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Wissenschaftliches

Erkenntnis und Glaube. 75 Jahre Evangelische Forschungsakademie

Thomas von Woedtke / Vicco von Bülow (Hrsg.), Erkenntnis und Glaube. 75 Jahre Evangelische Forschungsakademie (Erkenntnis und Glaube. Schriften der Evangelischen Forschungsakademie Bd. 54), Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2025.

Das Verhältnis von Erkenntnis und Glaube ist nicht nur spannend, sondern auch von Spannungen geprägt. Spätestens seit der Aufklärung ist die wissenschaftliche Erkenntnis neben die oder an die Stelle der glaubensbestimmten Welt- und Lebensdeutungen getreten. In einer säkularen Perspektive wird der christliche Glaube nicht (mehr) als Grundlage für wissenschaftliche Erkenntnisprozesse angesehen, sondern als irrelevant oder gar als Widerspruch.

Das prägte auch die Gründung der Evangelischen Forschungsakademie 1948. Deshalb war der Einsatz gegen eine wechselseitige Gleichgültigkeit oder gar Unvereinbarkeit von Glaube und Erkenntnis das Kernthema ihrer interdisziplinären Arbeit. Im Rahmen einer Jubiläumstagung im Januar 2024 wurde eine aktuelle Bestimmung des Themas als Leitmotiv für Wissenschaft und Gesellschaft versucht. Mit Beiträgen von Christian Ammer, Volker Gerhardt, Heino Falcke, Martin Laube, Volker Jung und Sarah Rosenhauer.

Aus dem Vorwort der Herausgeber:

Der vorliegende Band dokumentiert Beiträge der 151. Tagung der
Evangelischen Forschungsakademie (EFA)
, die Anfang Januar 2024
in Berlin als Jubiläumstagung anlässlich der Gründung der EFA vor
75 Jahren stattfand.
Erkenntnis und Glaube – das sind zwei Pole, zwischen denen
sich das Leben, Denken und Handeln eines christlichen Wissenschaftlers,
einer christlichen Wissenschaftlerin unweigerlich auffächert
– mehr oder weniger offen und deutlich im täglichen Vollzug,
bei dem einen oder der anderen mehr als Herausforderung
oder vielleicht eher als selbstverständliche Einheit. Erkenntnis und
Glaube ist auch der Titel der Schriftenreihe, die seit vielen Jahren
bei der Evangelischen Verlagsanstalt erscheint und insbesondere
die Januartagungen der EFA dokumentiert und deren Band 54 hier
vorgelegt wird. […]

Für die Arbeit der Evangelischen Forschungsakademie und ihr
Motto Erkenntnis und Glaube ist gemäß ihrer Ordnung wie ihrer
Praxis zu konstatieren, dass mit Glaube der christliche Glaube gemeint
ist. Zwar ist der Glaube in der christlichen Tradition mit
dem Theologen Otto Weber „primär als fiducia [Vertrauen] zu
verstehen, als Antwort auf die in Jesus Christus geschehene Selbstzuwendung Gottes […]. Er ist die Zuversicht zu Gott, die uns allein
in der Begegnung mit dem uns versöhnenden Herrn erwächst.“ Er
enthält aber auch die Elemente notitia (Erkenntnis) und assensus
(Zustimmung). […]

Ein Blick in die Zukunft ist bekanntermaßen immer mit erheblichen
Unsicherheiten verbunden. Wir wissen nicht, unter welchen
gesellschaftlichen Bedingungen sich wissenschaftliche Arbeit
in den kommenden Jahren vollziehen wird […] und wie sich zukünftige Entwicklungen auch auf die Arbeit der EFA auswirken werden.
Als Christen wissen wir, dass wir nicht alles selbst in der Hand
haben, sondern auf die gnädige Führung und Bewahrung durch
Gott angewiesen sind. In diesem Sinne sollten wir uns für die zukünftige
Arbeit der EFA von der Botschaft des Paulus ( 1. Kor. 1,26-
2,5
) leiten lassen, die Kirchenpräsident Volker Jung uns in seiner
Predigt im Festgottesdienst zum 75. Gründungsjubiläum der EFA
mit auf den Weg gegeben hat:
„Vertraut euch Christus und seiner Gnade an!“

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Allgemeines

Orientierung im neuen Jahr 2025

Gehören Sie auch zu den Menschen, die sich gute Vorsätze zum neuen Jahr vornehmen? Mehr Sport, weniger Süßigkeiten vielleicht? Jedenfalls mehr als im letzten Jahr. Oder weniger, je nachdem. Einmal im Jahr ergibt sich kalendarisch ein Neuanfang, der von vielen Menschen als Anlass genommen wird, sich mit guten Vorsätzen neu zu orientieren. Es gibt viele Anlässe für Neuorientierung im beruflichen oder privaten Leben. Manchmal kommen wir selbst darauf, uns neu zu orientieren, manchmal aber zwingen uns äußere Faktoren die eine oder andere Neuorientierung auf. Trennungen egal welcher Art haben oft große Krisen im Leben zur Folge. Krankheiten zwingen uns, neue Wege einzuschlagen. Doch auch globale Krisen, von denen langfristig niemand verschont bleibt, bewegen uns manchmal dazu, uns neu zu orientieren. Zum Glück können wir Menschen das: Uns bewusst orientieren. Orientierung ist das Sich-Zurechtfinden in Räumen oder einer Gegend. Dazu braucht es Markierungen, anhand derer wir uns orientieren. Das können konkrete Orientierungspunkte oder Himmelsrichtungen sein, aber auch Erkenntnisse, Erfahrungen oder Werte. Wer kein Ziel hat, verliert leicht die Orientierung.

Die Jahreslosung für 2025 kann bei der Orientierung helfen. Sie lautet „Prüft alles und behaltet das Gute!“ und stammt aus dem Neuen Testament, aus dem 1. Thessalonicherbrief des Paulus, Kapitel 5, Vers 21. Das ist von Paulus so pointiert formuliert, dass es hängen bleibt. Paulus rät mit seinem Brief den Mitgliedern der jungen Christengemeinde in Thessaloniki, die kulturellen Eigenheiten mit ihrer gesellschaftlichen Umgebung abzugleichen. Sollen die Gläubigen beim Beten stehen bleiben oder sich auf den Boden knien? Wie sollen sie mit Sklavenhändlern umgehen? Wie sollen Sie sich gegenüber denen verhalten, die den Christinnen und Christen Böses wollen? Paulus appelliert an die Toleranz seiner Leser. Er wünscht sich eine offene Gemeinde, die in großer Gelassenheit die Verständigung mit ihrer Umgebung sucht und sich nicht angstvoll von ihr abgrenzt. Paulus gibt Orientierung: Lasst Euch Zeit. Nehmt wahr, was ihr seht, hört oder fühlt. Erkennt die bunte Vielfalt. Und dann überlegt, was Ihr behalten wollt – und was auch nicht. Denn gleichzeitig macht Paulus auch klar: Es gibt Grenzen. Toleranz ist nicht Beliebigkeit. Paulus ist nicht gleichgültig, weil ihm alles gleich gültig wäre. Nein, er appelliert an die Menschen, auf die Welt achtzugeben. Sie genau wahrzunehmen, um sich eine Meinung zu bilden und daran das eigene Handeln zu orientieren. Um Entscheidungen zu treffen, welche Schritte gegangen werden können – und welche nicht.

Denn den Weg einer Neuorientierung geht man am besten wie jeden anderen auch: Schritt für Schritt. Zur Orientierung beim Orientieren im neuen Jahr 2025 können Ihnen vielleicht einige Fragen weiterhelfen: Womit möchten Sie abschließen? Was genau soll oder kann nicht so weitergehen wie bisher? Was muss sich ändern? Was kann überhaupt geändert werden? Und: Was soll so bleiben wie es ist? Warum wollen Sie etwas ändern? Oder warum wollen Sie es so wie bisher belassen? Woran haben Sie sich bisher orientiert? Wollen Sie bei diesen Orientierungspunkten bleiben, oder wollen Sie den einen oder anderen nicht lieber auszutauschen oder erneuern? Was hat Sie in der Vergangenheit getragen und wie können Sie dafür sorgen, dass Sie sich auch in Zukunft dort festhalten können?

Und es gibt noch viel mehr Fragen, die Ihnen dabei helfen, sich selbst zu reflektieren. Die wichtigste Frage, auf die es aber auch beim Thema Orientierung am meisten ankommt, ist so einfach und so schwer gleichzeitig: Was ist gut für Sie, für Ihre Mitmenschen, für unsere Gesellschaft, für unsere Welt?  Vielleicht ist das der wichtigste Vorsatz für das neue Jahr: Prüfen Sie alles, was Sie tun wollen, ob es gut ist für Sie und für alle. Und das behalten Sie dann im Blick als Orientierungspunkt für Ihren Weg durch das neue Jahr.

Einige Gedanken wurden angeregt durch die lesenswerte Auslegung der Jahreslosung durch Rieke C. Harmsen im Sonntagsblatt 360° Evangelisch.

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Kirchliches

Von Engeln und Eselinnen

Gottesdienst anlässlich des von Bülowschen Familientags
Themen-Gottesdienst „Engel“
am Michaelistag, 29. September 2024 in der Augustinerkirche Gotha

Pfarrerin Angela Fuhrmann (AF) und Pfarrer Dr. Vicco von Bülow (VvB)

Kurze Zusammenfassung der Vorgeschichte (VvB):
Eine Migrationsgeschichte aus der Zeit der biblischen Wüstenwanderung. Das Volk Israel kommt aus Ägypten und sucht seine neue Heimat im gelobten Land. Doch die sesshaften Völker, durch deren Gebiete die Israeliten hindurch müssen, betrachten diesen Haufen wandernder Nomaden mit verständlichem Misstrauen. Sie sind sehr zahlreich, sie sind bewaffnet – und niemand kann genau wissen, was sie vorhaben. Die Amoriter und das Volk aus Baschan jedenfalls schaffen es nicht, sie aufzuhalten. So gelangen sie dann an die Grenzen des Königreichs Moab. Und als Balak, der König der Moabiter, das Volk kommen sieht, ist ihm klar, dass er es mit militärischen Mittel allein nicht besiegen kann. Denn er ist in diesem Punkt klüger als andere Könige. Er versteht, dass es hier weniger um Waffen geht als um den „himmlischen Rückenwind“ der Israeliten: Israel hat den Segen Gottes auf seiner Seite. Also will Balak zuerst Gott auf seine Seite ziehen, um anschließend gegen Israel bestehen zu können. Und da kommt Bileam ins Spiel. Der ist ein berühmter Gottesmann, Magier und Wahrsager – sozusagen ein „Profi“ fürs Segnen und Fluchen, Beschwören und Verwünschen. Darum lässt ihn König Balak durch Boten herbeirufen, verspricht ihm großen Lohn und bitte ihn darum, das wandernde Volk Israel zu verfluchen. Bileam ist nicht abgeneigt, den Auftrag zu übernehmen. Auch ein Magier muss von irgend etwas leben. Doch in der Nacht spricht Gott zu ihm und sagt: „Geh nicht mit ihnen, verfluche das Volk auch nicht; denn es ist gesegnet“ (4. Mose 22,12). Bileam akzeptiert das und erteilt der Gesandtschaft am nächsten Morgen eine Abfuhr. Doch König Balak lässt so schnell nicht locker. Er schickt eine neue Delegation, die Bileam wiederum Gold, Silber und große Ehre verspricht, wenn er nur den Auftrag zur Verfluchung Israels übernimmt. Bileam schläft erstmal eine Nacht drüber. Und in der Nacht hört er Gottes Stimme, der es ihm erlaubt, das Angebot des Königs anzunehmen, wenn er bei dem Unternehmen nur jederzeit tut, was Gott ihm sagt. Bileam meint, er hätte nun „grünes Licht“. Aber hat er Gottes Wort auch richtig verstanden? Oder hat er im Schlaf bloß gehört, was er hören wollte? Am nächsten Morgen sattelt er jedenfalls seine Eselin und will mit der königlichen Delegation nach Moab ziehen. Aber Gott ist mit Bileams Entschluss keineswegs einverstanden, sondern ist sehr zornig und stellt dem Reisenden seinen Engel entgegen – mit einem Schwert in der Hand. Allerdings für Bileam nicht sichtbar. Zum Glück ist das Reittier klüger als der Reiter. Die Eselin sieht den Engel und versucht ihm auszuweichen. Bileam schlägt sie mit der Gerte, um sie wieder auf den Weg zu bringen. Einmal, zweimal, dreimal. Dann kann sie nicht mehr. Die Eselin fällt auf die Knie und bricht zusammen. Und während Bileam den Engel immer noch nicht sieht, kann er jetzt zumindest die Eselin hören.
„Was habe ich dir getan, dass du mich nun schon zum dritten Mal schlägst?“ Bileam wundert sich nicht einmal über die sprechende Eselin, sondern schreit sie an: „Du hältst mich zum Narren! Hätte ich doch ein Schwert zur Hand! Dann wärst du jetzt schon tot!“ Die Eselin erwidert: „Bin ich nicht deine Eselin, auf der du dein Leben lang geritten bist? War es je meine Art, so etwas zu tun wie heute?“ „Nein“, gibt Bileam zu. Er ist der eigentliche dumme Esel. Und in dem Moment passiert es:

Biblische Lesung: 4. Mose 22,31-35 (Neue Genfer Übersetzung)
31 Da öffnete der Herr ihm die Augen, und er sah den Engel mit gezücktem Schwert auf dem Weg stehen. Bileam warf sich vor ihm nieder und berührte mit seiner Stirn den Boden.
32 »Warum hast du deine Eselin nun bereits dreimal geschlagen?«, stellte der Engel des Herrn ihn zur Rede. »Ich war es, der sich dir entgegengestellt hat, denn du bist auf dem verkehrten Weg.
33 Die Eselin hat mich gesehen und ist mir dreimal ausgewichen. Hätte sie es nicht getan, dann hätte ich dich getötet und sie am Leben gelassen!«
34 Da sagte Bileam zu dem Engel: »Ich habe Schuld auf mich geladen. Ich habe nicht erkannt, dass du mir den Weg versperrt hast. Wenn meine Reise dir missfällt, kehre ich sofort um.«
35 »Du kannst weiter mit diesen Männern gehen«, antwortete der Engel des Herrn. »Aber sag nur das, was ich dir auftrage!« So zog Bileam mit den Abgesandten Balaks weiter.

Persönliche Geschichten mit Engelfiguren aus Gemeinde und Familie (Moderation AF)

Bileams Engel … (VvB)
Michaelis ist der „Tag des Erzengels Michael und aller Engel“. Brauchen wir so etwas in der evangelischen Kirche? Vielleicht haben wir uns zu lange zu wenig Gedanken über Engel gemacht, obwohl sie doch biblische Gestalten sind. Und dies, obwohl der Angelus im Evangelium steckt.
Sie erinnern sich an die biblische Lesung von vorhin?
Bileam ist auf dem Rücken seiner Eselin unterwegs nach Moab. Gott stellt ihnen einen Engel in den Weg, doch Bileam sieht ihn nicht. Nur seine Eselin hat ein Sensorium für die göttliche Mitteilung und Warnung. Das schon ist kurios: der göttliche Bote braucht eine weitere Botin. Bileams Eselin verhält sich so, wie Esel nun einmal sind: störrisch. Bileam versteht das Verhalten seiner Eselin nicht und schlägt sie.
Die keineswegs sture, sondern hellsichtige Eselin belehrt Bileam dann über Gottes Wege. Sie ist die Seherin – und er der blinde und sture Bock. Es bedarf der Weisheit einer Eselin, um den Seher Bileam über das aufzuklären, was er nicht sieht: den warnenden Engel Gottes, der sich Bileam in den Weg stellt, um ihn von einem verhängnisvollen Irrweg abzubringen. Die Eselin, das gewöhnliche Last- und Reittier, wird zum Vehikel einer göttlichen Offenbarung.
Bei Bileam dämmert es nur langsam: erst muss Gott einen Engel schicken, dann einer Eselin den Mund öffnen und schließlich noch Bileam die Augen. Ziemlich viel Nachhilfe für einen, der es eigentlich wissen sollte. Doch Gott beweist eine Eselsgeduld im Umgang mit Bileam. Gelehrsamkeit ist eben offenbar keine Garantie für Wahrheitserkenntnis. Manchmal sind es die einfachen Weisheiten, sprich: Eseleien, die zielführend sind.
Das kenne ich, und ich vermute, das kennen Sie auch: Manchmal frage ich mich, wo Gott denn nun in meinem Leben ist. Ob er überhaupt noch mit mir spricht. Und dabei übersehe ich, dass er das tut. Nur manchmal halt etwas indirekter. Er schickt Engel. Oder Esel. Die mir Gottes Botschaft ausrichten. Aber ich bin blind, sehe den Engel nicht und höre vom Esel nur das I-A. Gott wirkt in meinem Leben. Ich sollte nur besser zusehen und hinhören. Augen und Ohren auf für Gottes Boten, das ist meine Lehre aus der biblischen Geschichte.
Übrigens, diese Geschichte geht noch weiter: Nach der Begegnung mit dem Engel reitet Bileam auf seiner Eselin weiter und trifft König Balak. Der gibt Bileam den Auftrag, Israel zu verfluchen, um auf diese Weise das Geschehen eines bevorstehenden Kampfes zu beeinflussen, doch heraus kommt am Ende ein Segen. Diese Szene wiederholt sich zwei weitere Male mit jeweils dramatischer Steigerung. Das erregt verständlicherweise den Zorn Balaks, der Bileam nach Hause jagen will. Bileam jedoch – schon im Abgang begriffen – spricht einen letzten vierten Segen über Israel aus. Damit ist auch er zu einem Engel geworden, einem Boten Gottes, der im Namen Gottes spricht und handelt.
Auch das ist was für uns, die wir hier als Michaelis-Gemeinde in Gotha versammelt sind: Auch wir können Engel werden, Boten Gottes, die in seinem Namen sprechen und handeln. Selbst wenn, das, was wir so sagen und tun, uns eher wie eine Eselei vorkommt.

… und unsere Engel (AF)
Der hebräische Name „Michael“ bedeutet „Wer ist wie Gott?“ Der Name zeigt, dass Engel auch gegen die Selbstüberschätzung von Menschen zu kämpfen haben.
In unserer Vorbereitungsrunde, als wir unsere verschiedenen Engel-Figuren angeschaut haben, fiel nebenbei die Bemerkung: „Wenn man dran glaubt…“ Und da waren viele Fragezeichen in der Stimme.
Wir waren uns schnell einig: Engel aus Ton oder Papier oder Glas sind es nicht, die uns beschützen. Sie sind kleine Hinweise auf eine Macht, die größer ist als unsere Sorgen.
Und trotzdem gibt es viele berechtigte Fragen:
Fragen an Engel: „Wo wart ihr, als…? Wo seid ihr heute, wenn …?“
Engel reden eine besondere Sprache. Du musst sehr still sein, damit du sie verstehst. Aber dann sagen sie dir:
„Ihr Menschen seid nicht unsere Chefs! Das ist ein anderer! Ihr seid nicht Gott! Ihr versteht vieles nicht, was zwischen Himmel und Erde passiert. Ihr seht ja immer nur ein kleines Puzzleteil vom Ganzen. Gott hat den Überblick. Darum hören wir nur auf ihn. Auf seine Befehle. Wir Engel sind immer übrigens immer da, wenn wir gebraucht werden. Wir streicheln die Traurigen, den Kranken singen wir Mutmach-Lieder ins Herz, die Sterbenden nehmen wir in die Arme und tragen sie in den Himmel. Wenn du Angst hast, zünden wir eine Hoffnungs-Kerze an. Und wenn du nicht weiter weißt, tragen wir dich ein Stückchen. Wie ein Kind, das an den Händen der Eltern über die Pfütze fliegen darf – hui…
Lass dich doch einfach tragen! Über die Pfützen und Abgründe des Lebens. Von Puzzle-Teil zu Puzzle-Teil. Du wirst am Ende schon sehen, dass alles gut wird.
Übrigens: Wir können dich richtig beflügeln, wenn du für andere zum Engel wirst. Und: Wir lieben es, wenn ihr mit uns zusammen singt:

Lied:
Gott hat mir längst einen Engel gesandt,
mich durch das Leben zu führen.
Und dieser Engel hält meine Hand,
wo ich auch bin, kann ich’s spüren.
Mein Engel bringt in Dunkelheit mir Licht.
Mein Engel sagt mir: „fürchte dich nicht!“
Du bist bei Gott aufgehoben!
(Text: Eugen Eckert, Musik: Thomas Gabriel)

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Kirchliches

Mein Gegner – von Gott geliebt

Als X noch Twitter hieß und die Tweets auf 180 Zeichen beschränkt waren, hat die Internet-Seite evangelisch.de die Bibel in Kurznachrichten zusammengefasst („Und Gott chillte“). Die Erzählung 1. Samuel 24 ging dann so:

(1-7) Zufälle gibt’s! Saul ruht sich in einer Höhle aus, in der David sich grade versteckt hält. David schneidet einen Zipfel von Sauls Mantel ab. (8-15) David sagt zu Saul: Höre nicht auf die Leute. Ich hätte dich töten können, tat’s aber nicht. Gott will das nicht und ich bin nicht böse. (16-23) David sprach zu Saul: Der Herr sei der Richter und David soll Recht haben. Saul: Du hättest mich töten können und hast es nicht getan!

Wie jede Zusammenfassung lässt auch diese notwendigerweise wichtige Teile der Erzählung aus. Also muss man den Text selber vollständig lesen, gut eignet sich dafür die Übersetzung der Basis-Bibel. Zum Verstehen bietet es sich an, diesen (langen) Text in Abschnitte zu unterteilen.

Verkehrte Machtverhältnisse

Im ersten Abschnitt spielt die Handlung: Der mächtige König Saul verfolgt den Rebellen David. Als er sich einmal dringend erleichtern muss (die Lutherbibel übersetzt wortwörtlich und etwas verschämt „sich die Füße bedecken“), zieht er sich in eine Höhle zurück. Dort hat sich David mit seiner Truppe versteckt und könnte die Gelegenheit nutzen, als der König die Hosen heruntergelassen hat. Aber David tötet Saul nicht, obwohl ihn seine Leute dazu anstiften. Er schneidet ihm nur ein Stück Kleidung ab.

David lässt Saul jedoch nicht einfach so ziehen, sondern konfrontiert ihn im zweiten Abschnitt mit der Situation. Er hält die längste Rede, die in der Bibel von ihm überliefert wurde und spricht Saul als „mein Herr und König“ an. So präsentiert er sich großmütig als jemand, der Böses tun könnte, es aber nicht tun will. Er schwingt sich nicht zum Richter über den König auf, sondern er überlässt das Urteil Gott. Das verändert alles.

Bei aller Großmütigkeit ist es allerdings schwer vorstellbar, dass Saul das nicht auch als eine Demütigung verstehen musste. David bringt ihn zum Weinen. Und zur Erkenntnis, dass David nicht nur ihm gegenüber im Recht ist, sondern ihm auch als König nachfolgen wird. Saul bleibt im dritten Abschnitt nur noch übrig, ihn vor Gott für seine Familienmitglieder um Gnade zu bitten. So haben sich die Machtverhältnisse umgekehrt. Und alles ohne Blutvergießen.

Großes Kino, diese Geschichte! Weil sie so spannend ist, wurde sie in der Bibel schon zwei Kapitel später (1. Samuel 26) mit leichten Abweichungen erneut erzählt. Weltliteratur, diese Geschichte! Stephan Heym hat sie in seinem Buch „Der König David-Bericht“ aufgenommen.

Aber es geht in ihr nicht nur um Menschlich-Allzumenschliches („Zufälle gibt’s!“). Sondern auch um Gott. Jeder weiß hier, was Gott eigentlich will: Davids Leute behaupten: „Es ist soweit! Das ist der Tag, von dem der HERR zu dir gesagt hat.“ David weiß, wie Gott richten wird: „Der HERR soll Schiedsrichter sein. Er soll mir dir gegenüber zum Recht verhelfen.“ David ist überzeugt, dass Gott sich auf seine Seite stellen wird. Aber er überlässt Gott das Urteil und durchbricht so die Logik der Vergeltung. Und Saul schließlich ist sich sicher, dass Gott ihn in die Hand Davids gegeben hat und dass Gott David dafür mit dem Königtum belohnen wird.

Und Gott? Tut und sagt in dieser Geschichte erst einmal nichts. Kommt als Akteur nicht vor. Hier kommen mir Fragen: Wo lege ich meine (bösen) Gedanken Gott in den Mund? Wann instrumentalisiere ich Gott, indem ich davon ausgehe, dass er mir und nicht dem Anderen Recht geben wird?  Wie kann ich zu Gott beten – nicht für mich, sondern für andere?

Wenn ich beim Lesen dieser Geschichte auf mich und meine Mitmenschen schaue, kommen mir ebenfalls Fragen: Sehe ich, dass auch mein Gegner ein von Gott geliebter Mensch ist? Verzichte ich darauf, das zu tun, was ich tun könnte? Schaffe ich es, mich nicht vom Bösen überwinden zu lassen, sondern das Böse mit Gutem zu überwinden (Römer 12,21)? In unserer aktuellen gesellschaftlichen Situation würde es gut tun, wenn mehr Menschen so handeln würden.

Fragen, auf die die Erzählung von Saul und David keine eindeutigen Antworten gibt. Denn sie ist ja in sich selbst nicht eindeutig und verteilt Gut und Böse eben nicht einfach so auf David und Saul. Beide sind  – wie alle Menschen –  gerecht und sündig, gut und böse zugleich. Ich kann nur hoffen, dass mir das im entscheidenden Moment in meiner Höhle (oder modern gesprochen: „bubble“) auch einfällt. Dass mir Gott einfällt und seine Menschenfreundlichkeit. Und dass der Hass nicht das letzte Wort haben darf.

Andacht zu 1. Samuel 24,1-23 für Unsere Kirche zum 4. Sonntag nach Trinitatis (23. Juni 2024)

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Kirchliches Wissenschaftliches

Die Barmer Theologische Erklärung im Kontext des „Kirchenkampfes“ 1933-45

  1. Der historische Kontext
    Die Barmer Theologische Erklärung vom 31. Mai 1934 ist nicht ohne ihren zeitgeschichtlichen Kontext zu verstehen, auch wenn sie weit über ihn hinaus Bedeutung hat. Rückblickend kann man verschiedene Phasen unterscheiden: Die erste Phase des „Kirchenkampfes“ begann im Januar 1933 und reichte bis Anfang 1934 (siehe 2). Die zweite Phase umschloss die Zeit von Mai bis Oktober 1934 und damit die Bekenntnissynoden von Barmen und Dahlem. Diese Phase ist wohl als der Höhepunkt des Kirchenkampfes anzusehen (siehe 3). Aber auch danach gab es noch wichtige Ereignisse (siehe 4).
  2. Vom Januar 1933 bis Anfang 1934
    Reichskanzler Adolf Hitler versuchte nach dem 30. Januar 1933 den Kirchen gegenüber entgegenkommend zu wirken. Weithin wurde dies auch so angenommen, allerdings gab es schon am 9. Mai mit der Gründung der Jungreformatorischen Bewegung durch Martin Niemöller und andere eine erste Gegenbewegung. Sie konnte allerdings nicht verhindern, dass die von der NSDAP unterstützten Deutschen Christen (DC) im Juli eine 70%ige Mehrheit bei den deutschen Kirchenwahlen erreichten. Im Amt blieben nur die Bischöfe der später „intakt“ genannten Landeskirchen, nämlich Theophil Wurm aus Württemberg, Hans Meiser aus Bayern und August Marahrens aus Hannover. In den anderen Landeskirchen hatten DC, deren Bestreben die Einführung des Führerprinzips in die evangelische Kirche war, klare Mehrheiten. Ein erster Schritt auf dem Weg zur Durchsetzung des Führerprinzips war die am 27. September durch die Nationalsynode der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) erfolgte Wahl Ludwig Müllers zum Reichsbischof. Er versuchte eine weitere Zentralisierung durchzusetzen, blieb jedoch damit erfolglos. Als die Deutschen Christen am 13. November auf der Berliner Sportpalastkundgebung den Ausschluss des Alten Testaments aus der Bibel forderten, war dies auch vielen ihrer gemäßigten Mitglieder zu radikal, und so erlebte der im September gegründete Pfarrernotbund Martin Niemöllers einen regen Zulauf. Seine Wirksamkeit trug entscheidend zur Bildung der „Bekennenden Kirche“ (BK) bei.
  3. Die beiden Bekenntnissynoden 1934
    Vom 29. bis 31. Mai 1934 versammelte sich die Bekennende Kirche in Wuppertal-Barmen zu ihrer ersten Synode, die vor allem wegen der von den dort versammelten Lutheranern, Unierten und Reformierten verabschiedeten „Theologischen Erklärung“ bedeutsam ist. Theologisch war sie vor allem vom Reformierten Karl Barth geprägt, aber auch vom Lutheraner Hans Asmussen, der den Text in die Synode einbrachte. Mit ihrer ersten These, die Jesus Christus als die einzige Offenbarung Gottes bekannte, wurde der Anspruch der DC abgelehnt, die in der NSDAP und in Hitler eine Offenbarung Gottes sahen. Die Barmer Theologische Erklärung gab der Bekennenden Kirche ihr Fundament und ihre Richtung. Die zweite Bekenntnissynode am 19. und 20. Oktober 1934 in Berlin-Dahlem stand unter dem Eindruck der kurz zuvor erfolgten Übernahme der bayerischen und württembergischen Kirchenleitung durch die deutsch-christliche Kirchenregierung. Während die BK in Barmen den Anspruch, Kirche im Sinne Jesu Christi zu sein, theologisch begründet hatte, setzte sie ihn in Dahlem praktisch durch das Mittel des Kirchlichen Notrechts durch. Diese Linie wurde jedoch nicht mit voller Energie weiterverfolgt, weil sie vielen als zu weitgehend erschien.
  4. Die Jahre 1935 bis 1945
    In der Folgezeit verstärkte sich der Gegensatz zwischen dem eher bruderrätlich orientierten Flügel der BK und dem Flügel, der sich auf die intakten Landeskirchen stützte. Zwar konnte man sich noch auf eine Vorläufige Kirchenleitung einigen, die im Juni 1935 auf der dritten Bekenntnissynode in Augsburg bestätigt wurde, aber spätestens auf der vierten Bekenntnissynode im Februar 1936 in Bad Oeynhausen war die BK als Organisation zerbrochen. Dies trug dazu bei, dass die Einigungsversuche des im Juli 1935 eingesetzten Ministers für kirchliche Angelegenheiten, Hanns Kerrl, erfolglos blieben. Seine Politik wurde aber auch durch härtere antikirchliche Maßnahmen der Gestapo unterlaufen. Zwar hatte die 2. VorläufigeKirchenleitung der BK im Mai 1936 in einer Denkschrift an Hitler gegen Entchristlichung, Antisemitismus und Terrormaßnahmen wie z.B. Konzentrationslager protestiert, aber als am 9. November 1938 in der Reichspogromnacht die Synagogen brannten, ist die Kirche eine Reaktion schuldig geblieben. Aktivitäten wie z.B. das „Büro Grüber“ in Berlin, das Hilfen für sogenannte „getaufte Nichtarier“ anbot, blieben die Ausnahme. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 wurden viele Mitglieder der BK in den Untergrund gedrängt oder verhaftet. Die Leitung der DEK lag seit 1937 in den Händen eines deutsch-christlichen Juristen, der seit Kriegsbeginn vom Geistlichen Vertrauensrat unterstützt wurde. Dieser Vertrauensrat setzte sich zwar in Einzelfällen für die bedrängte Kirche ein, blieb aber insgesamt zu unkritisch und staatstreu. Von dort kam kein Protest gegen den Ausschluss getaufter Juden aus der DEK im Dezember 1941, auch nicht gegen das seit 1939 laufende nationalsozialistische Euthanasieprogramm. Bischof Wurm dagegen protestierte mehrmals gegen diese Tötung sogenannten „lebensunwerten Lebens“. Er wurde in dieser Zeit zu einem Sprecher der Bekennenden Kirche. Sein Ende 1941 gegründetes „Kirchliches Einigungswerk“ bildete nach 1945 einen wichtigen Grundstock für den Aufbau der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Zuerst veröffentlicht in:

75 Jahre Barmer Theologische Erklärung.
Eine Arbeitshilfe zum 31. Mai 2009
Verantwortlich für den Inhalt
Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland,
Amt der Union Evangelischer Kirchen in der EKD,
Amt der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands:
Dr. Vicco von Bülow, Dr. Martin Heimbucher, Dr. Mareile Lasogga,
Hannover 2009

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Kirchliches

„Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben“

Andacht bei der Pfingsttagung der Evangelischen Forschungsakademie am 18.05.2024 im Kloster Drübeck

Lesung: Jesaja 6,1-8

Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben.
Ich brauche ihre Schönheit und Erhabenheit.
Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt.
Ich will zu leuchtenden Kirchenfenstern hinaufsehen und mich blenden lassen von den unirdischen Farben.
Ich brauche ihren Glanz.
Ich brauche ihn gegen die schmutzige Einheitsfarbe der Uniformen.
Ich will mich einhüllen lassen von der herben Kühle der Kirchen.
Ich brauche ihr gebieterisches Schweigen.
Ich brauche es gegen das geistlose Gebrüll des Kasernenhofs und das geistreiche Geschwätz der Mitläufer.
Ich will den rauschenden Klang der Orgel hören, diese Überschwemmung von überirdischen Tönen.
Ich brauche ihn gegen die schrille Lächerlichkeit der Marschmusik.
Ich liebe betende Menschen.
Ich brauche ihren Anblick.
Ich brauche ihn gegen das tückische Gift des Oberflächlichen und Gedankenlosen.
Ich will die mächtigen Worte der Bibel lesen.

Ich brauche die unwirkliche Kraft ihrer Poesie.
Ich brauche sie gegen die Verwahrlosung der Sprache und die Diktatur der Parolen.
Eine Welt ohne diese Dinge wäre eine Welt, in der ich nicht leben möchte.

Der Schriftsteller Pascal Mercier hat diese Worte in seinem Bestseller-Roman „Nachtzug nach Lissabon“ (2006, S. 198) aufgezeichnet. Ein Abiturient, der sich selbst als ungläubig bezeichnet, bekennt sich in seiner Abitur-Rede zu erhabenen Kathedralen, zu schöner Orgelmusik und zu intimen Gebeten. Vor einigen Jahren ist der Roman mit Jeremy Irons in der Hauptrolle verfilmt worden – und diese Rede hat mich auch dort wieder beeindruckt.

Denn auch ich sehne mich nach solchen Erfahrungen, nach Erlebnissen, die es gerade nicht auf der Party am Wochenende oder am offenen Verkaufssonntag in der Einkaufspassage gibt. Einmal die Dinge überblicken, einmal mehr als dies alles sehen, einmal hinüberschauen in eine andere, ja in eine jenseitige Welt.

So wie es Jesaja getan hat. Der auf einer Wallfahrt nach Jerusalem in den Tempel gekommen ist. Seit Kindesbeinen hat er es immer wieder gehört. Dort oben wohnt Gott. Dort, im heiligen Tempel auf dem Zion berührt sein Gewand die Welt: Hier ist der Schemel seiner Füße.

Auch Jesaja und sein Volk können nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Der Prophet bekommt seinen Auftrag an einem Ort, den Gott selbst für sich als Wohnung erkoren hat. Er hätte es bestimmt auch draußen am Fluss oder unter einem Baum tun können. Aber wir Menschen brauchen Zeichen. Uns zuliebe, weil wir so sind, wie wir sind, zeigt sich Gott an besonderen Orten. Dort, wo sich nach biblischem Zeugnis Himmel und Erde berühren. Dort, wo sich Diesseits und Jenseits schneiden. Wer in Jerusalem vom Ölberg auf den Tempelplatz in Jerusalem blickt, hat vielleicht eine Ahnung davon.

Aber auch anderswo gibt es solche Orte, auch Kirchen, vielleicht hier in St. Vitus in Drübeck, vielleicht in der Stadt, in der Ihr wohnt oder die Ihr im Urlaub besichtigt habt. Kirchgebäude, die einem eine Ahnung davon vermitteln können, davon, dass in der Kirche nicht nur der Pfarrer predigt, sondern auch die Mauern und Steine. Davon, dass Kirchen ein Asyl für die letzten Dinge sind. Davon, dass Altäre Gemeinschaft stiften. Davon, dass Orgeln und Glocken Gott loben. Davon, dass Kunstwerke die Geschichte unserer Kultur erzählen. Davon, dass Kerzen erinnern und mahnen. Davon, dass Schmuck ein Ausdruck des Dankes ist für alle guten Gaben des Schöpfers. Davon, dass es so etwas gibt wie einen „heiligen Raum“.

Ja, das meine ich: dass es so etwas gibt wie einen „heiligen Raum“. 

Heiligen heißt: einen Unterschied machen, etwas aus den gewöhnlichen Dingen herausheben. Heilige Räume sind in diesem Sinne solche Räume, die ausgesondert, hervorgehoben, beiseitegesetzt sind. Sie haben eine eigene Aura, einen besonderen Geschmack, sie sind anziehend durch ihre Fremdheit, sie sind faszinierend, aber immer auch verunsichernd, manchmal sogar furchterregend. In Jesajas Vision kommt diese furchterregende Fremdheit gut zum Ausdruck: „Weh mir, ich vergehe!“


In der evangelischen Kirche haben wir unsere Schwierigkeiten mit der Idee heiliger Räume. Wir können uns nur schwer öffnen für die sinnliche Seite der Gotteserfahrung, wie sie Jesaja beschreibt: Er sieht Gott sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron, und er sieht den Saum von Gottes Mantel, der den Tempel füllt. Er sieht die Serafim bei Gott stehen. Er hört sie rufen: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll!“ Er spürt, dass Schwellen beben von der Stimme ihres Rufens. Er riecht und sieht den Tempel voller Rauch.
In solchen Schilderungen kommt zum Ausdruck, dass von Gott alle Heiligkeit herkommt und abhängig ist. Und dass Gott die Erfahrungswirklichkeit der Welt überschreitet. Er ist unberechenbar und unverfügbar.

Insofern ist es immer eine lächerliche religiöse Selbstüberschätzung, wenn Menschen – auch Pfarrer – fälschlich glauben, Gott stünde ihnen mit heiligen Räumen gewissermaßen zur Verfügung. Ein Gott, dessen sich Menschen zu bemächtigen wähnen, ist nichts als ein Götze. Weder der Tempel in Jerusalem, solange er bestand, noch irgendein christlicher Kirchenraum – kein noch so heiliger Raum – kann gewährleisten, dass in ihm tatsächlich das Heilige anwesend und erfahrbar ist.

1544 wurde das erste evangelische Kirchengebäude eingeweiht, die Schlosskirche in Torgau. Martin Luther hat zu ihrer Einweihung gepredigt. Und festgelegt, dass die Kirche für den Gottesdienst da sei. Und was das bedeutet. Nämlich: „Dass nichts anderes darin geschehe, denn dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang.“ Das heilige Wort macht also den heiligen Raum. Ohne Gott ist kein Raum heilig. Und deshalb kann jeder Raum heilig sein. In seiner Torgauer Einweihungspredigt hat Martin Luther gesagt: „Kann es nicht geschehen unterm Dach oder in der Kirchen, so geschehe es auf dem Platz unter dem Himmel, und wo Raum dazu ist.“ Jeder Raum kann ein heiliger Raum sein. Nämlich dann, wenn Gott in ihm mit uns redet durch sein heiliges Wort, und wir mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang.

Martin Luther ist von manchen so verstanden worden, als sei es völlig egal, wo sich die christliche Gemeinde zum Gottesdienst versammelt. Als bräuchten wir Evangelischen keine besonderen Kirchgebäude. Ich glaube das nicht. Ich glaube, dass gestaltete Kirchengebäude sich besser als Versammlungsräume der christlichen Gemeinde eignen als bloße Zweckräume wie Verwaltungszimmer oder Hotelsäle. Ich gehöre zu denen, die Kirchengebäude brauchen. Die sich nach Rastplätzen für ihre Seele sehnen, nach Freiräumen für ihr Denken, nach Oasen für ihr Gebet sowie nach Feierorten für ihr Leben. Auch ganz nicht-kirchliche Menschen suchen Kirchen in Situationen der Not, des Entsetzens und des Schreckens auf. Auch Menschen, die nicht Kirchenmitglieder sind, können anerkennen, dass Kirchengebäude „Seelen und Gedächtnis“ der Dörfer und Städte sind. Wir als Christen können das umso mehr.

Kirchen sind Versammlungsorte der christlichen Gemeinde, ja und noch viel mehr. Kirchen sind Schatzkammern des christlichen Glaubens. Sie sind Kraftorte. Sie sind gestaltete Räume. Sie sind Freiräume. Sie sind heilige Räume.

Und weil sie das sind,
möchte ich nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben.

Amen.

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Kirchliches

Würde. Auf gutem Grund

75 Jahre Grundgesetz

Am 23. Mai dieses Jahres wird das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 75 Jahre alt. Das ist auch für die christlichen Kirchen in Niedersachsen ein Grund zum Feiern, denn als Christinnen und Christen leben wir die Werte, auf denen unser Grundgesetz basiert. Und wir engagieren uns kritisch und konsequent für die Würde aller Menschen, Demokratie und eine soziale Gesellschaft. Das ist umso wichtiger, da aktuell grundlegende demokratische Errungenschaften in Frage gestellt werden und sich völkischer Nationalismus breit macht. „Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum HERRN“ (Jeremia 29,7). Dazu gehört auch das Engagement für das Grundgesetz, das „im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen“ damals wie heute dem Frieden dienen will (Präambel).

Mit dem Grundgesetz ist der Bundesrepublik ein großer Wurf gelungen. Es hat die Erfahrungen aus der Nazi-Diktatur aufgenommen und sich so als eine moderne Verfassung bewährt, die auch heute noch den guten Grund für unser gesellschaftliches Zusammenleben in Deutschland bildet. Es formuliert hochaktuelle Freiheits- und Gleichheitsrechte – und vor allem setzt es bei der „Würde des Menschen“ an, die „unantastbar“ ist (Artikel 1). Damit widerspricht es allen Versuchen, die Würde von einzelnen Menschen oder Gruppen abzuwerten.

Die Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachen hat deshalb in Kooperation mit den katholischen Bistümern in Niedersachsen die Kirchen- und Pfarrgemeinden dazu aufgerufen, sich anlässlich des Jubiläums an der Würdigung des Grundgesetzes zu beteiligen. Die Kampagne „Würde. Auf gutem Grund. 75 Jahre Grundgesetz“ stellt dazu hilfreiche Materialien zusammen. Die natürlich auch außerhalb von Niedersachsen verwendet werden können.

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Kirchliches

Theologie und Öffentlichkeitsarbeit

Nach 12 ½ Jahren im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Westfalen war es für mich Zeit für Neues. Seit dem 1. November 2023 bin ich Referent für Theologie und Öffentlichkeitsarbeit in der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen. Diese Konföderation hat nichts mit Star Wars oder dem amerikanischen Bürgerkrieg zu tun, sondern ist der Zusammenschluss der fünf evangelischen Kirchen auf dem Gebiet des Landes Niedersachsen. Sie vertritt die evangelischen Interessen gegenüber dem Land und übernimmt gemeinsame Aufgaben der beteiligten Landeskirchen. Im Dezember bin ich dann auch liturgisch in meine neue Stelle eingeführt worden.

Dazu meldete die Konföderation:

Dr. Vicco von Bülow (56) wurde von der Bevollmächtigen Dr. Kerstin Gäfgen-Track in sein neues Amt als Referent der Konföderation für Theologie und Öffentlichkeitsarbeit eingeführt. Der Gottesdienst stand unter dem Bibelwort aus Psalm 37,5: „Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohlmachen.“

Bei der Einführung assistierten Bischof Thomas Adomeit (Oldenburg), Kirchenrätin Daniela Fricke (Bielefeld) und OStR i.K. Dorothea Otte (Hannover).

Pastor von Bülow ist seit dem 1. November 2023 als Referent für die Bereiche Theologie und Öffentlichkeitsarbeit in der Geschäftsstelle der Konföderation zuständig. Der gebürtige Westfale war zuvor Referent für Theologie und Kultur im Kirchenamt der EKD und danach theologischer Dezernent im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Westfalen. Er beschreibt sich als Buchliebhaber, Ehemann, Jazzfan, Jogger, Kirchenhistoriker, Klassikverehrer, Ostfriesenteetrinker, Pastor und Pfarrer, Podcaster, Theologe, Vater (dreier Kinder), Wanderfreund und Whiskygenießer. Mit seinem Namensvetter Loriot ist er nur entfernt verwandt.

Auch die Internetseite reformiert-info nahm diese Meldung auf.

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Humoriges Persönliches

Wenn der Namensvetter 100 Jahre alt wird

„Aber man hat schon das Gefühl gehabt, wenn er sitzt und herumguckt, dass er immer alles genau beobachtet. Irgendwo musste er das Material für seine Filme und Sketche herbekommen.“

Zum 100. Geburtstag von Loriot hat mich das Kölner Domradio interviewt. Das Interview ist hier online zu finden.

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Kirchliches

Was wir brauchen

Predigt für die Ev.-Luth. Martini-Kirchengemeinde Gadderbaum
am 5. November 2023
im Vortragssaal der Kunsthalle Bielefeld

Liebe Gemeinde!

Respekt!

Heute hat der Gottesdienst nicht nur bereits um Punkt 10 Uhr begonnen statt wie in unserer Gemeinde üblich um halb elf. Wir versammeln uns auch nicht in der Stephanuskirche, sondern in der Kunsthalle.

Andere Zeit, anderer Raum. Und Sie sind da! Wie wundervoll. Genau das habe ich heute morgen gebraucht.

Was wir brauchen“ – so heißt die Ausstellung, die in den Etagen über uns zu sehen ist. Vor allem mit Ausstellungsstücken von Oscar Tuazon.

Oscar Tuazon ist ein US-amerikanischer Installationskünstler und Bildhauer, der in Los Angeles lebt. Er wurde 1975 geboren. Die renommierte Internetseite Artfacts.net zählt ihn zu den 1000 bedeutendsten Künstlern weltweit und bezeichnet ihn als „ultra-contemporary“, also als ultra-zeitgenössisch.

Auf Wikipedia steht: „Die raumgreifenden Konstruktionen von Oscar Tuazon befinden sich auf der Schnittstelle zwischen Skulptur, Architektur und Design. Häufig verwendete Materialien sind Holz, Metall, Stein und Beton. “

Mit einigen seiner Werke ist Tuazon gerade sozusagen „auf Europatournee“. Zunächst in der Kunsthalle Bergen, dann im Kunst Museum Winterthur, und jetzt eben in Bielefeld – und das noch eine Woche lang.

Auch wenn Sie die Ausstellung selbst noch nicht besucht haben, haben Sie eines seiner Kunstwerke bereits gesehen. In der Eingangshalle steht mitten im Raum „Where I lived and What I Lived For“ (2007), ein Anklang an ein früheres Werk, das Native American Pavillon. Tuazon fühlt sich den uramerikanischen Bewohnern der US-Westküste sehr verbunden und hat viel von ihrem ganzheitlichen Kunstverständnis übernommen:

Mich inspiriert nach wie vor eine erweiterte Vorstellung von Kultur, wie sie in indigenen Communitys vorherrscht, das heißt ein Konzept, das neben bildender Kunst auch Musik, Nahrung, Sprache und Zeremonien einschließt.

Zu dem, was wir ganz grundlegend brauchen, gehört für Oscar Tuazon das Wasser. Die Water School in der ersten Etage ist ein sichtbares Zeichen dafür.

Mit dieser Installation hat sich Tuazon am politischen Protest der sogenannten Water Protectors gegen eine Wasser-Pipeline durch indigenes Land beteiligt. [Alle Zitate von Oscar Tuazon nach dem Gespräch mit Benedikt Fahrschon, Lynn Kost, Christina Vegh und Axel wieder, das unter dem Titel „Lernen, bauen, denken“ im Katalog zur Ausstellung veröffentlicht wurde.]

Als Künstler habe ich manchmal das Gefühl, in Isolation zu arbeiten – und hier waren 10 000 Menschen, die sich zusammengetan hatten, um temporäre Gebilde zu errichten, mit denselben Mitteln, die auch ich nutze. In Umweltbewegungen unter indigener Führung gilt Kultur nicht als zweitrangig gegenüber politischer Organisation, sondern als zentraler Baustein des Gesamtprojekts.

Wasser ist grundlegend für alles Leben auf der Erde. Auch die Bibel weiß das – wie es schon die Schöpfungsgeschichte zeigt, die wir als biblische Lesung gerade gehört haben. Der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser, dem einzigen Element, dass sich im Tohuwabohu schon identifizieren ließ.

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde; ihm verdanken sich der Kosmos, die Biosphäre, das organische Leben und schließlich der Mensch,

Zunächst einmal werden die Räume geschaffen, in den dann Leben entstehen kann. Ein durchaus moderner Gedanke. Die aktuellen Debatten um den Naturschutz befassen sich neben dem Artenschutz auch mit dem Schutz ganzer Lebensräume, den Biotopen. Die Erkenntnis hat sich durchgesetzt, dass man die Lebens-Räume schützen muss, wenn man das Leben schützen will.

Dazu gehört auch der Klimaschutz. Darüber sind sich auch irgendwie alle einig, aber ob wir genug dafür tun und wie man darauf aufmerksam machen kann, darüber schon wieder nicht.

Gerade radikalere Gruppen treffen mit ihren Aktionen oft auf Unverständnis, seien es nun Straßenblockaden oder Attacken auf Kunstwerke. Oscar Tuazon dagegen zeigt sich als politischer Künstler, eben als „ultra-zeitgenössisch“:

Kunst ist eine Sphäre, in der wir sehr kritisch über den Abfall nachdenken müssen, den Ausstellungen, Reisetätigkeiten und die Kunstwerke selbst hinterlassen. Deshalb sind Klimaproteste, die sich berühmter Kunstwerke bedienen – mögen diese Aktionen auch viele Menschen wütend machen -, so wichtig und effektiv: Sie instrumentalisieren die symbolische … Macht eines Kunstwerks.

Tuazons Kunstwerke wie zum Beispiel die Skulptur „Numbers“ (2012) als Ziele von Kartoffelbrei-Attacken? Ich weiß nicht, wie die Kunsthalle Bielefeld darauf reagieren würde…

Wenn Sie sich seinen Skulpuren nähern, um sie herumgehen, werden Sie auf jeden Fall neue Perspektiven entdecken. Zum Beispiel auf die dahinter an den Wänden angebrachten Kunstwerke (von Richard Serra und anderen). Aber auch darauf, wie wir Räume wahrnehmen.

Das ist für mich das Spannendeste an der manchmal etwas spröden Konzeptkunst von Oscar Tuazon. Sein Verständnis von Räumen und wie man sie nicht nur nutzen, sondern auch prägen kann.

Ich schaffe Räume für Menschen. Ich mache Platz, damit etwas anderes passieren kann. … Einen Raum zu betreten, ist nicht nur … eine Erfahrung für einen Betrachter, sondern auch eine soziale und politische Handlung, die ihrerseits die Bedingungen des Raums schafft. Du machst den Raum.

Am deutlichsten wird das in seinem zentralen Ausstellungsstück in der Kunsthalle:

Dem „Building“, das speziell für diesen Raum in Bielefeld entworfen und hergestellt wurde. Site-specific art nennt das die Kunstexperten.

Maßstäblich verkleinert stellt das „Building“ das Gerüst eines Hauses in den amerikanischen Wäldern dar, das Tuazon mit seiner Familie bewohnt, wenn er nicht in L.A. ist. Entscheidend ist aber für ihn nicht das Gerüst, sondern das, was darinnen passiert, das, was Menschen daraus machen.

Man kann kaum ein schöneres Geschenk machen, als zu sagen: „Hier ist die Arbeit, sie ist unvollendet; es gibt noch so viel, was du machen kannst.“

In der Mitte steht ein Feuerofen, um den herum sich Menschen versammeln können.

Und deshalb sind als einziges konkretes Einrichtungsstück im „Building“ Bänke installiert. Die Neue Westfälische führt auf ihnen Kunstgespräche. Die Universität Bielefeld und die Technische Hochschule OWL führen dort Lehrveranstaltungen durch, die diese Bänke zu Hörsaalbänken machen.

Bänke bringen Menschen zusammen, das wissen wir in der Martini-Gemeinde spätestens seit unserem Projekt „Plauderbank“.

Und es gibt noch weitere kirchliche Parallelen zu Tuazons Raumverständnis. Oft wird ja der Kirchenraum als heiliger Raum für den Gottesdienst verstanden.

Der evangelische Kirchbauexperte Thomas Erne hat auf biblische Vorbilder verwiesen:

Das sind Traditionslinien, die sich bis ins Alte Testament verfolgen lassen. Dort finden sich die räumliche Gegenwart Gottes im repräsentativen Tempel und die kommunikative Gegenwart Gottes in der Liturgie der Synagoge. …Die Synagoge ist ein Funktionsraum, dessen Bedeutung in der Ermöglichung der liturgischen Feier aufgeht.

Anders als die katholische Theologie haben wir Evangelischen einen zumeist nüchternen Blick auf den Raum der Kirche:

Kirchengebäude sind bis heute in evangelischer Perspektive äußerer Rahmen für die gottesdienstliche Zusammenkunft und letzten Endes entbehrlich. Deshalb kann Gottesdienst auch gefeiert werden „auf einem Platz unter dem Himmel, und wo Raum dazu ist“, wie es Martin Luther einmal gesagt hat.

Auf einem Platz unter dem Himmel, oder wo Raum dazu ist. Die feiernde Gemeinde macht jeden Raum zu einem Gottesdienstraum, nicht der Kirchraum umgekehrt die feiernde Gottesdienstgemeinde.

Dieses Motiv einer Unabhängigkeit der christlichen Religion von Räumen ist in der Evangelischen Theologie ein Grundkonsens von Luther über Schleiermacher bis heute: „Die Umgrenzung des Raumes ist nur eine äußere Bedingung, mithin Nebensache“.

Heilig ist ein Raum, auch ein Kirchenraum, also nicht einfach so, durch Tradition oder durch ein bestimmtes Architekturkonzept. Heilig ist ein Raum, auch ein Kunsthallenhörsaal, dadurch, dass Menschen ihn zum Gottesdienst nutzen. Sie haben es vielleicht noch nicht gemerkt, aber wir befinden uns gerade in einer Kirche.

Liebe Gemeinde,

in den letzten Monaten hat es viele Gemeindeversammlungen zum „Aufbruch 2035“ gegeben. Dem Veränderungsprozess der Kirche in Bielefeld. Der nötig ist, weil wir auch in Bielefeld immer weniger Kirchenmitglieder und immer weniger Geld haben. Und weil die kleiner werdenden Kirchengemeinden und geringer werdenden Finanzmittel nicht mehr zu den vielen Gebäuden passen, die wir noch haben. Und auch wenn ich durchaus mitbekommen habe, wie anstrengend die Zusammenarbeit mit den anderen Gemeinden in der Innenstadtregion manchmal ist, ich halte sie für unvermeidbar.

Wir werden Ressourcen miteinander teilen müssen – und zu diesen Ressourcen gehören auch unsere Räume. Es gibt keinen an sich heiligen Raum Süsterkirche, die Altstädter Nicolaikirche ist trotz des schönen Altars nicht per se heilig und die Neustädter Marienkirche ist vielleicht dann am heiligsten, wenn sie als Vesperkirche oder für geistliche Musikkonzerte genutzt wird. Und so sehr ich die Stephanuskirche mit ihrem Zeltdach und den wunderschönen Buntglasfenstern liebe – auch sie ist vor allem ein Funktionsraum, dessen Bedeutung darin besteht, dass er die Feier eines Gottesdienstes ermöglicht. Natürlich sieht die Stephanuskirche ganz anders aus als das „Building“ von Oscar Tuazon. Aber im Endeffekt ist auch sie nur ein äußerliches Gerippe, in dem das Entscheidende geschieht durch die Menschen, die sich darin versammeln.

Zum Glück tun sie das. Zum Glück tun wir das. Und insofern sind wir als Gemeinde, wir, die wir heute hier in der Kunsthalle versammelt sind, wir sind das, „was wir brauchen“, um den Titel der Ausstellung noch einmal aufzunehmen.

Und vielleicht nehmen wir auch noch eine Anregung von Oscar Tuazon mit auf:

Kann ich zum öffentlichen Raum etwas Nützliches beitragen? Das scheint mir ein guter Ansatzpunkt zu sein.“

Ja, das scheint mir ein guter Ansatzpunkt auch für uns in der evangelischen Kirche, für uns in der Martini-Gemeinde zu sein: Können wir zum öffentlichen Raum etwas Nützliches beitragen? Können wir für unsere Bielefelder Gesellschaft etwas Gutes tun? Oder mit der Bergpredigt gesprochen: Können wir Salz der Erde und Licht der Welt sein? Ich bin fest davon überzeugt, dass wir das können. Und deshalb ist mir nicht bange um die evangelische Kirche in Bielefeld und nicht um die Martini-Gemeinde, ob nun im Blick auf 2035 oder darüber hinaus. Wir können nicht so bleiben, wie wir sind. Wir müssen nicht so bleiben, wie wir sind. Wir werden nicht so bleiben, wie wir sind.

Wir werden neue Wege gehen. Und auf die will ich vertrauen.

Amen.