt wie einen „heiligen Raum“.

Ja, das meine ich: dass es so etwas gibt wie einen „heiligen Raum“. 

Heiligen heißt: einen Unterschied machen, etwas aus den gewöhnlichen Dingen herausheben. Heilige Räume sind in diesem Sinne solche Räume, die ausgesondert, hervorgehoben, beiseitegesetzt sind. Sie haben eine eigene Aura, einen besonderen Geschmack, sie sind anziehend durch ihre Fremdheit, sie sind faszinierend, aber immer auch verunsichernd, manchmal sogar furchterregend. In Jesajas Vision kommt diese furchterregende Fremdheit gut zum Ausdruck: „Weh mir, ich vergehe!“


In der evangelischen Kirche haben wir unsere Schwierigkeiten mit der Idee heiliger Räume. Wir können uns nur schwer öffnen für die sinnliche Seite der Gotteserfahrung, wie sie Jesaja beschreibt: Er sieht Gott sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron, und er sieht den Saum von Gottes Mantel, der den Tempel füllt. Er sieht die Serafim bei Gott stehen. Er hört sie rufen: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll!“ Er spürt, dass Schwellen beben von der Stimme ihres Rufens. Er riecht und sieht den Tempel voller Rauch.
In solchen Schilderungen kommt zum Ausdruck, dass von Gott alle Heiligkeit herkommt und abhängig ist. Und dass Gott die Erfahrungswirklichkeit der Welt überschreitet. Er ist unberechenbar und unverfügbar.

Insofern ist es immer eine lächerliche religiöse Selbstüberschätzung, wenn Menschen – auch Pfarrer – fälschlich glauben, Gott stünde ihnen mit heiligen Räumen gewissermaßen zur Verfügung. Ein Gott, dessen sich Menschen zu bemächtigen wähnen, ist nichts als ein Götze. Weder der Tempel in Jerusalem, solange er bestand, noch irgendein christlicher Kirchenraum – kein noch so heiliger Raum – kann gewährleisten, dass in ihm tatsächlich das Heilige anwesend und erfahrbar ist.

1544 wurde das erste evangelische Kirchengebäude eingeweiht, die Schlosskirche in Torgau. Martin Luther hat zu ihrer Einweihung gepredigt. Und festgelegt, dass die Kirche für den Gottesdienst da sei. Und was das bedeutet. Nämlich: „Dass nichts anderes darin geschehe, denn dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang.“ Das heilige Wort macht also den heiligen Raum. Ohne Gott ist kein Raum heilig. Und deshalb kann jeder Raum heilig sein. In seiner Torgauer Einweihungspredigt hat Martin Luther gesagt: „Kann es nicht geschehen unterm Dach oder in der Kirchen, so geschehe es auf dem Platz unter dem Himmel, und wo Raum dazu ist.“ Jeder Raum kann ein heiliger Raum sein. Nämlich dann, wenn Gott in ihm mit uns redet durch sein heiliges Wort, und wir mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang.

Martin Luther ist von manchen so verstanden worden, als sei es völlig egal, wo sich die christliche Gemeinde zum Gottesdienst versammelt. Als bräuchten wir Evangelischen keine besonderen Kirchgebäude. Ich glaube das nicht. Ich glaube, dass gestaltete Kirchengebäude sich besser als Versammlungsräume der christlichen Gemeinde eignen als bloße Zweckräume wie Verwaltungszimmer oder Hotelsäle. Ich gehöre zu denen, die Kirchengebäude brauchen. Die sich nach Rastplätzen für ihre Seele sehnen, nach Freiräumen für ihr Denken, nach Oasen für ihr Gebet sowie nach Feierorten für ihr Leben. Auch ganz nicht-kirchliche Menschen suchen Kirchen in Situationen der Not, des Entsetzens und des Schreckens auf. Auch Menschen, die nicht Kirchenmitglieder sind, können anerkennen, dass Kirchengebäude „Seelen und Gedächtnis“ der Dörfer und Städte sind. Wir als Christen können das umso mehr.

Kirchen sind Versammlungsorte der christlichen Gemeinde, ja und noch viel mehr. Kirchen sind Schatzkammern des christlichen Glaubens. Sie sind Kraftorte. Sie sind gestaltete Räume. Sie sind Freiräume. Sie sind heilige Räume.

Und weil sie das sind,
möchte ich nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben.

Amen.

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Kirchliches

Würde. Auf gutem Grund

75 Jahre Grundgesetz

Am 23. Mai dieses Jahres wird das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 75 Jahre alt. Das ist auch für die christlichen Kirchen in Niedersachsen ein Grund zum Feiern, denn als Christinnen und Christen leben wir die Werte, auf denen unser Grundgesetz basiert. Und wir engagieren uns kritisch und konsequent für die Würde aller Menschen, Demokratie und eine soziale Gesellschaft. Das ist umso wichtiger, da aktuell grundlegende demokratische Errungenschaften in Frage gestellt werden und sich völkischer Nationalismus breit macht. „Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum HERRN“ (Jeremia 29,7). Dazu gehört auch das Engagement für das Grundgesetz, das „im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen“ damals wie heute dem Frieden dienen will (Präambel).

Mit dem Grundgesetz ist der Bundesrepublik ein großer Wurf gelungen. Es hat die Erfahrungen aus der Nazi-Diktatur aufgenommen und sich so als eine moderne Verfassung bewährt, die auch heute noch den guten Grund für unser gesellschaftliches Zusammenleben in Deutschland bildet. Es formuliert hochaktuelle Freiheits- und Gleichheitsrechte – und vor allem setzt es bei der „Würde des Menschen“ an, die „unantastbar“ ist (Artikel 1). Damit widerspricht es allen Versuchen, die Würde von einzelnen Menschen oder Gruppen abzuwerten.

Die Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachen hat deshalb in Kooperation mit den katholischen Bistümern in Niedersachsen die Kirchen- und Pfarrgemeinden dazu aufgerufen, sich anlässlich des Jubiläums an der Würdigung des Grundgesetzes zu beteiligen. Die Kampagne „Würde. Auf gutem Grund. 75 Jahre Grundgesetz“ stellt dazu hilfreiche Materialien zusammen. Die natürlich auch außerhalb von Niedersachsen verwendet werden können.

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Kirchliches

Theologie und Öffentlichkeitsarbeit

Nach 12 ½ Jahren im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Westfalen war es für mich Zeit für Neues. Seit dem 1. November 2023 bin ich Referent für Theologie und Öffentlichkeitsarbeit in der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen. Diese Konföderation hat nichts mit Star Wars oder dem amerikanischen Bürgerkrieg zu tun, sondern ist der Zusammenschluss der fünf evangelischen Kirchen auf dem Gebiet des Landes Niedersachsen. Sie vertritt die evangelischen Interessen gegenüber dem Land und übernimmt gemeinsame Aufgaben der beteiligten Landeskirchen. Im Dezember bin ich dann auch liturgisch in meine neue Stelle eingeführt worden.

Dazu meldete die Konföderation:

Dr. Vicco von Bülow (56) wurde von der Bevollmächtigen Dr. Kerstin Gäfgen-Track in sein neues Amt als Referent der Konföderation für Theologie und Öffentlichkeitsarbeit eingeführt. Der Gottesdienst stand unter dem Bibelwort aus Psalm 37,5: „Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohlmachen.“

Bei der Einführung assistierten Bischof Thomas Adomeit (Oldenburg), Kirchenrätin Daniela Fricke (Bielefeld) und OStR i.K. Dorothea Otte (Hannover).

Pastor von Bülow ist seit dem 1. November 2023 als Referent für die Bereiche Theologie und Öffentlichkeitsarbeit in der Geschäftsstelle der Konföderation zuständig. Der gebürtige Westfale war zuvor Referent für Theologie und Kultur im Kirchenamt der EKD und danach theologischer Dezernent im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Westfalen. Er beschreibt sich als Buchliebhaber, Ehemann, Jazzfan, Jogger, Kirchenhistoriker, Klassikverehrer, Ostfriesenteetrinker, Pastor und Pfarrer, Podcaster, Theologe, Vater (dreier Kinder), Wanderfreund und Whiskygenießer. Mit seinem Namensvetter Loriot ist er nur entfernt verwandt.

Auch die Internetseite reformiert-info nahm diese Meldung auf.

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Humoriges Persönliches

Wenn der Namensvetter 100 Jahre alt wird

„Aber man hat schon das Gefühl gehabt, wenn er sitzt und herumguckt, dass er immer alles genau beobachtet. Irgendwo musste er das Material für seine Filme und Sketche herbekommen.“

Zum 100. Geburtstag von Loriot hat mich das Kölner Domradio interviewt. Das Interview ist hier online zu finden.