Kategorien
Kirchliches

„Mitten unter euch“

Jesus Christus spricht: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ (Lukas 17,21)

Monatsspruch Oktober 2025

Väter kennen das von Urlaubsreisen: Wann sind wir endlich da? schallt es vom Rücksitz, wo die Kinder sich nur mühsam beherrschen können in der Vorfreude auf das Ziel. Geduld. Das Navi sagt: noch zwei Stunden. Aber man weiß nie, ob noch ein Stau dazwischen kommt. Und wenn Ihr eine Pause machen wollt, dauert’s noch länger.

Eine ähnliche Frage wurde Jesus auch von den Pharisäern gestellt: Wann kommt das Reich Gottes? Seine Antwort: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man’s beobachten kann; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! Oder: Da ist es! Das hört sich erstmal an wie der Vater auf dem Fahrersitz: Man weiß nie. Aber Jesus weiß mehr: Das Reich Gottes ist mitten unter euch. Das Navi sagt: Sie haben Ihr Ziel erreicht.

Doch die beiden griechischen Worte in Lukas 17,21, die mit mitten unter euch wiedergegeben werden, können auch anders verstanden werden. Martin Luther hatte sie mit inwendig in euch übersetzt, also in den Herzen und Seelen. Manche haben auch in eurem Machtbereich darunter verstanden, also: Es liegt an euch, ob es da ist oder nicht.

Die Übersetzung in eurem Machtbereich überfordert mich: Das Reich Gottes soll von meinem Wollen und Tun abhängig sein? Das ist mir zu viel. Ich bitte lieber im Vaterunser Gott darum: Dein Reich komme! und halte mich dann an Martin Luthers Auslegung im Kleinen Katechismus Gottes Reich kommt wohl ohne unser Gebet von ihm selbst, aber wir bitten in diesem Gebet, dass es auch zu uns komme.

Dass Jesus wirklich zu den Pharisäern gesagt haben soll, das Reich Gottes sei inwendig in euch, überzeugt mich auch nicht. Diese Verinnerlichung führt doch nur zu einer Vereinzelung und damit weg von dem, was mir im Reich Gottes wichtig ist – der Gemeinschaft mit denen, die mit mir zusammen dort sind.

Also ist das Reich Gottes mitten unter euch? So übersetzen die modernen (evangelischen wie katholischen) Bibelausgaben meistens. Was heißt das?
– Das Reich Gottes hat mit Jesus Christus zu tun, der mitten unter seinen Hörer:innen stand und in dem sich Gott auf Erden geoffenbart hat.
– Das Reich Gottes gibt es nicht nur für mich alleine, sondern nur für uns zusammen.
– Das Reich Gottes ist nicht nur im fernen Jenseits, sondern hat Auswirkungen auf unser alltägliches Diesseits.

Als Christ:innen hoffen wir auf dieses Reich Gottes, den Bereich, in dem sein Wille gilt. Auf eine Welt, die friedlich ist, freundlich, gerecht, versöhnt – wo das Gute das Böse überwunden hat. Gleichzeitig wissen wir: So ist unsere Welt nicht. Wir können nicht sagen: Siehe, hier ist es, das Reich Gottes! Und dennoch hoffen wir: Das ist noch nicht so. Gott hat Gutes mit uns und unserer Welt vor. Diese Hoffnung gibt uns Kraft, uns aktiv für Frieden, Freundlichkeit, Gerechtigkeit und Versöhnung einzusetzen, also nach dem Reich Gottes zu trachten (vgl. Matthäus 6,33). Dort haben wir unser Ziel erreicht.

Für „Ein Weggeleit 2025“ der Männerarbeit der Evangelischen Kirche von Westfalen

Kategorien
Allgemeines Kirchliches

„All das glaub‘ ich…“

Predigt am 27. Juli 2025 in der Ev.-Luth. Kirchengemeinde Martini-Gadderbaum in Bielefeld

Evangeliumslesung: Das Bekenntnis des Petrus. (Lukas 9,18-20)
18 Und es begab sich, als Jesus allein betete, waren seine Jünger bei ihm; und er fragte sie und sprach: Wer, sagen die Leute, dass ich sei? 19 Sie antworteten und sprachen: Sie sagen, du seiest Johannes der Täufer; andere aber, du seiest Elia; andere aber, es sei einer der alten Propheten auferstanden. 20 Er aber sprach zu ihnen: Ihr aber, wer sagt ihr, dass ich sei? Da antwortete Petrus und sprach: Du bist der Christus Gottes!

Lied: Christus, dein Licht (Jacques Berthier)

Predigt:

Liebe Gemeinde!
I:
Wissen Sie, dass vorgestern ein ganz besonderer Tag war? Wir konnten ein 1700jähriges Jubiläum feiern. Denn am 25. Juli 325 ging das altkirchliche Konzil von Nizäa zu Ende. Auf diesem Konzil wurde ein Text beschlossen, der sich in diesen etwa 70 Generationen Menschenleben als das weltweit am meisten verbreitete Glaubensbekenntnis durchgesetzt hat. Sie finden es auch heute noch im Evangelischen Gesangbuch unter der Nummer 854. Wir werden es gleich gemeinsam miteinander sprechen. Aber Sie können es schon jetzt einmal aufschlagen. Denn – jetzt mal ehrlich – wer von Ihnen hat vom sogenannten Nizänischen Glaubensbekenntnis schon einmal gehört? Bitte aufzeigen! Und wer hat es schon einmal gesprochen, vielleicht im Gottesdienst? Bitte aufzeigen! Und wer hat es verstanden? Während ich bei den ersten beiden Fragen guten Gewissens die Hand heben konnte, bin ich hier auch raus.
Insofern trifft auch für das Nizänische Glaubensbekenntnis zu, was die Ballastwache in ihrem Gottesdienst im März hier in Martini-Gadderbaum so gesungen hat: „All das glaub ich, aber doch auch irgendwie nich!“
„All das glaub ich, aber doch auch irgendwie nich!“ Was das in Bezug auf das Nizänische Glaubensbekenntnis bedeutet, was das in Bezug auf meinen Glauben bedeutet, was das in Bezug auf unseren Glauben bedeutet, darüber will ich in dieser Predigt gemeinsam mit Ihnen nachdenken. Es wird dabei etwas kirchengeschichtlicher als sonst hier in Martini üblich, aber ich sehe an Ihren Gesichtern, dass Sie heute dazu bereit sind.

II:
Also: Das Konzil von Nizäa. Eine frühchristliche Bischofssynode und zwar nicht nur eine, sondern die allererste. Das Konzil von Nizäa eröffnete die Reihe der sieben ökumenischen Konzilien, die von allen großen christlichen Konfessionen als gemeinsames Erbe anerkannt werden und deren Entscheidungen darum eine besondere Verbindlichkeit haben. Eingeladen hatte Kaiser Konstantin. Zum Konzil reisten fast 300 Bischöfe aus der damaligen christlichen Welt nach Nizäa, das heute Iznik heißt und ein kleiner Ort süd-östlich von Istanbul ist.
Dem Kaiser ging es wohl um die politische Einheit des Römischen Reiches, die er durch theologische Streitigkeiten gefährdet sah. Und außerdem befürchtete er vermutlich, dass Streit über die richtige Verehrung Gottes auch Gott verärgern könnte, was sich gleichfalls negativ auf das Wohlergehen des Reiches ausgewirkt hätte.
Wir empfinden es heute als befremdlich, dass ein Kaiser eine Synode eröffnet und leitet. Spätestens seit der Barmer Theologischen Erklärung 1934 während der Nazi-Herrschaft wissen wir, dass die Aufgaben von Staat und Kirche zu trennen sind, weil es beiden nicht gut tut, wenn sie miteinander vermischt werden. Trotzdem können wir anerkennen, dass die Leistung des Konzils von Nizäa erheblich war. Denn die Konzilsväter haben nicht nur eine Reihe von praktischen Entscheidungen getroffen, wie die Festlegung des Ostertermins auf einen Frühlingssonntag, sondern auch einen Abschlusstext in der Form eines Glaubensbekenntnisses formuliert.

III:
Und dieses Glaubensbekenntnis hat es in sich. Wegen der dreiteiligen Gliederung: Wir glauben den einen Gott, heißt es. Und das wird dann ausgeführt: Wir glauben an Gott den Vater, Gott den Sohn und Gott den Heiligen Geist. Durch diese Formulierung hielt man fest, dass es zum Wesen Gottes gehört, in sich selbst Vielfalt und Beziehung zu sein. Schon in sich selbst ist Gott beziehungsreich zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist. Die Vorstellung der Dreieinigkeit macht Gott lebendig. Vater, Sohn und Heiliger Geist haben etwas miteinander zu tun. Das Glaubensbekenntnis von Nizäa sagt: Sie sind aufeinander bezogen, gehen voneinander aus und wirken miteinander an der Erlösung der Welt und der Menschen. Ein solches beziehungsreiches, lebendiges Gottesbild ist mir wichtig. Auch wenn ich nicht alles daran verstehe. Dabei bin ich aber in guter Gesellschaft: Der Reformator Philipp Melanchthon hat einmal geschrieben: „Die Geheimnisse der Gottheit sollen wir eher anbeten als erforschen.“ Und die Ballastwache singt: „All das glaub ich, aber doch auch irgendwie nich!“
Wobei man sich 325 in Nizäa auf den ersten und vor allem den zweiten Glaubensartikel konzentrierte. Im Originaltext hieß es im dritten Glaubensartikel ursprünglich bloß: „Wir glauben an den Heiligen Geist.“ Punkt.
Die weiteren Aussagen dazu sind 56 Jahre später bei einem weiteren Konzil hinzugefügt worden, nämlich 381 in Konstantinopel. Deshalb heißt das Glaubensbekenntnis, das wir gleich nach der Fassung im Evangelischen Gesangbuch sprechen, auch eigentlich korrekt und vollständig: Nicäno-Konstantinopolitanum. Ni-cä-no-Kon-stan-ti-no-po-li-ta-num. Probieren Sie das mal zu sprechen. Wer das hinterher beim Kirchcafé fehlerfrei hinbekommt, kriegt von mir einen Keks.

IV:
Doch zurück nach Nizäa 325. Den Aufwand, extra ein Konzil einzuberufen, hat man sich damals deshalb gemacht, weil es in den Jahren vorher theologischen Streit gab. Bekenntnisse fallen nie vom Himmel, sondern sind immer die konkrete Klärung einer theologischen Auseinandersetzung in der Kirche zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort.
Damals ging es wie so häufig um die Frage: Wer ist Jesus Christus? Inwiefern kann man den Menschen Jesus von Nazareth „Gott“ nennen? Eine Gruppe von Christen rund um den Priester Arius hatte argumentiert: Christus kann nicht auch so wie der Vater Gott sein, denn sonst hätten wir ja zwei Götter, und das widerspricht dem christlichen Monotheismus, also der Überzeugung, dass es nur einen Gott gibt. Arius meinte, Jesus sei von Gott geschaffen, ähnlich wie die übrige Schöpfung, er sei also nicht gleich ewig wie Gott.
Dagegen betonten Theologen um Bischof Eusebius von Nikomedien die absolute Göttlichkeit von Jesus, ohne darauf zu verzichten, von einem Gott zu sprechen. Denn sie argumentieren: Wenn Jesus nicht vollkommen göttlich war, dann hätte er die Menschheit auch nicht erlösen können. Nur wenn sich menschliche Natur ganz in göttliche Natur verwandelt, nur dann kann auch der Mensch ganz verwandelt werden und der Vergänglichkeit entrinnen, weil nur ein Gott uns erlösen kann.

Um diese Streitfrage zu klären, bezogen sich die Konzilsväter gut christlich auf die Bibel. Aber sie stellten fest, dass die ausgelegt werden muss. Wenn zu Beginn des Johannesevangeliums steht: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ Was heißt das denn genau? „Das Wort“, das ist in diesem Fall ein Ausdruck für Jesus, war das nahe bei Gott – oder ist es mit ihm identisch? Wie ist die Beziehung des Vaters zum Sohn? Wenn in der Bibel, im Johannesevangelium, steht, dass Christus Gott sei oder göttlich sei, was bedeutet das konkret? Das wollte das Konzil klären. Und es hat auf Begriffe aus der griechischen Philosophie zurückgegriffen, um zu einem Kompromiss zu kommen. Im Mittelpunkt steht der Begriff „homoousios“, das heißt: wesensgleich oder „eines Wesens“.
Im Nizänischen Glaubensbekenntnis ist festgehalten, dass der Sohn „eines Wesens“ mit dem Vater ist. Was bedeutet das? Sie und ich sind auch wesensgleich, insofern wir alle Menschen sind, aber wir sind nicht komplett identisch. „Wesensgleich“ sollte zunächst einfach besagen, dass Gott und Jesus sozusagen aus dem gleichen göttlichen „Stoff“ sind, dass also Jesus nicht etwa von Gott aus dem Nichts geschaffen, sondern aus ihm selbst hervorgebracht, gezeugt worden ist. Man darf sich das „gezeugt“ nicht wörtlich vorstellen, sondern eher geistig. Geschaffen würde bedeuten: neu geformt, Gott ist der Handwerker. Gezeugt bedeutet: Jesus ist so aus Gott entstanden, so wie die Strahlen der Sonne aus der Sonne kommen, auch wenn sie nicht selbst die Sonne sind.
Überhaupt Licht. Hier wird das Nizänische Glaubensbekenntnis fast schon poetisch. Christus ist „Licht vom Licht“. Das knüpft an biblische Aussagen von Jesus Christus als dem „Licht der Welt“ an (Joh 8,12). Und es scheint weiter in Lieder wie „Christus, dein Licht“, das wir direkt vor der Predigt gesungen haben.
Wenn es im Nizänischen Glaubensbekenntnis darum geht, ob Jesus Christus tatsächlich „Gott von Gott“ war, dann geht es auch darum, ob Gott tatsächlich Mensch geworden ist. Ich finde es auch deshalb wichtig, als Christ heute daran festzuhalten, dass Jesus nicht einfach nur ein guter Mensch war. Jesus Christus gehört dazu, wenn ich sage: „Ich glaube an Gott.“
Habe ich damit alle Bedeutungstiefen des „homoousios“ erkannt und kann sie für mich übernehmen? Nein, es bleibt dabei, was die Ballastwache gesungen hat: „All das glaub ich, aber doch auch irgendwie nich!“

V:
Das Apostolische Glaubensbekenntnis, das im Gesangbuch eine Nummer vor dem Nizänischen steht, beginnt mit den Worten: „Ich glaube“. Ich muss eine Antwort geben auf die Frage des Jesus, die Sie vorhin in der Evangeliumslesung gehört haben: „Ihr aber, wer sagt ihr, dass ich sei?“ Es reicht nicht, wenn ich versuche, mit einem Verweis auf die Meinung anderer Leute auszuweichen: „Sie sagen, du seiest Johannes der Täufer; andere aber, du seiest Elia; andere aber, es sei einer der alten Propheten auferstanden.“ Petrus hat sich getraut und Farbe bekannt: „Du bist der Christus Gottes!“ Und auch ich heute muss mich trauen und mich zu dem bekennen, was ich persönlich glaube. Das heißt nicht, dass dann alles zweifelsfrei feststeht. Sie wissen, was die Ballastwache gesungen hat: „All das glaub ich, aber doch auch irgendwie nich!“
Das Nizänische Glaubensbekenntnis bietet für mich eine Lösung an, mit dieser Spannung umzugehen. Es beginnt mit den Worten: „Wir glauben“. Ich kann mich in meinen Glauben getragen wissen durch diejenigen, die den Glauben mit mir zusammen bekennen. Manchmal kann ich Worte sprechen, die anderen nur schwer über die Lippe kommen, manchmal bekennen andere im „Wir glauben“ für mich mit.
Aber, so könnte man fragen, gerade hier in Martini-Gadderbaum, einer Gemeinde, die zu Recht stolz auf das Selber-Denken ist: Darf mir in Formeln vorgeschrieben, vorgesagt, vorgedacht werden, was ich glauben muss?
Ich würde gerne ein kleines Plädoyer für solche Bekenntnisformeln halten.
„Der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden“. Mit verdichteten Formeln wie diesen begann der christliche Glaube. Die ersten Christenmenschen haben sich solche Formeln gegenseitig zugerufen und daraus für ihren Glauben Kraft geschöpft. Es ist gerade nicht nur mein privater Glaube, dass Gott seinen Sohn von den Toten erweckt hat, sondern der Glaube der ersten Zeuginnen und Zeugen damals vor zweitausend Jahren in Jerusalem. Diese Glaubensformel trägt mich. Sie hilft mir als Bindeglied, als Teil einer großen Gemeinschaft von Glaubenden aller Zeiten und aller Orte auch persönlich zu glauben. Ohne gemeinsame Bekenntnisse als Voraussetzung gäbe es keinen privaten Glauben, ohne die Gemeinschaft aller Christenmenschen, die Kirche, keinen einzelnen Christenmenschen, nicht mich, nicht Sie.
Die Konzilsväter von Nizäa haben versucht, in einer theologischen Auseinandersetzung die Kirche um eine Kompromissformel zu versammeln. Theologische Auseinandersetzungen innerhalb der Kirche gibt es bis heute, wird es wahrscheinlich immer wieder geben.
In solchen Auseinandersetzungen muss diskutiert werden. Martin Luther hat einmal dazu gesagt, dass man die Geister aufeinander platzen lassen muss. Und dann muss entschieden werden, auf Konzilien, also auf Synoden. Denn würde nicht entschieden, dann würde ein solcher Dauerstreit eine Kirche als Gemeinschaft lähmen. Durch solche Entscheidungen werden Grenzen markiert und auch Positionen aus der Kirche ausgegrenzt. Bestimmte Brandmauern zu bestimmten Positionen muss man ziehen und halten, wenn eine Gemeinschaft intakt bleiben will. Wenn eine Kirche bei dem bleiben soll, was ihr Jesus Christus aufgetragen hat.
Das heißt nicht, dass man immer genau bei den Worten bleiben muss, mit den beispielsweise vor 1700 Jahren dieser Auftrag gedeutet wurde. Das hat schon die Alte Kirche nicht getan. Wie schon erwähnt, hat man bereits 56 Jahre nach dem Konzil von Nizäa den Text des dortigen Glaubensbekenntnisses auf das Nicäno-Konstantinopolitanum erweitert. Und es folgten nicht nur fünf weitere ökumenische Konzilien, sondern auch weitere Glaubensbekenntnisse.

Immer wieder haben Christen und Christinnen in der Kirche darum gerungen, mit welchen Worten sie ihren gemeinsamen Glauben zusammen formulieren können. Es ist nicht einfach, das alte Bekenntnis mit neuen Worten auszudrücken. Gerade, wenn wir noch keine bessere Sprache haben, können wir uns beim Bekennen unseres Glaubens aber von alten Bekenntnistexten helfen lassen. Und weil das Nizänum ein so kluger theologischer Kompromiss auf biblischer Basis ist, lohnt es sich, es immer mal wieder zu sprechen. Auch dann, wenn nicht alle alles verstehen. Aber vielleicht, wenn man einen Text immer mal wieder spricht, eröffnen sich Chancen, ihm näher zu kommen. Und damit dem Verständnis dessen, was wir jeden Sonntag hier in Martini-Gadderbaum im Gottes-Dienst feiern.

Amen.

Nizänisches Glaubensbekenntnis EG RWL 854

Wir glauben an den einen Gott,
den Vater, den Allmächtigen,
der alles geschaffen hat, Himmel und Erde,
die sichtbare und die unsichtbare Welt.
Und an den einen Herrn Jesus Christus,
Gottes eingeborenen Sohn,
aus dem Vater geboren vor aller Zeit:
Gott von Gott, Licht vom Licht,
wahrer Gott vom wahren Gott,
gezeugt, nicht geschaffen,
eines Wesens mit dem Vater;
durch ihn ist alles geschaffen.
Für uns Menschen und zu unserm Heil ist er vom Himmel gekommen,
hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist
von der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden.
Er wurde für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus,
hat gelitten und ist begraben worden,
ist am dritten Tage auferstanden nach der Schrift
und aufgefahren in den Himmel.
Er sitzt zur Rechten des Vaters
und wird wiederkommen in Herrlichkeit,
zu richten die Lebenden und die Toten;
seiner Herrschaft wird kein Ende sein.
Wir glauben an den Heiligen Geist,
der Herr ist und lebendig macht,
der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht,
der mit dem Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht wird,
der gesprochen hat durch die Propheten,
und die eine, heilige, christliche und apostolische Kirche.
Wir bekennen die eine Taufe zur Vergebung der Sünden.
Wir erwarten die Auferstehung der Toten
und das Leben der kommenden Welt.
Amen.

Wichtiger Hinweis: Alles, was ich in dieser Predigt über das Konzil und das Glaubensbekenntnis von Nicäa geschrieben habe, habe ich von Prof. Dr. Wolfram Kinzig (Bonn) und Prof. Dr. Christoph Markschies (Berlin) gelernt. Ich empfehle zum Einstieg die Lektüre des ZEIT-Interviews „Es tobte ein Streit um Jesus“ mit Prof. Kinzig und des Vortrags „Nicaea 325 n. Chr. – alte und neue Perspektiven auf ein Konzil und sein Glaubensbekenntnis“ (epd-Dokumentation 18/25) von Prof. Markschies. Alles, was ich Falsches über das Nizänum geschrieben habe, stammt von mir.
Und ich empfehle einen Besuch bei einem Auftritt der Betheler Kabarattgruppe „Ballastwache„.

Kategorien
Kirchliches

Das Gute behalten!

Lied vor der Predigt (EG 412)

So jemand spricht: „Ich liebe Gott“,
und hasst doch seine Brüder,
der treibt mit Gottes Wahrheit Spott
und reißt sie ganz darnieder.
Gott ist die Lieb und will, dass ich
den Nächsten liebe gleich als mich.

Wer dieser Erde Güter hat
und sieht die Brüder leiden
und macht die Hungrigen nicht satt,
lässt Nackende nicht kleiden,
der ist ein Feind der ersten Pflicht
und hat die Liebe Gottes nicht.

Wer seines Nächsten Ehre schmäht
und gerne sie schmähen höret,
sich freut, wenn sich sein Feind vergeht,
und nichts zum Besten kehret,
nicht dem Verleumder widerspricht,
der liebt auch seinen Bruder nicht.

Wir haben einen Gott und Herrn,
sind eines Leibes Glieder,
drum diene deinem Nächsten gern,
denn wir sind alle Brüder.
Gott schuf die Welt nicht bloß für mich,
mein Nächster ist sein Kind wie ich.

Liebe Gemeinde,

am Ende des Schuljahrs 2024/25 steht dieser Gottesdienst unter dem Motto „Das Gute behalten“. Ein Anklang an die Jahreslosung für das Kalenderjahr 2025. Die stammt aus dem 1. Thessalonicherbrief und Andrea Seils hat sie gerade noch einmal vorgelesen. „Prüft alles und behaltet das Gute“ heißt es da zum Schluss.

Super, könnte jetzt der eine oder die andere denken. Gerade haben wir die schriftlichen und mündlichen Prüfungen in der Schule hinter uns gebracht, haben in viel zu langen Konferenzen mühsam mit den Kolleg:innen um Noten gerungen und endlich die Zeugnisse an die guten und an die nicht so guten Schüler:innen übergeben – und dann geht’s im Gottesdienst zum Schuljahresausklang schon wieder um  Prüfungen. Von wegen: jetzt endlich mal Ferien.

Ich versuche es trotzdem mal mit der Jahreslosung. Vielleicht können Sie ja doch ein paar Gedanken beim Übergang vom Schuljahr in die Ferien mitnehmen. Denn die Jahreslosung ist keine Gebrauchsanweisung des Apostels Paulus für den Umgang mit Schüler:innen in der Schule, sondern für das Leben als Christ:in allgemein. Und dieses Leben geht ja auch in den Ferien weiter.

Nach dieser Vorbemerkung drei Gedanken am Übergang vom Schuljahr in die Sommerferien: „Prüft alles und behaltet das Gute“.

Erstens: Prüft alles.

Prüft wirklich alles. Beschränkt Euch nicht auf das, was immer schon als gut bezeichnet wurde, was Standard in Kirche und Schule ist. Sondern prüft auch das, was es an neuen Ideen gibt, was für frühere Zeiten unpassend war, aber jetzt vielleicht doch weiterbringt. Prüft alles, was an den kreativen Rändern unterwegs ist und gemacht wird. Es gibt nicht nur das misstrauische Prüfen im Sinne eines Johnny Controlleti. Es gibt auch ein Prüfen aus Neugier, ein Prüfen, das hinter die Fassade schaut und Verborgenem auf der Spur ist, ein Prüfen, das daran glaubt, dass auch in schwierigen Situationen immer noch etwas geht.

Paulus hatte dieses neugierige Prüfen im Sinn. Zwei Verse vor der Jahreslosung schreibt er: „Unterdrückt nicht das Wirken des Heiligen Geistes“. Er will also ein geistreiches Prüfen, ein Prüfen, das Experimente wagt, das auch mal ins Risiko geht, das Neues herausfindet. Wenn etwas  aus dem Alltäglichen und Gewohnten ausbricht, hat es verdient, auf die Probe gestellt, ausprobiert, statt argwöhnisch beäugt zu werden.

Paulus gibt einen hilfreichen Hinweis, wie das funktionieren kann. Er schreibt nicht: Prüfe Du allein alles und alle. Nicht der Singular steht da, sondern der Plural: Prüft! Prüft gemeinsam. Es geht darum, gemeinsam geistreich zu werden. Finden Sie Orte dafür: im Kollegium, in der Fachkonferenz, in der Schulpfarrkonferenz, vielleicht auch im Freundeskreis. Jeden verrückten Vorschlag, auch sehr komisch erscheinende Ideen, nehmt sie zusammen auf, redet sie nicht tot. Lest zwischen den Zeilen, betastet sie gemeinsam von allen Seiten, befühlt sie. Und geht, wenn sie Euch mitreißen, ins Risiko, damit Neues entsteht. Dann wird es gut.

Zweitens: Behaltet das Gute.

Was ist eigentlich „das Gute“? Was früher als gut und richtig galt, muss es heute nicht mehr sein. „Eine Ohrfeige hat noch keinem geschadet“ – das war früher gesellschaftlich akzeptiert. Jetzt gelten solche Schläge als Straftat, weil niemand das Recht hat, anderen Gewalt zuzufügen, auch in der  Familie oder der Klasse nicht. Und das ist gut so.

Aber nicht bei allem sind wir uns so einig wie hier., was gut ist Was für die einen ein guter Schritt zum Klimaschutz ist, z.B. ein Tempolimit auf Autobahnen, das ist für andere ein unerträglicher Eingriff in die persönliche Freiheit.

Ist das Gute dann nur noch eine Geschmacksfrage wie bei der persönlichen Musikvorliebe: Ist Schumann gut? Die Scorpions? Oder Ski Aggu? Was mir gefällt, ist nur das gut? Oder gibt es noch  gemeinsame Normen und Orientierungen?

Als Christ gibt mir die Bibel Orientierung. Zum Beispiel sagen uns die Zehn Gebote, was gut ist oder zumindest: was auf keinen Fall gut ist: „Du sollst nichts Falsches über deinen Nächsten sagen“ beispielsweise. Damit ist schon mal klar, dass Fake News nicht gut sind und dass die social media entgiftet gehören. Gut ist, wenn in der Schule den Schüler:innen beigebracht wird, hier sorgfältig zu prüfen.

Jesus fasst die Frage nach dem höchsten Gebot, nach dem zentralen Maßstab, in einem Satz zusammen: „Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst“ (Mk 12,29-31). Nach dieser Leitlinie der Gottes- und Nächstenliebe ist das Gute das, was für ein gutes Leben miteinander taugt.

Gerade haben wir einige Beispiele für das gute Leben miteinander gesungen. Schauen Sie doch noch mal in Lied EG 412 hinein. Der Text stammt zwar aus dem Jahr 1757, ist aber auch 2025 noch aktuell. Liebe heißt: Den Nächsten lieben wie sich selbst. Das bedeutet ganz konkret: Hungrige satt machen, Nackte kleiden. Der Sozialstaat und die Diakonie sind da gefordert, aber auch wir einzelnen Christenmenschen. Die Ehre des Mitmenschen nicht schmähen, sondern dem Verleumder widersprechen. „Gott schuf die Welt nicht bloß für mich, mein Nächster ist sein Kind wie ich.“ Anders als bei Christian Fürchtegott Gellert sind das nicht nur die Brüder, sondern auch die Schwestern und die, die sich diesen binären Kategorien nicht zuordnen können.

Wie könnte Nächstenliebe in der Schule aussehen? Vielleicht muss es nicht gleich die ganz große Guttat sein. Vielleicht reicht oft auch das, was Sie als selbstverständlich erachten. Sich unter Kolleg:innen gegenseitig unterstützen. Das, was über die engeren Pflichtaufgaben hinaus geht, nicht immer nur den anderen überlassen, sondern auch selbst mal anzupacken. Zeit und Energie investieren in Schüler:innen, die Schwierigkeiten haben und Hilfe brauchen. Solidarität unter Schüler:innen fördern. Dann kann Schule so etwas wie Heimat und Zuhause für sie werden. Ich erinnere mich noch gut daran, als meine Frau und ich vergessen hatten, unserem Sohn etwas zu Essen mit in die Schule zu geben. Er sagte hinterher: Kein Problem, Alex hat genug dabei gehabt, sie hat mir etwas abgegeben. Wie gesagt, manchmal braucht es zur Nächstenliebe gar nicht so viel. Dann steht ein geteiltes Schokocroissant schon für das Gute, das wir behalten sollen.

Drittens und letztens: Lasst auch mal los.

Manchmal überfordert uns das Prüfen auch. Vor ungefähr einem Monat war ich bei Rewe Quermann in Babenhausen, um den Wocheneinkauf für die Familie zu erledigen. Vielleicht kennen Sie die wunderbare Käsetheke dort. Eine großartige Auswahl. Neben mir an der Kühltruhe mit den Sonderangeboten stand eine Frau, die wirklich jedes der etwa 40 abgepackten Camenbert-Stücke in die Hand nahm, es drehte und wendete und die Grammzahl überprüfte. Als ich mich neben sie stellte, legte sie das letzte Stück wieder in die Kühltruhe und zog ohne Käse von dannen. Offenbar kam sie angesichts der großen Auswahl mit dem Prüfen nicht weiter. Ich kenne das Gefühl und ich vermute, Sie auch. Manchmal ist uns alles zu viel und wir können nicht mehr ständig alles prüfen.

Da ist es gut, dass Paulus im 1. Thessalonicherbrief auch zum Loslassen ermutigt. Denn wer das Gute behält, kann das andere loslassen. Was im Schuljahr dank Ihres Einsatzes gut war, verdient ein herzliches Dankeschön. Was aber im Schuljahr nicht gut war, können Sie jetzt hinter sich lassen. Wenn jemand Sie verletzt hat, müssen Sie das nicht länger mit sich herumtragen. Wenn Sie selbst daneben lagen, müssen Sie sich das nicht immer wieder vorwerfen. Wir müssen das, was nicht gut war, nicht immer weiter mit uns herumschleppen. Einiges von dem Schlechten, das uns zugestoßen ist, können wir hinter uns lassen. Wer anderen vergibt, wer auch sich selbst vergeben kann, macht sich das Leben leichter. Niemand muss festhalten, was das Leben schwer macht. Es reicht, das Gute zu behalten: das Andere können wir loslassen.

In diesem Sinne: Schöne Ferien.

Und Amen.

Nach dem Gottesdienst gab’s Blumen. Die Bielefelder Schulreferentin Pfarrerin Andrea Seils und ich vor der Süsterkirche.

Kategorien
Kirchliches Musikalisches

Sozusagen grundlos vergnügt

Andacht am 28. März 2025 im Landeskirchenamt Hannover

Geh aus mein Herz und suche Freud

Vom großen Theologen Eberhard Jüngel ist überliefert, er habe im Examen sagen müssen, was die Aussage des neutestamentlichen Philipperbriefs gewesen sei. Er habe geantwortet „Freuet euch in dem Herrn allewege“. Und der Prüfer habe weiter gefragt: „Aber da steht doch bestimmt noch mehr drin?“ Und dann habe Jüngel geantwortet: „und abermals sage ich: Freuet euch!

Freuet euch in dem Herrn allewege. Leichter gesagt als getan. Geh aus mein Herz und suche Freud. Leichter gesucht als gefunden.

Ein Blick in die Tagesschau App:
Donald Trump und Elon Musk führen in den USA eine reaktionäre Revolution von oben durch, die die Demokratie in der mächtigsten Nation der Welt gefährdet. Und das Gleichgewicht des Weltfriedens gleich mit. Die Waffen zwischen Israel und der Hamas schweigen nicht mehr. Das Klimaziel von maximal 1,5 Grad zusätzlicher Erderwärmung ist endgültig verfehlt.
Aber nicht nur weltweit, sondern auch persönlich ist das mit der Freude so eine Sache:
Ich war in der letzten Woche nicht nur krank geschrieben, sondern wirklich krank. Ein Freund und ehemaliger Kollege hatte einen Schlaganfall. Die Mutter einer Nachbarin liegt im Hospiz und also im Sterben.
Ich gestehe: Das ist nicht nur so eine rhetorische Aneinanderreihung von schlechten Beispielen. Das macht mich wirklich fertig. Da Grund zur Freude zu finden, das schaffe ich nicht. Da hilft mir auch der große Theologe nicht weiter.

Und in der Situation kommt mir ein Song der Berliner Liedermacherin Dota Kehr auf die Kopfhörer. Die hat zum zweiten Mal ein Album der Dichterin Mascha Kaléko vertont. Mascha Kaléko ist die einzige bekannte dichtende Frau der Neuen Sachlichkeit. Sie wurde häufig mit ihren männlichen Kollegen verglichen; so bezeichnete man sie als „weiblichen Ringelnatz“ und „weiblichen Kästner“. Eigentlich könnte man es aber auch umgekehrt sehen: Ringelnatz und Kästner als „männliche Kalékos“.

Mascha Kaléko wurde 1907 in West-Galizien (damals Österreich-Ungarn, heute Polen) in eine jüdische Familie geboren. Um den Pogromen zu entkommen, floh die Familie 1914 nach Deutschland; ab 1918 lebte sie Berlin. Dort ging Mascha Kaléko zur Schule und machte anschließend eine Bürolehre. 1928 heiratete sie ihren ersten Mann. Ab 1929 veröffentlichte sie in Zeitungen und dann auch Büchern ihre ersten Gedichte.
Der Aufstieg der Nazis und das Publikationsverbot, mit dem sie Mascha Kaléko 1935 belegten, setzten ihrem Aufstieg ein jähes Ende. 1938 emigrierte sie mit ihrem zweiten Ehemann und dem gemeinsamen Sohn nach New York, wo sie zwar weiter Gedichte veröffentlichte, aber insgesamt unglücklich blieb. Als Buchtipp aus der Zeit: Verse für Zeitgenossen (1945, Neuauflage 2024).
1956 trat Mascha Kaléko ihre erste Deutschlandreise nach dem Krieg an; zu dieser Zeit erschienen Wiederauflagen ihrer Gedichtbände. 1959 zog das Ehepaar aus den USA nach Jerusalem. Eine Heimat fand die Dichterin dort aber auch nicht; bis an ihr Lebensende reiste sie viel. Sie starb auf einer Europareise 1975 in Zürich.
Insgesamt hatte Mascha Kaléko kein leichtes Leben. Nicht allzu viel Grund zur Freude. Und trotzdem hat sie ein Gedicht geschrieben, das mich froh gemacht hat. An dem ich mich festhalten konnte und kann. Es heißt „Sozusagen grundlos vergnügt“ (aus: In meinen Träumen läutet es Sturm, 1977 aus dem Nachlass). Dieses Gedicht habe ich als Geschenk empfunden. Und ich schenke es Ihnen weiter. Hören Sie zu, genießen Sie es und freuen Sie sich daran.

Mich hat das Lied erfreut. Der swingende Rhythmus. Die intensive, aber nicht aufdringliche Stimme von Dota Kehr. Aber vor allem der Text von Mascha Kaléko. Sie freut sich. Ich brauche das, dass Menschen sich freuen. Wenn andere sich freuen, fällt es mir leichter, mich auch zu freuen.
Und angesichts der wiederholten schlechten Nachrichten brauche ich die Wiederholung der Freude – achtmal taucht sie in dem kleinen Liedchen auf.
Und zunächst mal ganz unerwartet: Freude über Wolken, Regen, Hagel, Frost und Schnee. Das will ich lernen. Mich freuen an dem, was nicht auf den ersten Blick erfreulich ist.
Dann die Freude am Erwartbaren: An grünen Pflanzen, Vogelgezwitscher und Insektengesumme. Mich an Mückenstichen zu freuen, da bin ich noch nicht ganz so weit. Da ist die Dichterin weiter als ich.
Mond und Sonne sind Grund zur Freude, das wiederum kriege ich hin. Auch wenn ich wohl zu den Neunmalklugen gehöre, die alles erst einmal mit dem Kopf verstehen wollen, bevor sie sich freuen können.
Was ich aber verstehe: Freude ist des Lebens Sinn. Ohne Freude macht es keinen Sinn mehr. Ja, davon kann jeder depressive Mensch ein Lied singen. Und gerade deshalb will ich dieses Lied hier hören und mitsingen.
Und mit Mascha Kaléko vom Sonnenschein und Vogelgezwitscher auf die Meta-Ebene gehen. Mich freuen, dass ich bin. Naja, ob ich mich immer so freuen kann, wie ich bin, nun gut, auch das muss sich noch entwickeln. Aber ja, dass ich bin, das sehe ich ein, das ist schon nicht schlecht. Sonst könnte ich ja Freitags nicht mit Ihnen Andacht feiern.
Und ohne dass Mascha Kaléko Gott erwähnt, ist er plötzlich doch da. Da ist nämlich der Himmel offen, das Leben himmlisch. Dann wird es geradezu theologisch und das Gebot der Nächstenliebe klug hergeleitet: „Da kann der Mensch, wie es ihm vorgeschrieben, – Weil er sich selber liebt – den Nächsten lieben.“ Ohne Selbstliebe keine Nächstenliebe. Fast könnte es hier schon aufhören. Doch dann geht’s noch weiter im Text.
Wichtig: Das Schöne niemals für selbstverständlich halten. Sich nicht an Wunder gewöhnen, sondern dankbar dafür sein. Offen für das Neue. Da geht noch was.
Und zum Schluss ein Satz, der auf der Ebene der ganz großen Sätze spielt. So was wie „Ich denke, also bin ich“. – „Ich freue mich, dass ich mich freu“. Ja, Freude zieht Freude nach sich. Mascha Kaléko freut sich, dass sie sich freut. Und auch ich freue mich, dass sie sich freut.

Und denke: Vielleicht hatte Eberhard Jüngel doch Recht, obwohl er ein so großer Theologe war: „Freuet euch in dem Herrn allewege! Und abermals sage ich: Freuet euch!

Amen.

Kategorien
Wissenschaftliches

Erkenntnis und Glaube. 75 Jahre Evangelische Forschungsakademie

Thomas von Woedtke / Vicco von Bülow (Hrsg.), Erkenntnis und Glaube. 75 Jahre Evangelische Forschungsakademie (Erkenntnis und Glaube. Schriften der Evangelischen Forschungsakademie Bd. 54), Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2025.

Das Verhältnis von Erkenntnis und Glaube ist nicht nur spannend, sondern auch von Spannungen geprägt. Spätestens seit der Aufklärung ist die wissenschaftliche Erkenntnis neben die oder an die Stelle der glaubensbestimmten Welt- und Lebensdeutungen getreten. In einer säkularen Perspektive wird der christliche Glaube nicht (mehr) als Grundlage für wissenschaftliche Erkenntnisprozesse angesehen, sondern als irrelevant oder gar als Widerspruch.

Das prägte auch die Gründung der Evangelischen Forschungsakademie 1948. Deshalb war der Einsatz gegen eine wechselseitige Gleichgültigkeit oder gar Unvereinbarkeit von Glaube und Erkenntnis das Kernthema ihrer interdisziplinären Arbeit. Im Rahmen einer Jubiläumstagung im Januar 2024 wurde eine aktuelle Bestimmung des Themas als Leitmotiv für Wissenschaft und Gesellschaft versucht. Mit Beiträgen von Christian Ammer, Volker Gerhardt, Heino Falcke, Martin Laube, Volker Jung und Sarah Rosenhauer.

Aus dem Vorwort der Herausgeber:

Der vorliegende Band dokumentiert Beiträge der 151. Tagung der
Evangelischen Forschungsakademie (EFA)
, die Anfang Januar 2024 in Berlin als Jubiläumstagung anlässlich der Gründung der EFA vor 75 Jahren stattfand.
Erkenntnis und Glaube – das sind zwei Pole, zwischen denen
sich das Leben, Denken und Handeln eines christlichen Wissenschaftlers, einer christlichen Wissenschaftlerin unweigerlich auffächert – mehr oder weniger offen und deutlich im täglichen Vollzug, bei dem einen oder der anderen mehr als Herausforderung oder vielleicht eher als selbstverständliche Einheit. Erkenntnis und Glaube ist auch der Titel der Schriftenreihe, die seit vielen Jahren bei der Evangelischen Verlagsanstalt erscheint und insbesondere die Januartagungen der EFA dokumentiert und deren Band 54 hier vorgelegt wird. […]

Für die Arbeit der Evangelischen Forschungsakademie und ihr
Motto Erkenntnis und Glaube ist gemäß ihrer Ordnung wie ihrer
Praxis zu konstatieren, dass mit Glaube der christliche Glaube gemeint ist. Zwar ist der Glaube in der christlichen Tradition mit
dem Theologen Otto Weber „primär als fiducia [Vertrauen] zu
verstehen, als Antwort auf die in Jesus Christus geschehene Selbstzuwendung Gottes […]. Er ist die Zuversicht zu Gott, die uns allein in der Begegnung mit dem uns versöhnenden Herrn erwächst.“ Er enthält aber auch die Elemente notitia (Erkenntnis) und assensus
(Zustimmung). […]

Ein Blick in die Zukunft ist bekanntermaßen immer mit erheblichen Unsicherheiten verbunden. Wir wissen nicht, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen sich wissenschaftliche Arbeit in den kommenden Jahren vollziehen wird […] und wie sich zukünftige Entwicklungen auch auf die Arbeit der EFA auswirken werden. Als Christen wissen wir, dass wir nicht alles selbst in der Hand haben, sondern auf die gnädige Führung und Bewahrung durch Gott angewiesen sind. In diesem Sinne sollten wir uns für die zukünftige Arbeit der EFA von der Botschaft des Paulus ( 1. Kor. 1,26-2,5) leiten lassen, die Kirchenpräsident Volker Jung uns in seiner Predigt im Festgottesdienst zum 75. Gründungsjubiläum der EFA mit auf den Weg gegeben hat:
„Vertraut euch Christus und seiner Gnade an!“

Kategorien
Kirchliches

Orientierung im neuen Jahr 2025

Gehören Sie auch zu den Menschen, die sich gute Vorsätze zum neuen Jahr vornehmen? Mehr Sport, weniger Süßigkeiten vielleicht? Jedenfalls mehr als im letzten Jahr. Oder weniger, je nachdem. Einmal im Jahr ergibt sich kalendarisch ein Neuanfang, der von vielen Menschen als Anlass genommen wird, sich mit guten Vorsätzen neu zu orientieren. Es gibt viele Anlässe für Neuorientierung im beruflichen oder privaten Leben. Manchmal kommen wir selbst darauf, uns neu zu orientieren, manchmal aber zwingen uns äußere Faktoren die eine oder andere Neuorientierung auf. Trennungen egal welcher Art haben oft große Krisen im Leben zur Folge. Krankheiten zwingen uns, neue Wege einzuschlagen. Doch auch globale Krisen, von denen langfristig niemand verschont bleibt, bewegen uns manchmal dazu, uns neu zu orientieren. Zum Glück können wir Menschen das: Uns bewusst orientieren. Orientierung ist das Sich-Zurechtfinden in Räumen oder einer Gegend. Dazu braucht es Markierungen, anhand derer wir uns orientieren. Das können konkrete Orientierungspunkte oder Himmelsrichtungen sein, aber auch Erkenntnisse, Erfahrungen oder Werte. Wer kein Ziel hat, verliert leicht die Orientierung.

Die Jahreslosung für 2025 kann bei der Orientierung helfen. Sie lautet „Prüft alles und behaltet das Gute!“ und stammt aus dem Neuen Testament, aus dem 1. Thessalonicherbrief des Paulus, Kapitel 5, Vers 21. Das ist von Paulus so pointiert formuliert, dass es hängen bleibt. Paulus rät mit seinem Brief den Mitgliedern der jungen Christengemeinde in Thessaloniki, die kulturellen Eigenheiten mit ihrer gesellschaftlichen Umgebung abzugleichen. Sollen die Gläubigen beim Beten stehen bleiben oder sich auf den Boden knien? Wie sollen sie mit Sklavenhändlern umgehen? Wie sollen Sie sich gegenüber denen verhalten, die den Christinnen und Christen Böses wollen? Paulus appelliert an die Toleranz seiner Leser. Er wünscht sich eine offene Gemeinde, die in großer Gelassenheit die Verständigung mit ihrer Umgebung sucht und sich nicht angstvoll von ihr abgrenzt. Paulus gibt Orientierung: Lasst Euch Zeit. Nehmt wahr, was ihr seht, hört oder fühlt. Erkennt die bunte Vielfalt. Und dann überlegt, was Ihr behalten wollt – und was auch nicht. Denn gleichzeitig macht Paulus auch klar: Es gibt Grenzen. Toleranz ist nicht Beliebigkeit. Paulus ist nicht gleichgültig, weil ihm alles gleich gültig wäre. Nein, er appelliert an die Menschen, auf die Welt achtzugeben. Sie genau wahrzunehmen, um sich eine Meinung zu bilden und daran das eigene Handeln zu orientieren. Um Entscheidungen zu treffen, welche Schritte gegangen werden können – und welche nicht.

Denn den Weg einer Neuorientierung geht man am besten wie jeden anderen auch: Schritt für Schritt. Zur Orientierung beim Orientieren im neuen Jahr 2025 können Ihnen vielleicht einige Fragen weiterhelfen: Womit möchten Sie abschließen? Was genau soll oder kann nicht so weitergehen wie bisher? Was muss sich ändern? Was kann überhaupt geändert werden? Und: Was soll so bleiben wie es ist? Warum wollen Sie etwas ändern? Oder warum wollen Sie es so wie bisher belassen? Woran haben Sie sich bisher orientiert? Wollen Sie bei diesen Orientierungspunkten bleiben, oder wollen Sie den einen oder anderen nicht lieber auszutauschen oder erneuern? Was hat Sie in der Vergangenheit getragen und wie können Sie dafür sorgen, dass Sie sich auch in Zukunft dort festhalten können?

Und es gibt noch viel mehr Fragen, die Ihnen dabei helfen, sich selbst zu reflektieren. Die wichtigste Frage, auf die es aber auch beim Thema Orientierung am meisten ankommt, ist so einfach und so schwer gleichzeitig: Was ist gut für Sie, für Ihre Mitmenschen, für unsere Gesellschaft, für unsere Welt?  Vielleicht ist das der wichtigste Vorsatz für das neue Jahr: Prüfen Sie alles, was Sie tun wollen, ob es gut ist für Sie und für alle. Und das behalten Sie dann im Blick als Orientierungspunkt für Ihren Weg durch das neue Jahr.

Einige Gedanken wurden angeregt durch die lesenswerte Auslegung der Jahreslosung durch Rieke C. Harmsen im Sonntagsblatt 360° Evangelisch.

Kategorien
Kirchliches

Von Engeln und Eselinnen

Gottesdienst anlässlich des von Bülowschen Familientags
Themen-Gottesdienst „Engel“
am Michaelistag, 29. September 2024 in der Augustinerkirche Gotha

Pfarrerin Angela Fuhrmann (AF) und Pfarrer Dr. Vicco von Bülow (VvB)

Kurze Zusammenfassung der Vorgeschichte (VvB):
Eine Migrationsgeschichte aus der Zeit der biblischen Wüstenwanderung. Das Volk Israel kommt aus Ägypten und sucht seine neue Heimat im gelobten Land. Doch die sesshaften Völker, durch deren Gebiete die Israeliten hindurch müssen, betrachten diesen Haufen wandernder Nomaden mit verständlichem Misstrauen. Sie sind sehr zahlreich, sie sind bewaffnet – und niemand kann genau wissen, was sie vorhaben. Die Amoriter und das Volk aus Baschan jedenfalls schaffen es nicht, sie aufzuhalten. So gelangen sie dann an die Grenzen des Königreichs Moab. Und als Balak, der König der Moabiter, das Volk kommen sieht, ist ihm klar, dass er es mit militärischen Mittel allein nicht besiegen kann. Denn er ist in diesem Punkt klüger als andere Könige. Er versteht, dass es hier weniger um Waffen geht als um den „himmlischen Rückenwind“ der Israeliten: Israel hat den Segen Gottes auf seiner Seite. Also will Balak zuerst Gott auf seine Seite ziehen, um anschließend gegen Israel bestehen zu können. Und da kommt Bileam ins Spiel. Der ist ein berühmter Gottesmann, Magier und Wahrsager – sozusagen ein „Profi“ fürs Segnen und Fluchen, Beschwören und Verwünschen. Darum lässt ihn König Balak durch Boten herbeirufen, verspricht ihm großen Lohn und bitte ihn darum, das wandernde Volk Israel zu verfluchen. Bileam ist nicht abgeneigt, den Auftrag zu übernehmen. Auch ein Magier muss von irgend etwas leben. Doch in der Nacht spricht Gott zu ihm und sagt: „Geh nicht mit ihnen, verfluche das Volk auch nicht; denn es ist gesegnet“ (4. Mose 22,12). Bileam akzeptiert das und erteilt der Gesandtschaft am nächsten Morgen eine Abfuhr. Doch König Balak lässt so schnell nicht locker. Er schickt eine neue Delegation, die Bileam wiederum Gold, Silber und große Ehre verspricht, wenn er nur den Auftrag zur Verfluchung Israels übernimmt. Bileam schläft erstmal eine Nacht drüber. Und in der Nacht hört er Gottes Stimme, der es ihm erlaubt, das Angebot des Königs anzunehmen, wenn er bei dem Unternehmen nur jederzeit tut, was Gott ihm sagt. Bileam meint, er hätte nun „grünes Licht“. Aber hat er Gottes Wort auch richtig verstanden? Oder hat er im Schlaf bloß gehört, was er hören wollte? Am nächsten Morgen sattelt er jedenfalls seine Eselin und will mit der königlichen Delegation nach Moab ziehen. Aber Gott ist mit Bileams Entschluss keineswegs einverstanden, sondern ist sehr zornig und stellt dem Reisenden seinen Engel entgegen – mit einem Schwert in der Hand. Allerdings für Bileam nicht sichtbar. Zum Glück ist das Reittier klüger als der Reiter. Die Eselin sieht den Engel und versucht ihm auszuweichen. Bileam schlägt sie mit der Gerte, um sie wieder auf den Weg zu bringen. Einmal, zweimal, dreimal. Dann kann sie nicht mehr. Die Eselin fällt auf die Knie und bricht zusammen. Und während Bileam den Engel immer noch nicht sieht, kann er jetzt zumindest die Eselin hören.
„Was habe ich dir getan, dass du mich nun schon zum dritten Mal schlägst?“ Bileam wundert sich nicht einmal über die sprechende Eselin, sondern schreit sie an: „Du hältst mich zum Narren! Hätte ich doch ein Schwert zur Hand! Dann wärst du jetzt schon tot!“ Die Eselin erwidert: „Bin ich nicht deine Eselin, auf der du dein Leben lang geritten bist? War es je meine Art, so etwas zu tun wie heute?“ „Nein“, gibt Bileam zu. Er ist der eigentliche dumme Esel. Und in dem Moment passiert es:

Biblische Lesung: 4. Mose 22,31-35 (Neue Genfer Übersetzung)
31 Da öffnete der Herr ihm die Augen, und er sah den Engel mit gezücktem Schwert auf dem Weg stehen. Bileam warf sich vor ihm nieder und berührte mit seiner Stirn den Boden.
32 »Warum hast du deine Eselin nun bereits dreimal geschlagen?«, stellte der Engel des Herrn ihn zur Rede. »Ich war es, der sich dir entgegengestellt hat, denn du bist auf dem verkehrten Weg.
33 Die Eselin hat mich gesehen und ist mir dreimal ausgewichen. Hätte sie es nicht getan, dann hätte ich dich getötet und sie am Leben gelassen!«
34 Da sagte Bileam zu dem Engel: »Ich habe Schuld auf mich geladen. Ich habe nicht erkannt, dass du mir den Weg versperrt hast. Wenn meine Reise dir missfällt, kehre ich sofort um.«
35 »Du kannst weiter mit diesen Männern gehen«, antwortete der Engel des Herrn. »Aber sag nur das, was ich dir auftrage!« So zog Bileam mit den Abgesandten Balaks weiter.

Persönliche Geschichten mit Engelfiguren aus Gemeinde und Familie (Moderation AF)

Bileams Engel … (VvB)
Michaelis ist der „Tag des Erzengels Michael und aller Engel“. Brauchen wir so etwas in der evangelischen Kirche? Vielleicht haben wir uns zu lange zu wenig Gedanken über Engel gemacht, obwohl sie doch biblische Gestalten sind. Und dies, obwohl der Angelus im Evangelium steckt.
Sie erinnern sich an die biblische Lesung von vorhin?
Bileam ist auf dem Rücken seiner Eselin unterwegs nach Moab. Gott stellt ihnen einen Engel in den Weg, doch Bileam sieht ihn nicht. Nur seine Eselin hat ein Sensorium für die göttliche Mitteilung und Warnung. Das schon ist kurios: der göttliche Bote braucht eine weitere Botin. Bileams Eselin verhält sich so, wie Esel nun einmal sind: störrisch. Bileam versteht das Verhalten seiner Eselin nicht und schlägt sie.
Die keineswegs sture, sondern hellsichtige Eselin belehrt Bileam dann über Gottes Wege. Sie ist die Seherin – und er der blinde und sture Bock. Es bedarf der Weisheit einer Eselin, um den Seher Bileam über das aufzuklären, was er nicht sieht: den warnenden Engel Gottes, der sich Bileam in den Weg stellt, um ihn von einem verhängnisvollen Irrweg abzubringen. Die Eselin, das gewöhnliche Last- und Reittier, wird zum Vehikel einer göttlichen Offenbarung.
Bei Bileam dämmert es nur langsam: erst muss Gott einen Engel schicken, dann einer Eselin den Mund öffnen und schließlich noch Bileam die Augen. Ziemlich viel Nachhilfe für einen, der es eigentlich wissen sollte. Doch Gott beweist eine Eselsgeduld im Umgang mit Bileam. Gelehrsamkeit ist eben offenbar keine Garantie für Wahrheitserkenntnis. Manchmal sind es die einfachen Weisheiten, sprich: Eseleien, die zielführend sind.
Das kenne ich, und ich vermute, das kennen Sie auch: Manchmal frage ich mich, wo Gott denn nun in meinem Leben ist. Ob er überhaupt noch mit mir spricht. Und dabei übersehe ich, dass er das tut. Nur manchmal halt etwas indirekter. Er schickt Engel. Oder Esel. Die mir Gottes Botschaft ausrichten. Aber ich bin blind, sehe den Engel nicht und höre vom Esel nur das I-A. Gott wirkt in meinem Leben. Ich sollte nur besser zusehen und hinhören. Augen und Ohren auf für Gottes Boten, das ist meine Lehre aus der biblischen Geschichte.
Übrigens, diese Geschichte geht noch weiter: Nach der Begegnung mit dem Engel reitet Bileam auf seiner Eselin weiter und trifft König Balak. Der gibt Bileam den Auftrag, Israel zu verfluchen, um auf diese Weise das Geschehen eines bevorstehenden Kampfes zu beeinflussen, doch heraus kommt am Ende ein Segen. Diese Szene wiederholt sich zwei weitere Male mit jeweils dramatischer Steigerung. Das erregt verständlicherweise den Zorn Balaks, der Bileam nach Hause jagen will. Bileam jedoch – schon im Abgang begriffen – spricht einen letzten vierten Segen über Israel aus. Damit ist auch er zu einem Engel geworden, einem Boten Gottes, der im Namen Gottes spricht und handelt.
Auch das ist was für uns, die wir hier als Michaelis-Gemeinde in Gotha versammelt sind: Auch wir können Engel werden, Boten Gottes, die in seinem Namen sprechen und handeln. Selbst wenn, das, was wir so sagen und tun, uns eher wie eine Eselei vorkommt.

… und unsere Engel (AF)
Der hebräische Name „Michael“ bedeutet „Wer ist wie Gott?“ Der Name zeigt, dass Engel auch gegen die Selbstüberschätzung von Menschen zu kämpfen haben.
In unserer Vorbereitungsrunde, als wir unsere verschiedenen Engel-Figuren angeschaut haben, fiel nebenbei die Bemerkung: „Wenn man dran glaubt…“ Und da waren viele Fragezeichen in der Stimme.
Wir waren uns schnell einig: Engel aus Ton oder Papier oder Glas sind es nicht, die uns beschützen. Sie sind kleine Hinweise auf eine Macht, die größer ist als unsere Sorgen.
Und trotzdem gibt es viele berechtigte Fragen:
Fragen an Engel: „Wo wart ihr, als…? Wo seid ihr heute, wenn …?“
Engel reden eine besondere Sprache. Du musst sehr still sein, damit du sie verstehst. Aber dann sagen sie dir:
„Ihr Menschen seid nicht unsere Chefs! Das ist ein anderer! Ihr seid nicht Gott! Ihr versteht vieles nicht, was zwischen Himmel und Erde passiert. Ihr seht ja immer nur ein kleines Puzzleteil vom Ganzen. Gott hat den Überblick. Darum hören wir nur auf ihn. Auf seine Befehle. Wir Engel sind immer übrigens immer da, wenn wir gebraucht werden. Wir streicheln die Traurigen, den Kranken singen wir Mutmach-Lieder ins Herz, die Sterbenden nehmen wir in die Arme und tragen sie in den Himmel. Wenn du Angst hast, zünden wir eine Hoffnungs-Kerze an. Und wenn du nicht weiter weißt, tragen wir dich ein Stückchen. Wie ein Kind, das an den Händen der Eltern über die Pfütze fliegen darf – hui…
Lass dich doch einfach tragen! Über die Pfützen und Abgründe des Lebens. Von Puzzle-Teil zu Puzzle-Teil. Du wirst am Ende schon sehen, dass alles gut wird.
Übrigens: Wir können dich richtig beflügeln, wenn du für andere zum Engel wirst. Und: Wir lieben es, wenn ihr mit uns zusammen singt:

Lied:
Gott hat mir längst einen Engel gesandt,
mich durch das Leben zu führen.
Und dieser Engel hält meine Hand,
wo ich auch bin, kann ich’s spüren.
Mein Engel bringt in Dunkelheit mir Licht.
Mein Engel sagt mir: „fürchte dich nicht!“
Du bist bei Gott aufgehoben!
(Text: Eugen Eckert, Musik: Thomas Gabriel)

Kategorien
Kirchliches

Mein Gegner – von Gott geliebt

Als X noch Twitter hieß und die Tweets auf 180 Zeichen beschränkt waren, hat die Internet-Seite evangelisch.de die Bibel in Kurznachrichten zusammengefasst („Und Gott chillte“). Die Erzählung 1. Samuel 24 ging dann so:

(1-7) Zufälle gibt’s! Saul ruht sich in einer Höhle aus, in der David sich grade versteckt hält. David schneidet einen Zipfel von Sauls Mantel ab. (8-15) David sagt zu Saul: Höre nicht auf die Leute. Ich hätte dich töten können, tat’s aber nicht. Gott will das nicht und ich bin nicht böse. (16-23) David sprach zu Saul: Der Herr sei der Richter und David soll Recht haben. Saul: Du hättest mich töten können und hast es nicht getan!

Wie jede Zusammenfassung lässt auch diese notwendigerweise wichtige Teile der Erzählung aus. Also muss man den Text selber vollständig lesen, gut eignet sich dafür die Übersetzung der Basis-Bibel. Zum Verstehen bietet es sich an, diesen (langen) Text in Abschnitte zu unterteilen.

Verkehrte Machtverhältnisse

Im ersten Abschnitt spielt die Handlung: Der mächtige König Saul verfolgt den Rebellen David. Als er sich einmal dringend erleichtern muss (die Lutherbibel übersetzt wortwörtlich und etwas verschämt „sich die Füße bedecken“), zieht er sich in eine Höhle zurück. Dort hat sich David mit seiner Truppe versteckt und könnte die Gelegenheit nutzen, als der König die Hosen heruntergelassen hat. Aber David tötet Saul nicht, obwohl ihn seine Leute dazu anstiften. Er schneidet ihm nur ein Stück Kleidung ab.

David lässt Saul jedoch nicht einfach so ziehen, sondern konfrontiert ihn im zweiten Abschnitt mit der Situation. Er hält die längste Rede, die in der Bibel von ihm überliefert wurde und spricht Saul als „mein Herr und König“ an. So präsentiert er sich großmütig als jemand, der Böses tun könnte, es aber nicht tun will. Er schwingt sich nicht zum Richter über den König auf, sondern er überlässt das Urteil Gott. Das verändert alles.

Bei aller Großmütigkeit ist es allerdings schwer vorstellbar, dass Saul das nicht auch als eine Demütigung verstehen musste. David bringt ihn zum Weinen. Und zur Erkenntnis, dass David nicht nur ihm gegenüber im Recht ist, sondern ihm auch als König nachfolgen wird. Saul bleibt im dritten Abschnitt nur noch übrig, ihn vor Gott für seine Familienmitglieder um Gnade zu bitten. So haben sich die Machtverhältnisse umgekehrt. Und alles ohne Blutvergießen.

Großes Kino, diese Geschichte! Weil sie so spannend ist, wurde sie in der Bibel schon zwei Kapitel später (1. Samuel 26) mit leichten Abweichungen erneut erzählt. Weltliteratur, diese Geschichte! Stephan Heym hat sie in seinem Buch „Der König David-Bericht“ aufgenommen.

Aber es geht in ihr nicht nur um Menschlich-Allzumenschliches („Zufälle gibt’s!“). Sondern auch um Gott. Jeder weiß hier, was Gott eigentlich will: Davids Leute behaupten: „Es ist soweit! Das ist der Tag, von dem der HERR zu dir gesagt hat.“ David weiß, wie Gott richten wird: „Der HERR soll Schiedsrichter sein. Er soll mir dir gegenüber zum Recht verhelfen.“ David ist überzeugt, dass Gott sich auf seine Seite stellen wird. Aber er überlässt Gott das Urteil und durchbricht so die Logik der Vergeltung. Und Saul schließlich ist sich sicher, dass Gott ihn in die Hand Davids gegeben hat und dass Gott David dafür mit dem Königtum belohnen wird.

Und Gott? Tut und sagt in dieser Geschichte erst einmal nichts. Kommt als Akteur nicht vor. Hier kommen mir Fragen: Wo lege ich meine (bösen) Gedanken Gott in den Mund? Wann instrumentalisiere ich Gott, indem ich davon ausgehe, dass er mir und nicht dem Anderen Recht geben wird?  Wie kann ich zu Gott beten – nicht für mich, sondern für andere?

Wenn ich beim Lesen dieser Geschichte auf mich und meine Mitmenschen schaue, kommen mir ebenfalls Fragen: Sehe ich, dass auch mein Gegner ein von Gott geliebter Mensch ist? Verzichte ich darauf, das zu tun, was ich tun könnte? Schaffe ich es, mich nicht vom Bösen überwinden zu lassen, sondern das Böse mit Gutem zu überwinden (Römer 12,21)? In unserer aktuellen gesellschaftlichen Situation würde es gut tun, wenn mehr Menschen so handeln würden.

Fragen, auf die die Erzählung von Saul und David keine eindeutigen Antworten gibt. Denn sie ist ja in sich selbst nicht eindeutig und verteilt Gut und Böse eben nicht einfach so auf David und Saul. Beide sind  – wie alle Menschen –  gerecht und sündig, gut und böse zugleich. Ich kann nur hoffen, dass mir das im entscheidenden Moment in meiner Höhle (oder modern gesprochen: „bubble“) auch einfällt. Dass mir Gott einfällt und seine Menschenfreundlichkeit. Und dass der Hass nicht das letzte Wort haben darf.

Andacht zu 1. Samuel 24,1-23 für Unsere Kirche zum 4. Sonntag nach Trinitatis (23. Juni 2024)

Kategorien
Kirchliches Wissenschaftliches

Die Barmer Theologische Erklärung im Kontext des „Kirchenkampfes“ 1933-45

  1. Der historische Kontext
    Die Barmer Theologische Erklärung vom 31. Mai 1934 ist nicht ohne ihren zeitgeschichtlichen Kontext zu verstehen, auch wenn sie weit über ihn hinaus Bedeutung hat. Rückblickend kann man verschiedene Phasen unterscheiden: Die erste Phase des „Kirchenkampfes“ begann im Januar 1933 und reichte bis Anfang 1934 (siehe 2). Die zweite Phase umschloss die Zeit von Mai bis Oktober 1934 und damit die Bekenntnissynoden von Barmen und Dahlem. Diese Phase ist wohl als der Höhepunkt des Kirchenkampfes anzusehen (siehe 3). Aber auch danach gab es noch wichtige Ereignisse (siehe 4).
  2. Vom Januar 1933 bis Anfang 1934
    Reichskanzler Adolf Hitler versuchte nach dem 30. Januar 1933 den Kirchen gegenüber entgegenkommend zu wirken. Weithin wurde dies auch so angenommen, allerdings gab es schon am 9. Mai mit der Gründung der Jungreformatorischen Bewegung durch Martin Niemöller und andere eine erste Gegenbewegung. Sie konnte allerdings nicht verhindern, dass die von der NSDAP unterstützten Deutschen Christen (DC) im Juli eine 70%ige Mehrheit bei den deutschen Kirchenwahlen erreichten. Im Amt blieben nur die Bischöfe der später „intakt“ genannten Landeskirchen, nämlich Theophil Wurm aus Württemberg, Hans Meiser aus Bayern und August Marahrens aus Hannover. In den anderen Landeskirchen hatten DC, deren Bestreben die Einführung des Führerprinzips in die evangelische Kirche war, klare Mehrheiten. Ein erster Schritt auf dem Weg zur Durchsetzung des Führerprinzips war die am 27. September durch die Nationalsynode der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) erfolgte Wahl Ludwig Müllers zum Reichsbischof. Er versuchte eine weitere Zentralisierung durchzusetzen, blieb jedoch damit erfolglos. Als die Deutschen Christen am 13. November auf der Berliner Sportpalastkundgebung den Ausschluss des Alten Testaments aus der Bibel forderten, war dies auch vielen ihrer gemäßigten Mitglieder zu radikal, und so erlebte der im September gegründete Pfarrernotbund Martin Niemöllers einen regen Zulauf. Seine Wirksamkeit trug entscheidend zur Bildung der „Bekennenden Kirche“ (BK) bei.
  3. Die beiden Bekenntnissynoden 1934
    Vom 29. bis 31. Mai 1934 versammelte sich die Bekennende Kirche in Wuppertal-Barmen zu ihrer ersten Synode, die vor allem wegen der von den dort versammelten Lutheranern, Unierten und Reformierten verabschiedeten „Theologischen Erklärung“ bedeutsam ist. Theologisch war sie vor allem vom Reformierten Karl Barth geprägt, aber auch vom Lutheraner Hans Asmussen, der den Text in die Synode einbrachte. Mit ihrer ersten These, die Jesus Christus als die einzige Offenbarung Gottes bekannte, wurde der Anspruch der DC abgelehnt, die in der NSDAP und in Hitler eine Offenbarung Gottes sahen. Die Barmer Theologische Erklärung gab der Bekennenden Kirche ihr Fundament und ihre Richtung. Die zweite Bekenntnissynode am 19. und 20. Oktober 1934 in Berlin-Dahlem stand unter dem Eindruck der kurz zuvor erfolgten Übernahme der bayerischen und württembergischen Kirchenleitung durch die deutsch-christliche Kirchenregierung. Während die BK in Barmen den Anspruch, Kirche im Sinne Jesu Christi zu sein, theologisch begründet hatte, setzte sie ihn in Dahlem praktisch durch das Mittel des Kirchlichen Notrechts durch. Diese Linie wurde jedoch nicht mit voller Energie weiterverfolgt, weil sie vielen als zu weitgehend erschien.
  4. Die Jahre 1935 bis 1945
    In der Folgezeit verstärkte sich der Gegensatz zwischen dem eher bruderrätlich orientierten Flügel der BK und dem Flügel, der sich auf die intakten Landeskirchen stützte. Zwar konnte man sich noch auf eine Vorläufige Kirchenleitung einigen, die im Juni 1935 auf der dritten Bekenntnissynode in Augsburg bestätigt wurde, aber spätestens auf der vierten Bekenntnissynode im Februar 1936 in Bad Oeynhausen war die BK als Organisation zerbrochen. Dies trug dazu bei, dass die Einigungsversuche des im Juli 1935 eingesetzten Ministers für kirchliche Angelegenheiten, Hanns Kerrl, erfolglos blieben. Seine Politik wurde aber auch durch härtere antikirchliche Maßnahmen der Gestapo unterlaufen. Zwar hatte die 2. VorläufigeKirchenleitung der BK im Mai 1936 in einer Denkschrift an Hitler gegen Entchristlichung, Antisemitismus und Terrormaßnahmen wie z.B. Konzentrationslager protestiert, aber als am 9. November 1938 in der Reichspogromnacht die Synagogen brannten, ist die Kirche eine Reaktion schuldig geblieben. Aktivitäten wie z.B. das „Büro Grüber“ in Berlin, das Hilfen für sogenannte „getaufte Nichtarier“ anbot, blieben die Ausnahme. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 wurden viele Mitglieder der BK in den Untergrund gedrängt oder verhaftet. Die Leitung der DEK lag seit 1937 in den Händen eines deutsch-christlichen Juristen, der seit Kriegsbeginn vom Geistlichen Vertrauensrat unterstützt wurde. Dieser Vertrauensrat setzte sich zwar in Einzelfällen für die bedrängte Kirche ein, blieb aber insgesamt zu unkritisch und staatstreu. Von dort kam kein Protest gegen den Ausschluss getaufter Juden aus der DEK im Dezember 1941, auch nicht gegen das seit 1939 laufende nationalsozialistische Euthanasieprogramm. Bischof Wurm dagegen protestierte mehrmals gegen diese Tötung sogenannten „lebensunwerten Lebens“. Er wurde in dieser Zeit zu einem Sprecher der Bekennenden Kirche. Sein Ende 1941 gegründetes „Kirchliches Einigungswerk“ bildete nach 1945 einen wichtigen Grundstock für den Aufbau der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Zuerst veröffentlicht in:

75 Jahre Barmer Theologische Erklärung.
Eine Arbeitshilfe zum 31. Mai 2009
Verantwortlich für den Inhalt
Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland,
Amt der Union Evangelischer Kirchen in der EKD,
Amt der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands:
Dr. Vicco von Bülow, Dr. Martin Heimbucher, Dr. Mareile Lasogga,
Hannover 2009

Kategorien
Kirchliches

„Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben“

Andacht bei der Pfingsttagung der Evangelischen Forschungsakademie am 18.05.2024 im Kloster Drübeck

Lesung: Jesaja 6,1-8

Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben.
Ich brauche ihre Schönheit und Erhabenheit.
Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt.
Ich will zu leuchtenden Kirchenfenstern hinaufsehen und mich blenden lassen von den unirdischen Farben.
Ich brauche ihren Glanz.
Ich brauche ihn gegen die schmutzige Einheitsfarbe der Uniformen.
Ich will mich einhüllen lassen von der herben Kühle der Kirchen.
Ich brauche ihr gebieterisches Schweigen.
Ich brauche es gegen das geistlose Gebrüll des Kasernenhofs und das geistreiche Geschwätz der Mitläufer.
Ich will den rauschenden Klang der Orgel hören, diese Überschwemmung von überirdischen Tönen.
Ich brauche ihn gegen die schrille Lächerlichkeit der Marschmusik.
Ich liebe betende Menschen.
Ich brauche ihren Anblick.
Ich brauche ihn gegen das tückische Gift des Oberflächlichen und Gedankenlosen.
Ich will die mächtigen Worte der Bibel lesen.

Ich brauche die unwirkliche Kraft ihrer Poesie.
Ich brauche sie gegen die Verwahrlosung der Sprache und die Diktatur der Parolen.
Eine Welt ohne diese Dinge wäre eine Welt, in der ich nicht leben möchte.

Der Schriftsteller Pascal Mercier hat diese Worte in seinem Bestseller-Roman „Nachtzug nach Lissabon“ (2006, S. 198) aufgezeichnet. Ein Abiturient, der sich selbst als ungläubig bezeichnet, bekennt sich in seiner Abitur-Rede zu erhabenen Kathedralen, zu schöner Orgelmusik und zu intimen Gebeten. Vor einigen Jahren ist der Roman mit Jeremy Irons in der Hauptrolle verfilmt worden – und diese Rede hat mich auch dort wieder beeindruckt.

Denn auch ich sehne mich nach solchen Erfahrungen, nach Erlebnissen, die es gerade nicht auf der Party am Wochenende oder am offenen Verkaufssonntag in der Einkaufspassage gibt. Einmal die Dinge überblicken, einmal mehr als dies alles sehen, einmal hinüberschauen in eine andere, ja in eine jenseitige Welt.

So wie es Jesaja getan hat. Der auf einer Wallfahrt nach Jerusalem in den Tempel gekommen ist. Seit Kindesbeinen hat er es immer wieder gehört. Dort oben wohnt Gott. Dort, im heiligen Tempel auf dem Zion berührt sein Gewand die Welt: Hier ist der Schemel seiner Füße.

Auch Jesaja und sein Volk können nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Der Prophet bekommt seinen Auftrag an einem Ort, den Gott selbst für sich als Wohnung erkoren hat. Er hätte es bestimmt auch draußen am Fluss oder unter einem Baum tun können. Aber wir Menschen brauchen Zeichen. Uns zuliebe, weil wir so sind, wie wir sind, zeigt sich Gott an besonderen Orten. Dort, wo sich nach biblischem Zeugnis Himmel und Erde berühren. Dort, wo sich Diesseits und Jenseits schneiden. Wer in Jerusalem vom Ölberg auf den Tempelplatz in Jerusalem blickt, hat vielleicht eine Ahnung davon.

Aber auch anderswo gibt es solche Orte, auch Kirchen, vielleicht hier in St. Vitus in Drübeck, vielleicht in der Stadt, in der Ihr wohnt oder die Ihr im Urlaub besichtigt habt. Kirchgebäude, die einem eine Ahnung davon vermitteln können, davon, dass in der Kirche nicht nur der Pfarrer predigt, sondern auch die Mauern und Steine. Davon, dass Kirchen ein Asyl für die letzten Dinge sind. Davon, dass Altäre Gemeinschaft stiften. Davon, dass Orgeln und Glocken Gott loben. Davon, dass Kunstwerke die Geschichte unserer Kultur erzählen. Davon, dass Kerzen erinnern und mahnen. Davon, dass Schmuck ein Ausdruck des Dankes ist für alle guten Gaben des Schöpfers. Davon, dass es so etwas gibt wie einen „heiligen Raum“.

Ja, das meine ich: dass es so etwas gibt wie einen „heiligen Raum“. 

Heiligen heißt: einen Unterschied machen, etwas aus den gewöhnlichen Dingen herausheben. Heilige Räume sind in diesem Sinne solche Räume, die ausgesondert, hervorgehoben, beiseitegesetzt sind. Sie haben eine eigene Aura, einen besonderen Geschmack, sie sind anziehend durch ihre Fremdheit, sie sind faszinierend, aber immer auch verunsichernd, manchmal sogar furchterregend. In Jesajas Vision kommt diese furchterregende Fremdheit gut zum Ausdruck: „Weh mir, ich vergehe!“


In der evangelischen Kirche haben wir unsere Schwierigkeiten mit der Idee heiliger Räume. Wir können uns nur schwer öffnen für die sinnliche Seite der Gotteserfahrung, wie sie Jesaja beschreibt: Er sieht Gott sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron, und er sieht den Saum von Gottes Mantel, der den Tempel füllt. Er sieht die Serafim bei Gott stehen. Er hört sie rufen: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll!“ Er spürt, dass Schwellen beben von der Stimme ihres Rufens. Er riecht und sieht den Tempel voller Rauch.
In solchen Schilderungen kommt zum Ausdruck, dass von Gott alle Heiligkeit herkommt und abhängig ist. Und dass Gott die Erfahrungswirklichkeit der Welt überschreitet. Er ist unberechenbar und unverfügbar.

Insofern ist es immer eine lächerliche religiöse Selbstüberschätzung, wenn Menschen – auch Pfarrer – fälschlich glauben, Gott stünde ihnen mit heiligen Räumen gewissermaßen zur Verfügung. Ein Gott, dessen sich Menschen zu bemächtigen wähnen, ist nichts als ein Götze. Weder der Tempel in Jerusalem, solange er bestand, noch irgendein christlicher Kirchenraum – kein noch so heiliger Raum – kann gewährleisten, dass in ihm tatsächlich das Heilige anwesend und erfahrbar ist.

1544 wurde das erste evangelische Kirchengebäude eingeweiht, die Schlosskirche in Torgau. Martin Luther hat zu ihrer Einweihung gepredigt. Und festgelegt, dass die Kirche für den Gottesdienst da sei. Und was das bedeutet. Nämlich: „Dass nichts anderes darin geschehe, denn dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang.“ Das heilige Wort macht also den heiligen Raum. Ohne Gott ist kein Raum heilig. Und deshalb kann jeder Raum heilig sein. In seiner Torgauer Einweihungspredigt hat Martin Luther gesagt: „Kann es nicht geschehen unterm Dach oder in der Kirchen, so geschehe es auf dem Platz unter dem Himmel, und wo Raum dazu ist.“ Jeder Raum kann ein heiliger Raum sein. Nämlich dann, wenn Gott in ihm mit uns redet durch sein heiliges Wort, und wir mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang.

Martin Luther ist von manchen so verstanden worden, als sei es völlig egal, wo sich die christliche Gemeinde zum Gottesdienst versammelt. Als bräuchten wir Evangelischen keine besonderen Kirchgebäude. Ich glaube das nicht. Ich glaube, dass gestaltete Kirchengebäude sich besser als Versammlungsräume der christlichen Gemeinde eignen als bloße Zweckräume wie Verwaltungszimmer oder Hotelsäle. Ich gehöre zu denen, die Kirchengebäude brauchen. Die sich nach Rastplätzen für ihre Seele sehnen, nach Freiräumen für ihr Denken, nach Oasen für ihr Gebet sowie nach Feierorten für ihr Leben. Auch ganz nicht-kirchliche Menschen suchen Kirchen in Situationen der Not, des Entsetzens und des Schreckens auf. Auch Menschen, die nicht Kirchenmitglieder sind, können anerkennen, dass Kirchengebäude „Seelen und Gedächtnis“ der Dörfer und Städte sind. Wir als Christen können das umso mehr.

Kirchen sind Versammlungsorte der christlichen Gemeinde, ja und noch viel mehr. Kirchen sind Schatzkammern des christlichen Glaubens. Sie sind Kraftorte. Sie sind gestaltete Räume. Sie sind Freiräume. Sie sind heilige Räume.

Und weil sie das sind,
möchte ich nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben.

Amen.