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Abendmahl_digital

Ein Beitrag zu kirche_digital für die Landessynode 2022 der Evangelischen Kirche von Westfalen. Grundlage für den gleichnamigen Podcast im Gespräch mit Pfarrer Moritz Gräper.

1. Lockdown Ostern 2020
Im Frühjahr 2020 überraschte die Corona-Pandemie die Gesellschaft und auch die Kirchen. Kurz vor Ostern wurde ein deutschlandweiter Lockdown ausgesprochen, in einigen Bundesländern wurden Gottesdienste explizit verboten, in anderen Bundesländern – zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen – verzichteten die Kirchen auf Bitten des Staates darauf, Präsenzgottesdienste durchzuführen. Das digitale Streamen von Gottesdiensten blieb aber möglich. Manche Gemeinden waren gut darauf
vorbereitet, andere gingen die Aufgabe spontan mit viel Engagement an. Schnell kam die Frage auf: Was ist mit dem Abendmahl? Am Gründonnerstag? Am Ostersonntag? Geht das auch digital? In einigen Landeskirchen wurde explizit von der online-Feier des Abendmahls abgeraten, andere ermunterten explizit dazu. In Westfalen gab es keine kirchenleitende Vorgabe. Ich selbst habe damals gedacht, dass ein zweiwöchiges Abendmahlsfassten zumutbar wäre. Schließlich ist nach evangelischem Verständnis ein Wortgottesdienst genauso viel wert wie ein Abendmahlsgottesdienst. Und vielleicht wäre nach einer Fastenzeit das Abendmahl den Christinnen und Christen um so wertvoller geworden.
Nun dauert die Fastenzeit nicht nur zwei Wochen, sondern zwei Jahre. Es geht nicht mehr um die Frage, was in der Notsituation erlaubt, möglich oder sinnvoll ist beziehungsweise was nicht erlaubt, nicht möglich oder nicht sinnvoll ist, sondern um die grundsätzliche Frage: Wenn digitale Gottesdienste mehr und mehr zum regulären Gottesdienstangebot gehören, gilt das dann auch für das digitale Abendmahl?


2. Kein neues Thema
Im Frühjahr 2020 gab es schnell eine intensive Debatte, ob so ein digitales Abendmahl überhaupt möglich sei. Interessanterweise wurde die Auseinandersetzung oft so geführt, als seien die theologischen Fragen völlig neu.
Dabei gab es schon vorher Überlegungen, auf die man hätte zurückgreifen können. Der alte Streit zwischen den griechischen Philosophen Platon und Aristoteles, in welchem Verhältnis Bilder und Wirklichkeit zueinander stehen. Die Auseinandersetzung der Reformatoren Luther und Zwingli darüber, wie denn nun die Präsenz von Leib und Blut Christi in den Elementen Brot und Wein beim Abendmahl zu denken sei. Aber auch jüngere Überlegungen zu der Frage, was die Digitalisierung mit der Gesellschaft macht. Auch in der Kirche gab es Menschen, die dazu vorgedacht hatten. Aber die Debatten darüber blieben zumeist im Raum weniger digitaler Insider. Das ist nun anders: Die Frage berührt weite Kreise der Kirche. Und es gibt noch keinen Konsens, wie die Antwort darauf lautet.
Manche haben „die Kirche“ in der Pandemie kritisiert, dass sie geschwiegen habe. Ich glaube, dass das auch für die wissenschaftliche Theologie gilt. Und angesichts einer Jahrhundertkrise dürfen auch Theologie und Kirche erst einmal ratlos sein.
Aber wir sollten uns nun gemeinsam beraten. Ich freue mich über alle, die an so etwas wie einem gelingenden Praxis-Theorie-Diskurs beteiligt sind. Und nicht an erfahrungsfreier deduktiver Theologie oder an theorieblinden Praxisexperimenten.


3. Wichtige Fragen
Nach meiner Beobachtung gibt es eine Reihe von wichtigen Fragen, die geklärt werden müssen. Und interessanterweise hat die erste Frage beim digitalen Abendmahl mit dem Abendmahl an sich zu tun.

3.1. Abendmahl und Gemeinschaft
Was ist eigentlich das Abendmahl? Schon vom Neuen Testament her gab es unterschiedliche mögliche Schwerpunktsetzungen. Im 20. Jahrhundert hat sich besonders der Gemeinschaftsaspekt im Abendmahl ins Zentrum gestellt. Und auch beim digitalen Abendmahl wurde zunächst vor allem über die Frage diskutiert, ob es online überhaupt eine Gemeinschaft geben
könne. Einige sagten, dass sie digital Gemeinschaft erfahren hätten und dass es deshalb selbstverständlich auch ein Online-Abendmahl gebe. Andere erwiderten: Für die Feier der Gemeinschaft, oder: für die Feier in der Gemeinschaft reiche auch das Agapemahl. Das Abendmahl brauche mehr als nur Gemeinschaft, nämlich die Präsenz Christi in den Elementen, also in der Materie.

3.2. Abendmahl und Präsenz
Es gibt verschiedene Formen eines medial übertragenen Abendmahls (Übertragungsabendmahl, z.B. im Fernsehgottesdienst – Hybrid-Abendmahl in Kirche und am Bildschirm – Konferenz-Abendmahl z.B. im Zoom-Gottesdienst u.a.). Vorausgesetzt wird bei allen Formen, dass beim digitalen Abendmahl tatsächlich Brot und Wein oder Traubensaft gegessen und getrunken werden. (Es geht hier also nicht um reine Avatar-„Abendmahle“ z.B. in Second Life. Dort fehlt jegliche Materialität der Elemente.)
Dann gibt es vor allem zwei Fragen, die geklärt werden müssen:
-Ist eine raumzeitliche (Ko-)Präsenz der versammelten Gemeinde nötig?
– Ist eine raumzeitliche (Ko-)Präsenz zu den Elementen und zu ihrer Einsetzung nötig?

Es gibt Theolog:innen, die beide Fragen bejahen. Für sie ist ein digitales Abendmahl nicht möglich, allenfalls in einer „Schwundstufe“ als Agapemahl.
Ich gehöre zu denen, die ein digitales Abendmahl für möglich halten. Und zwar nicht nur, weil es praktiziert wurde, sondern auch, weil es theologisch denkbar ist. Darüber muss aber gestritten werden. Und wer die Geschichte der evangelischen Theologie und Kirche anschaut, merkt, dass der Streit über das digitale Abendmahl gut evangelisch ist: Vielleicht ist über kein
Thema so viel theologisch gestritten worden wie über das Abendmahl – von der Trennung zwischen Luther und Zwingli 1529 in Marburg bis zur Debatte über das Abendmahl für Kinder und mit Traubensaft in der EKvW zuletzt 2015 bis 2019.

3.2.1. Ist eine raumzeitliche (Ko-)Präsenz der versammelten Gemeinde nötig?
Schon die Liturgie der traditionellen Abendmahlsfeier zeigt auf, dass das Abendmahl theologisch Zeit und Raum überschreitet: „Darum preisen wir dich mit allen Engeln und Heiligen und singen vereint mit ihnen das Lob deiner Herrlichkeit.”
Wer online-Gottesdienste mitgefeiert hat, wird zweierlei erfahren haben: Es gibt Gemeinschaft der versammelten Gemeinde in dieser digitalen Form. Und: Es ist eine defizitäre Gemeinschaft. Das gilt auch für das digitale Abendmahl: Es fehlt etwas.
Aber es ist zu Recht darauf hingewiesen worden (u.a. von Matthias Kreplin), dass auch das traditionelle Präsenz-Abendmahl defizitär war und ist: Angefangen davon, dass es nicht mehr wie in biblischen Zeiten ein Sättigungsmahl am Abend ist, bis hin dazu, dass die verbreitete Form des Wandelabendmahls auch nur eine reduzierte Gleichzeitigkeit ist. Und umgekehrt ist trotz aller reduzierten Nähe in der digitalen Variante in vielen online-Varianten eine stärkere Interaktion möglich, sind Kameras
so nah an Gesichtern, dass Nähe empfunden wird. Und rezeptionsästhetisch ist diese Empfindung von Nähe durchaus auch
theologisch bedeutsam.

3.2.2. Ist eine raumzeitliche (Ko-)Präsenz zu den Elementen und zu ihrer Einsetzung nötig?
Die Einsetzung von Brot und Wein als Leib und Blut ist beim online-Abendmahl medial vermittelt. Und ebenso gilt doch: „Entscheidend für eine stiftungsgemäße Abendmahlsfeier ist nach evangelischem Verständnis, dass das (biblisch) bezeugte Wort der Zusage Christi erklingt und von allen, die es kommunizieren, gehört bzw. ‚verstanden‘ werden kann“ (Jochen Arnold). Das ist im digitalen Abendmahl möglich.
Sicher bleibt im derzeitigen Verständnis von digitalen Abendmahlsformen manche Frage nach der genauen Präsenz Christi in den Elementen offen. Aber das, was die Leuenberger Konkordie zur Überwindung der Gegensätze zwischen reformiertem und lutherischem Abendmahlsverständnis gesagt hat, gilt auch für die Frage nach der Präsenz Christi im digitalen Abendmahl. In Artikel 19 der Leuenberger Konkordie heißt es: „Die Gemeinschaft mit Jesus Christus in seinem Leib und Blut können wir nicht vom Akt des Essens und Trinkens trennen. Ein Interesse an der Art der Gegenwart Christi im Abendmahl, das von dieser
Handlung absieht, läuft Gefahr, den Sinn des Abendmahls zu verdunkeln.“
Von diesem Akt des Essens und Trinkens her gedacht: Nach lutherischem Verständnis werden Brot/Wein (Traubensaft) erst im Akt des Glaubens (des Empfängers!) zu Fleisch/Blut. Das ist ein enormer Schritt. Kann der Glaube nicht auch den Schritt gehen und über die digitale Distanz hinweg Christus als präsent empfangen? So groß scheint dieser zweite Schritt im Vergleich zum ersten gar nicht mehr zu sein.

4. Noch wichtigere Fragen
Seit dem Beginn der Pandemie scheint das Abendmahl generell an Bedeutung verloren zu haben. In den Zeiten ohne Präsenzgottesdienste und in denen mit einschränkenden Regeln (Maske, Abstand, Testung) gab es in der EKvW viele Fragen nach dem Singen und wie es trotzdem möglich sein könnte. Es gab ebenfalls viele Fragen nach dem Segen mit Handauflegen und wie er trotzdem möglich sein könnte, aber nur wenige Fragen nach dem Abendmahl und wie es trotzdem möglich sein könnte. Beobachter haben eine „eucharistische Appetitlosigkeit“ diagnostiziert. Die zentrale Frage scheint mir derzeit nicht zu sein, ob ein digitales Abendmahl sinnvoll oder gar erlaubt sein kann, sondern wie die Christ:innen in unseren Gemeinden überhaupt wieder entdecken, dass Abendmahl sinnvoll sein kann und gut tut, dass sie wieder Appetit auf das Abendmahl
bekommen und dadurch entdecken, was an Gemeinschaft, was an Segen, was an Heil im Abendmahl liegen kann.
Wenn das digitale Abendmahl dazu beiträgt, dann halte ich es nicht nur für erlaubt, sondern für erwünscht. Nicht als einzige, aber als eine Form des Abendmahls. Was mir aber wichtig ist: Dass wir wissen, was wir tun. Und dass wir das, was wir tun, würdig tun. Was würdige Formen des digitalen Abendmahls sind, das lohnt sich m.E. zu erproben.

Weiteres zum Thema:

  • Digital – parochial – global?! Ekklesiologische Perspektiven im Digitalen Workshopreihe der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Kooperation mit der Evangelischen Akademie im Rheinland und der Evangelischen
    Akademie der Pfalz: Workshop II – Abendmahl, 29. Januar 2021, epd-Dokumentation Nr. 11/2021.
  • Christoph Markschies, Gottesdienst und Medialität (Vortrag bei der Liturgischen Konferenz, Hildesheim, 6. September 2021), in: epd-Dokumentation Nr. 38/2021
  • Christoph Schrodt, Abendmahl: digital. Alte und neue Fragen – nicht nur in Zeiten der Pandemie, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 118 (2022), 495-515
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Kirchliches

#kirche_digital

Ein neuer Podcast zu Kirche_digital: Was soll, kann und muss Kirche in sozialen Medien tun? Was bringt die Netzwerkidee für unser Verständnis von Kirche? Kann es Abendmahl auch per Videocall geben? Wie genau ist es mit der Präsenz und Gemeinschaft im digitalen Raum? Und was können wir empirisch schon über digitale Kirche wissen? Wie ist das Ganze theologisch zu verstehen? Diesen und anderen Fragen nähern wir uns im Auftrag der Landessynode der Evangelischen Kirche von Westfalen dem Thema angemessen in einem Podcast. Dazu gibt es ein Papier, das wichtige inhaltliche Eckpunkte festhält.

Wir wollen mit unseren Gedanken einen Beitrag dazu leisten, Digitalität und Kirche konstruktiv zusammen zu denken und theologisch zu reflektieren. So wie Kirche mehr ist, als sonntags um 10:00 Uhr, wenn die Glocken läuten, ist Digitalität eben auch mehr als nur Internet, Apps und technischer Schnickschnack. Wir sind inmitten von digitalem Leben und Wandel und unsere Aufgabe ist somit nicht, uns für oder gegen „das Digitale“ zu entscheiden, sondern die zugrundeliegenden Dynamiken des digitalen Wandels zu verstehen und zu lernen, diese Dynamiken für uns zu gestalten und zu nutzen.

Dieser Podcast wurde im Auftrag der Evangelischen Kirche von Westfalen vorbereitet und aufgenommen von Jan-Dirk Döhling, Moritz Gräper, Andreas Hahn, Christine Jürgens, Bjarne Thorwesten und mir.

Musik: Hans-Werner Scharnowski
Titel und Abspann: Dennis Mohme
Artwork | Fotos | Produktion: Lukas Pietzner

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Nach Gott fragen angesichts der Pandemie

Die Corona-Pandemie hat erhebliche Auswirkungen auch auf die Kirchen und ihre theologischen Äußerungen. Mancher Vorwurf über „das Schweigen der Bischöfe“ meint die ganze Kirche und vermisst öffentliche Deutungen durch Kirche und Theologie.

Der von Annette Kurschus, Traugott Jähnichen und mir herausgegebene Band „Nach Gott fragen angesichts der Pandemie. Von Gott reden – mit Gott reden“ (Luther-Verlag Bielefeld 2022, 164 Seiten, Paperback, 14,95€, ISBN 978-3-7858-0808-5) dokumentiert theologische Äußerungen aus der Evangelischen Kirche von Westfalen in den Jahren 2020-2022, die deutlich machen: Krisenerfahrungen theologisch zu deuten heißt nicht, Antworten auf alle Fragen zu wissen, sondern die Frage nach Gott als eine eigene Perspektive in die Öffentlichkeit einzubringen. Von Gott reden heißt vor allem: nach Gott fragen und mit Gott reden.

Ulrich Körtner schreibt in seiner Rezension im Magazin zeitzeichen: „Warum also weiter von Gott reden? Wie von Gott und wie zu ihm reden?Mit diesen Fragen setzen sich die Beiträge des vorliegenden Bandes redlich auseinander […]. Sein Ziel ist es, das Gespräch in den Gemeinden und Kirchenkreisen anzustoßen“.

Harald Schroeter-Wittke hat den Band auf evangelisch.de rezensiert. Er schließt mit dem Lob: „So darf dieses Buch mit Fug und Recht ein theologisches Kompendium angesichts der jüngsten Corona-Erfahrungen genannt werden, das hoffentlich viele Menschen erreicht und sie ebenso zu begeistern vermag wie mich.“ 

Inhalt:

Annette Kurschus – Vorwort. Gott in der Pandemie
Traugott Jähnichen / Vicco von Bülow – Nach Gott fragen und mit Gott reden. Theologische Herausforderungen im Kontext der Corona-Pandemie
Annette Kurschus – Die ernsthafte Frage nach Gott
Annette Kurschus – Die schöpferische Kraft des Geistes. Theologische Zeitansage
Ständiger Theologischer Ausschuss der Evangelischen Kirche von Westfalen – Die Frage nach Gott in der Pandemie. Krisenerfahrungen theologisch deuten
Thorsten Moos – Die Frage nach Gott und die theologische Fatigue in Zeiten der Pandemie
Ralf Stolina – Beten
Carsten Haeske – Das gottesdienstliche Gebet – und wie Corona es verändert hat
Martin Treichel – Ein Gott, der Hilfe braucht. Weihnachtspredigt in schlimmen Zeiten

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Kirchliches

In jeder Hinsicht Wohlergehen und Gesundheit

Ich wünsche dir in jeder Hinsicht Wohlergehen und Gesundheit, so wie es deiner Seele wohl ergeht. (3. Johannes 2)

Monatsspruch Mai 2022

„Lieber Opi, wie geht es Dir? Mir geht es gut.“ Der Klassiker auf den Urlaubspostkarten früherer Jahre. Noch vor den Ferienerlebnissen an der Nordsee oder im Schwarzwald ging es ums Wohlergehen des daheimgebliebenen Großvaters (oder der Großmutter).

Der 3. Brief des Johannes an seinen Freund Gaius ist kaum länger als eine Postkarte – und auch er beginnt so.

Auch wenn Urlaubspostkarten etwas aus der Mode gekommen sind und zumindest meine Kinder ihre Großeltern live per WhatsApp informieren – den Wunsch des Johannes finde ich immer noch richtig klasse: Da meint es mal jemand richtig gut mit mir. In jeder Hinsicht soll es mir wohl ergehen. Weil das auch heute offensichtlich einen Nerv trifft, findet sich dieser 2000 Jahre alte Wunsch heutzutage auf allerlei bunten Genesungs-, Geburtstags- oder sonstigen Glückwunschkarten.

Denn wer wünscht sich das nicht? „In jeder Hinsicht Wohlergehen“. Wobei Johannes voraussetzt, dass es Gaius seelisch schon gut geht. Dazu soll auch die körperliche Gesundheit kommen. Aber was auch immer zuerst kommt, der Körper oder die Seele, eins ist klar: Beide können nicht ohne einander.

Tue deinem Körper etwas Gutes, damit deine Seele Lust hat, darin zu wohnen.“ Teresa von Avila wird das zugeschrieben. Seelisches Wohlergehen gibt es nicht, ohne dass es dem Körper wohl ergeht. Und ich habe eine Mitverantwortung dafür.

Wie gehe ich mit meinem Körper um?
Halte ich mich fit? Ein Spaziergang an der frischen Luft dient nicht nur dem körperlichen Wohlbefinden, er tut rundum gut.
Esse ich maßvoll, ausgewogen und gesund? Gönne ich meinem Körper ausreichend Schlaf? Tanke ich auf, indem ich meine Lieblingsmusik höre oder selber mache?

Erlaube ich mir, einfach mal so loszulachen? Kinder lachen im Schnitt etwa 400-mal täglich, Erwachsene nur noch 15-mal. Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder…“ (Matthäus 18,3).

Das erinnert mich daran, wie wichtig es ist, mir die Lebensfreude zu erhalten – gerade dann, wenn mich die Sorge für andere belastet. Für meine Familie, für meinen Freundeskreis, vielleicht auch für meine Firma oder meine Kirche. Aber nicht nur für meinen nächsten Umkreis, sondern auch für die, die mir etwas ferner stehen.

Das war auch schon im 3. Johannesbrief so. Direkt nachdem Johannes seinem Freund Gaius Wohlergehen wünscht, lobt er ihn für sein Verhalten: Mein Lieber, du handelst treu in dem, was du an den Brüdern tust, zumal an den fremden“.
Was tue ich für meine fremden Geschwister in dieser Welt?
Für die Flüchtlinge, die immer noch im Mittelmeer umkommen. „Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt.“
Für die Christinnen und Christen, die wegen ihres Glaubens benachteiligt und verfolgt werden.
Für die Menschen, denen der menschengemachte Klimawandel die natürlichen Lebensgrundlagen zerstört.
Mein Wohlergehen hängt mit ihrem Wohlergehen zusammen. Ich will mich so verhalten, dass mein Wunsch nach ihrem Wohlergehen nicht nur ein Spruch auf einer bunten Karte bleibt.

Für „Ein Weggeleit 2022“ der Männerarbeit der Evangelischen Kirche von Westfalen

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Kirchliches Wissenschaftliches

Volkskirche ja – aber wie?

Das Konzept der „Volkskirche“ steht zunehmend in der Diskussion. Insbesondere vor dem Hintergrund abnehmender Kirchenmitgliedschaft stellen sich Fragen nach seinen Ursprungsideen und der gesellschaftlichen Rolle einer solchen Volkskirche, deren diakonisches Handeln und religiöse Dienstleistungsangebote gleichwohl in der Öffentlichkeit weiterhin hoch im Kurs stehen.

Am 31. März und 1. April 2022 lud die Kommission für kirchliche Zeitgeschichte der Evangelischen Kirche von Westfalen dazu ein, gesellschaftlich relevante Dimensionen des komplexen Untersuchungsgegenstands „Volkskirche“ in einem historischen Zugriff auszuloten.

Zu Beginn konnte ich die Teilnehmer:innen (wenn auch coronabedingt nur aus der Quarantäne und vertreten durch Archivleiterin Ingrun Osterfinke) begrüßen:

Im Namen der Evangelischen Kirche von Westfalen und als Vorsitzender der landeskirchlichen Kommission für Kirchliche Zeitgeschichte begrüße ich Sie sehr herzlich zu unserer Tagung über das „Modell Volkskirche“.

Die Tagung, so heißt es im Einladungsflyer, „will in einem historischen Zugriff gesellschaftlich relevante Dimension des komplexen Untersuchungsgegenstands ‚Volkskirche‘ ausloten“. Das wollen wir auf verschiedenen Wegen gemeinsam tun.

  • Wir wollen uns dem Begriff „Volkskirche“ nähern. Im Flyer haben Sie die Trias des Praktischen Theologen Kristian Fechtner gelesen, der Volkskirche als „Strukturbegriff“, als „Praxisbegriff“ und als „Konzeptbegriff“ versteht.[1] Wie erweist sich diese Differenzierung als tauglich zum Verstehen gegenwärtiger und historischer Phänomene?
  • Vom kanadischen Wissenschaftstheoretiker und Sprachphilosophen Ian Hacking stammt die Erkenntnis: „Begriffe haben Erinnerungen an Ereignisse, die wir vergessen haben.“[2] Welche Ereignisse sind im Begriff Volkskirche angelegt? Welche Zeitphasen, welche Personen, welche Gremien sind unseres Erinnerns wert?
  • Kirchengeschichte ist immer dann besonders ertragreich, wenn sie ereignis- und theologiegeschichtliche Ansätze miteinander verbindet. Deshalb sollen theologische Konzeptionen – und ihre Kritik! – im historischen Kontext analysiert werden. Um den theologischen Binnenraum zu verlassen, sollen auch juristische und soziologische Sichtweisen zu Wort kommen.
  • In einem Essay zur Kirchlichen Zeitgeschichte im jüngsten Heft der Theologischen Literaturzeitung wird von „der geradezu erdrutschartigen Erosion der Volkskirche“[4] gesprochen. Wie gehen diejenigen, die diese Kirche gegenwärtig leiten, mit dieser Situation um? Dazu werden in einer Podiumsdiskussion Leitende Geistliche aus verschiedenen Regionen Deutschlands befragt. Und den evangelischen Binnenraum verlassen wir mit einem Vertreter der katholischen Kirche. Sie alle machen in besonderer Weise deutlich, dass die „Volkskirche“ auch in einer veränderten Form Thema für die Kirche heute ist.

Ich möchte meine Begrüßung nutzen, um Schlaglichter auf zwei Theologen aus der Kirchengeschichte zu werfen, die ich aus unterschiedlichen Gründen für beachtenswert halte.

Von dem einem Theologen stammt das Zitat: „Bei uns ist die Gestalt der ‚Volkskirche‘ die überkommene. Wir können uns ohne sie weder die Kirchengeschichte noch auch die Völkergeschichte des Abendlands im letzten Jahrhundert vorstellen.“ [4]

Viel höher kann man die Bedeutung der Volkskirche kaum ansetzen. Aber das Zitat ist schon wieder Teil der Kirchengeschichte geworden. Es stammt aus dem Jahr 1949 und zwar von dem reformierten Theologen Otto Weber aus seinem Büchlein „Versammelte Gemeinde“. Weber war sich der problematischen Seite des Volkskirchenbegriffs bewusst geworden: „Wo zwischen Kirche und Volk ein Gleichheitszeichen tritt, da läßt sich die entstehende Gleichung nach beiden Seiten lesen. Es kann also dann auch behauptet werden, das Volk – versteht sich: das ‚christliche‘, ‚abendländisch-christliche‘ Volk sei (in irgendeinem Sinn) ‚Kirche’. Wo dies geschieht, zeigt der bisher in Betracht gezogene Begriff der ‚Volkskirche‘ seine gefährlichste Seite. […] Wir haben es bei uns an dem Begriff des ‚arteigenen Christentums‘ zu erfahren bekommen, was das heißt.“ Und doch, so Weber, „verbirgt sich in dem Gedanken der Volkskirche ein Moment, das in ganz andere Richtung weist, als wir es bisher bedachten. Es ist das Moment der öffentlichen Verantwortlichkeit der Kirche.“ Wo die Kirche versammelte Gemeinde sei, könne sie in dem Sinne ihre öffentliche Verantwortlichkeit wahrnehmen, dass sie sich mit dem Menschen, mit dem Volk, mit der Welt auf eine diakonische Art und Weise solidarisch zeige. Volkskirche als „Kirche Gottes für das Volk, für die Völker, für die Welt.“[5] Diese Interpretation der Volkskirche als weltbezogene Kirche für das Volk hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre Auswirkung gehabt. Sie motivierte beispielsweise Jürgen Moltmann 1975 (also 9 Jahre nach Webers Tod) zu einer Neuauflage der „Versammelten Gemeinde“.[6]

Und auch in Westfalen hat die „Versammelte Gemeinde“ ihre Auswirkungen gehabt. Präses Ernst Wilm verwies in seinen „Tätigkeitsbericht auf der Tagung der westfälischen Landessynode im Oktober 1960“ mehrfach darauf.[7] Der Titel dieses Berichts lautete „Volkskirche – Last und Verheißung“. Wilm hatte für diesen „Tätigkeitsbericht“ (der eigentlich keiner war, sondern eine theologische Zeitansage) viele Theologen in Westfalen nach ihrer Haltung zur Volkskirche befragt. Warum das überhaupt ein besonderes westfälisches Thema sei, darauf ging er explizit ein: „Unter den Merkmalen der Volkskirche, wie sie sich bei uns vorfindet, sind zu nennen: ihre regionale Struktur, über die auch ihr Name ‚Evangelische Kirche von Westfalen‘ aussagt“. Er hatte aufmerksam wahrgenommen, dass in Westfalen die Volkskirche nicht unumstritten war: „Die junge Generation und vor allem die junge Theologengeneration fragt sehr dringend, ob die Form der Volkskirche, wie wir sie haben, nicht überholt und rückständig, wenn nicht gar unwahrhaftig und darum nicht mehr verantwortbar ist.“ Manch andere Kritik an der Volkskirche gab er ebenfalls wieder – aber auch viele Wortmeldungen, die ihre Vorteile betonten. Und deshalb kam Wilm zu dem Fazit: „Die volkskirchliche Form ist der Gemeinde von Schrift und Bekenntnis her nicht als die einzig mögliche Form der Kirche geboten. Sie ist ihr aber auch nicht verboten.“ Anders als Otto Weber war die Öffentlichkeitskirche für Ernst Wilm nicht die entscheidende Deutungskategorie eines recht verstandenen Volkskirchenbegriffs – und auch das Konzept der „versammelten Gemeinde“ überzeugte ihn nicht völlig. Er betonte, „daß wir immer beides zugleich sind: versammelte Gemeinde und ausgesandte Boten. Ja, man muß es noch radikaler sagen: Wir, d.h. diese gegenwärtige Volkskirche, sind sogar ‚Kirche‘ und ‚Welt‘ zugleich. Wir sind nicht nur in der Welt, sondern die Welt ist auch in uns.“ In dieser Spannung sah sich Wilm, der die Volkskirche bejahte und gleichzeitig fragte: „‘Volkskirche ja! – aber wie?`“

„Aber wie?“ Eine Frage, der wir uns auch heute stellen müssen, wenn wir die Spannung nicht nach einer Seite auflösen wollen. Und in dieser Tagung wollen wir uns ihr stellen.

Zahlreiche Referentinnen und Referenten beleuchteten die historische Dimension der Volkskirche des zurückliegenden Jahrhunderts aus unterschiedlichen Blickwinkeln; das Programm der Tagung findet sich hier. Von den theologischen, juristischen und politischen Grundlagen einer Volkskirche, ihrer Etablierung als Körperschaft des öffentlichen Rechts in der Weimarer Reichsverfassung, reichte die Betrachtung über deren Entwicklung in der Zeit des Nationalsozialismus und in beiden deutschen Staaten nach 1949 bis hin zum Ausblick auf die volkskirchliche Zukunft.

Der Jurist Prof. Dr. Hinnerk Wißmann (Münster) eröffnete die Tagung mit einem Blick auf „die Volkskirche als Resonanzraum des Religionsverfassungsrechts“. Er nahm die staatskirchlichen Elemente der Volkskirche ernst und warnte vor einem Rückzug der Kirche aus der Fläche. Dagegen hielt der Theologe Prof. Dr. Traugott Jähnichen (Bochum) die Diskussion über alternative Modelle für dringend angebracht. Der Begriff „Volkskirche“ sei obsolet geworden. Merkmale und Aufgaben der historischen „Volkskirche“ müssten zum Teil aufgegeben (Homogenität des Volkes), reduziert (Universalitätsansprüche der räumlichen und sozialen Präsenz sowie der Sonderstellung in der Öffentlichkeit) oder neu strukturiert werden.

In einer Podiumsdiskussion fragten Kirchenpräsident Joachim Liebig (Anhalt), der Bischöfliche Generalvikar Klaus Pfeffer (Essen) und der westfälische Vizepräsident i.R. Albert Henz nach ‚Konfessionellen Prägungen – gemeinsamen Perspektiven?‘ Diese vom zeitzeichen-Chefredakteur Reinhard Mawick moderierte Podiumsdiskussion bildete auch die Grundlage für einen Bericht von Wolfram Scharenberg über die Tagung, der mit dem Titel „Modell Volkskirche – ein Auslaufmodell?“ überschrieben war.


[1] Kristian Fechtner, Späte Zeit der Volkskirche. Praktisch-theologische Erkundungen, Stuttgart 2010, 13-15.
[2] Ian Hacking, Vom Gedächtnis der Begriffe, in: Joachim Schulte / Uwe Justus Wenzel (Hg.), Was ist ein philosophisches Problem?, Frankfurt a. M. 2001, 72-86, Zitat 85.
[3] Thomas Martin Schneider, Kirchliche Zeitgeschichte – evangelisch. Entwicklung, Probleme, Aufgaben, in: ThLZ 147 (2022), Heft 1/2, Sp. 1-26, Zitat 18.
[4] Otto Weber, Versammelte Gemeinde. Beiträge zum Gespräch über Kirche und Gottesdienst. M.E. Einführung von Jürgen Moltmann, [1. Aufl. 1949), Neukirchen-Vluyn 2. Aufl. 1975, 137. Die folgenden Zitate a.a.O., 156. 156f.
[5] „Die Kirche baut sich nicht aus der Welt, aus dem Menschen, aus dem Volke auf. Aber sie ist der Leib dessen, der sich mit dem Menschen solidarisch gemacht, der unser Fleisch – endgültig – angenommen hat, und darum (und insofern) ist sie gewiesen, sich ihrerseits mit dem Menschen solidarisch zu machen! […] Indem die Kirche dies tut – in ihrem Wort wie in ihrer umfassenden diakonia – ist sie in einem neuen, echten Sinn ‚Volkskirche‘: Kirche Gottes für das Volk, für die Völker, für die Welt.“ (a.a.O, 157f.)
[6] „Erst in der versammelten Gemeinde wird aus der ‚Kirche für das Volk‘ die Kirche des Volkes, und das Volk Gottes wird zum handlungsfähigen Subjekt seiner eigenen Geschichte in der Geschichte Gottes.“ (Jürgen Moltmann, Einführung, in a.a.O., S. 7-10, Zitat 9).
[7] [Ernst] Wilm, Volkskirche – Last und Verheißung. Tätigkeitsbericht auf der Tagung der westfälischen Landessynode im Oktober 1960, Bielefeld o. J. [1960]. Die folgenden Zitate a.a.O., 9f. 4f. 30. 76. 68.

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Welche Folgen ein Kirchenaustritt haben kann

Die Zeitung „Die Glocke“ aus Oelde hat die Frage gestellt, welche Folgen es hat, wenn man aus der Kirche austritt. Und mich als Vertreter der Evangelischen Kirche von Westfalen dazu befragt. Der Artikel von Benedikt Paweltzik vom 25.03.2022 ist hier online zu lesen.

Die ausführlichen Fragen und Antworten:

1.) Darf ein Kind getauft werden, auch wenn die Eltern nicht mehr in der Kirche sind

Wir freuen uns über jedes Kind, das getauft wird. Allerdings soll bei der Taufe eines Kindes gewährleistet sein, dass es auch im christlichen Sinne erzogen wird. Daher ist eine Taufe hier nur mit Genehmigung des Presbyteriums der Kirchengemeinde möglich, wenn bei der Taufe evangelische Christinnen und Christen (als Paten) benannt werden, die für die christliche Erziehung des Kindes sorgen.

2.) Ist es möglich, eine kirchliche Trauung durchzuführen ohne Kirchenmitgliedschaft?

Wenn eine/r der beiden Ehepartner Mitglied der evangelischen Kirche ist, kann eine kirchliche Trauung gefeiert werden.

3.) Kann ein aus der Kirche ausgetretener Mensch ein kirchliches Begräbnis bekommen?

Mitglieder der evangelischen Kirche können kirchlich bestattet werden. Wenn es der Pfarrerin / dem Pfarrer aus seelsorglichen Gründen angezeigt scheint, kann ausnahmsweise auch ein Mensch ohne Kirchenzugehörigkeit kirchlich bestattet werden. Dies geht allerdings nicht, wenn dieser zu Lebzeiten ausdrücklich seine Ablehnung einer solchen Bestattung kundgetan hat.

4.) Ist es möglich, nach dem Austritt wieder in die Kirche einzutreten?

Selbstverständlich ist es möglich, wieder in die Kirche einzutreten. Dafür ist es sinnvoll, das Gespräch mit der Pfarrerin oder dem Pfarrer der Kirchengemeinde vor Ort zu suchen, wo dann alles weitere veranlasst wird. In einigen Kirchenkreisen gibt es auch zentral gelegene Eintrittsstellen.

5.) Darf man als Nicht-Mitglied am Abendmahl teilnehmen?

Alle Getauften sind zum Abendmahl eingeladen, denn Taufe und Abendmahl stehen in einer engen Verbindung. Wer nicht Mitglied der Kirche ist, sich aber durch Jesus Christus eingeladen weiß und auf dem Weg zur Taufe ist, kann am Abendmahl teilnehmen. In diesem Fall kann ein vorheriges Gespräch mit der Pfarrerin / dem Pfarrer hilfreich sein.

6.) Dürfen Kinder von Ausgetretenen eine konfessionelle Schule/Kita besuchen?

Selbstverständlich können alle Kinder eine evangelische Schule oder eine evangelische Kindertagesstätte besuchen. Voraussetzung ist, dass sie auch am religiösen Leben in der Einrichtung teilnehmen und dass die Eltern die inhaltlichen und pädagogischen Grundsätze der Schule bzw. der Kita mittragen.

7.) Können Ausgetretene bei kirchlichen Trägern arbeiten?

Je nach Beruf ist das möglich, wenn sie das Leitbild, bzw. die inhaltlichen Grundsätze des kirchlichen Trägers akzeptieren und mittragen. Sie können allerdings nicht in Aufgaben der Verkündigung, der Seelsorge oder der religiösen Bildung eingesetzt werden.

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Aktuelle Abendmahlsfragen aus evangelischer Sicht

Vortrag bei der AG Abendmahl der Liturgischen Konferenz, 22.03.2022

0. Einleitung

„Das Sakrament des Heiligen Abendmahls nimmt einen außerordentlichen Stellenwert im evangelischen Gottesdienst ein.“ So heißt es in den 2020 verabschiedeten Abendmahlsrichtlinien der Evangelischen Kirche von Westfalen. Und weil das nicht nur in Westfalen so ist, ist es gut, wenn wir uns in der Liturgischen Konferenz in einem Ausschuss dazu verständigen, was das denn nun heißt. Und zwar in der für die LK typischen Art des Dialogs zwischen Professor:innen, Gemeindepfarrer:innen und landeskirchlichen Verwaltungstheolog:innen wie mir. Ich bin also weder in der Position, so intensiv über die Grundlagen des Abendmahls nachdenken zu können wie die universitären Vertreter:innen, noch in der Position, es so regelmäßig vorzubereiten und zu feiern wie die Pfarrer:innen aus den Kirchengemeinden.

So bringe ich nun „aktuelle Abendmahlstfragen aus evangelischer Sicht“ in den ökumenischen Dialog ein. Kundige werden erkennen, dass manche Bezugspunkte zu dem großartigen ökumenischen Text „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ bestehen, auch wenn ich die nicht explizit markiert habe.

Genug der Vorrede. Was sind aus der Sicht eines evangelischen Theologen im Landeskirchenamt in Bielefeld die aktuellen Abendmahlsfragen? Da gibt es durchaus einige wichtige Fragen:

  1. Wer teilt das Abendmahl aus oder verwaltet es?
  2. Wer nimmt das Abendmahl zu sich oder ist dazu zugelassen?
  3. Was oder welche Elemente werden beim Abendmahl ausgeteilt und zu sich genommen?
  4. Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf den Gemeinschaftskelch?
  5. Gibt es ein digitales Abendmahl?
  6. Das Wichtigste zum Schluss

1.
Wer teilt das Abendmahl aus oder verwaltet es?

Die Frage ist noch relativ leicht zu beantworten. Zur Verwaltung des Abendmahls muss man rite vocatus sein, um mit CA XIV zu sprechen. In Westfalen und den anderen EKD-Gliedkirchen gibt es zwei Gruppen von Menschen, die solch eine ordnungsmäße Berufung haben: Die Pfarrerinnen und Pfarrer, die ordiniert werden. In Vorbereitung auf die Ordination auch die Vikarinnen und Vikare. Sowie die Prädikanten und Prädikantinnen, die in Westfalen zur Sakramentsverwaltung beauftragt werden. Die Älteren von uns erinnern sich an die Debatten über das VELKD-Papier „Ordnungsgemäß berufen“ in den Nuller Jahren. Diese Debatte ist nach meinem Eindruck abgeflaut und aus der Herrenhäuser Straße höre ich Signale, dass sich EKD, UEK und VELKD auf eine Einigung zubewegen. Mehr als die Frage „Sollen Prädikanten ordiniert oder beauftragt werden?“ stellt sich derzeit die Frage „Wie können wir gewährleisten, dass Prädikanten nicht nur ordnungsgemäß berufen, sondern auch ordentlich ausgebildet werden? Denn sie werden die kirchliche Verkündigung in den nächsten Jahren schon rein quantiativ mehr und mehr prägen: Derzeit gibt es in Westfalen 1490 ordinierte Pfarrer:innen und 715 beauftragte Prädikant:innen. Die erste Gruppe wird immer kleiner, die zweite immer größer.

2.
Wer nimmt das Abendmahl zu sich oder ist dazu zugelassen bzw. eingeladen?

Die Frage ist schon etwas komplexer. In Westfalen lautete der entsprechende Kirchenordnungsartikel (185) bis zum Jahr 2019: „1 ) Die Zulassung zum Abendmahl kann denen erteilt werden, die über das Sakrament hinreichend unterrichtet worden sind und vor der Gemeinde oder in einer entsprechenden Feier ein Bekenntnis des Glaubens abgelegt haben. ( 2 ) Auf Beschluss des Presbyteriums können getaufte Kinder nach angemessener Vorbereitung vor der Konfirmation in dieser Kirchengemeinde am Abendmahl teilnehmen.“

Dazu ein kleiner Exkurs: Die westfälische Kirchenordnung ist 1953 verabschiedet worden. In ihr spiegeln sich Erfahrungen des Kirchenkampfes. Ich versuche das mal bildlich auszudrücken: Wir hier in der Kirche sitzen in einem Raum und verwalten das uns offenbarte Heilige. Und draußen vor der Tür stehen ganz viele Menschen, wollen rein und irgendwas mit dem Heiligen machen. Es im schlimmsten Fall missbrauchen. Die braunen Horden und die Deutschen Christen zum Beispiel. Also müssen wir einen Türhüter installieren, der kontrolliert, wer rein darf und wer nicht. Das ist die Konfirmation. Denn wer von uns unterrichtet wurde, wer von uns geprüft wurde und wer in einer öffentlichen Feier sein unterrichtetes und geprüftes Glaubensbekenntnis abgelegt hat, der darf rein. Wer konfirmiert ist, hat die Zulassung zum Abendmahl. Wer zum Abendmahl zugelassen ist, hat hier drinnen die kirchlichen Rechte.

Nun sind wir heute in einer anderen Situation als im Kirchenkampf. Vor der Tür stehen gar keine Massen mehr, die unkontrolliert reinwollen. Wenn wir die Kirchentür missionarisch aufmachen, stellen wir fest: Da steht ja gar keiner mehr. Im Gegenteil: Ständig gehen Menschen durch diese Tür hinaus – im letzten Jahr in Westfalen ein Minus von 2,3%. Unser Konfirmandenunterricht heißt schon seit einiger Zeit Konfirmandenarbeit, wird zumeist nicht durch eine Prüfung, sondern durch einen Vorstellungsgottesdienst abgeschlossen und versteht sich weniger als Wissensvermittlung, sondern im Sinne einer kirchlichen Begleitung von Jugendlichen in einer bestimmten Lebensphase. Das hat auch Auswirkungen auf die „Zulassung“ zum Abendmahl. Die Konfirmation ist kein Türhüter für das kirchliche Leben mehr. Nach einem längeren Diskussionsprozess ist sie heute in Westfalen nicht mehr als Zulassungsbedingung zum Abendmahl vorgeschrieben. So heißt es seit 2020 in der westfälischen Kirchenordnung: „Alle Getauften sind zum Abendmahl eingeladen.“ (Art. 185). Damit ist eine lange Debatte zum Abschluss gekommen, die unsere Landessynode spätestens seit Anfang der 1980er Jahre beschäftigt hat: Sind getaufte Kinder zum Abendmahl eingeladen oder nicht? Zwischendurch gab es die typisch westfälische Kompromisslösung, dass das die Entscheidung der Presbyterien vor Ort für ihre je eigene Gemeinde ist. Jetzt gilt es generell in allen Gemeinden. Und nun ist es laut der dazugehörigen Abendmahlsrichtlinien Aufgabe des Presbyteriums, „das Abendmahl so zu gestalten, dass Kinder gut und gerne daran teilnehmen können. Das Abendmahl, an dem Kinder teilnehmen, ist das eine Abendmahl der Gemeinde. Den Kindern soll ein ihrem Alter angemessenes Verständnis des Heiligen Abendmahls ermöglicht werden.“

Im Zusammenhang der Debatte über die Einladung von getauften Kindern zum Abendmahl kam auch die Frage wieder auf, wie es mit der Teilnahme von ungetauften Kindern, ja mit ungetauften Menschen überhaupt sei. Und wie mit der Teilnahme von aus der Kirche ausgetretenen Menschen zu verfahren sei. Keine neue Frage übrigens: Bereits 1994 hatte die Vollversammlung der Leuenberger Kirchengemeinschaft das Problem so beschrieben: „Entsprechend der Ordnung unserer Kirchen ist die Taufe die Voraussetzung für die Teilnahme am Abendmahl … Aufgrund der Urbanisierung und Säkularisierung sowie eines weitgehenden Wegfalls der Anmeldung zum Abendmahl stellen sich jedoch heute zwei Probleme. Zum einen ist nicht mehr überschaubar, wer von den Teilnehmern am Abendmahl getauft ist. Für diesen Fall bieten sich folgende Möglichkeiten an: Die Wiedereinführung der Anmeldepraxis oder ein Hinweis bei der Einladung zum Abendmahl auf die Voraussetzung der Taufe und der Kirchenmitgliedschaft, der dann den Gang zum Abendmahl in die Verantwortung des einzelnen stellt. Diese zweite Möglichkeit erscheint als die angemessenere. Zum anderen erwächst bei Menschen, die neu den Zugang zur Kirche suchen, der Wunsch, auch ohne vorhergehende Taufe am Abendmahl teilnehmen zu können. In diesem Fall gehen wir grundsätzlich davon aus, dass die Aufnahme in die Gemeinde Jesu Christi durch die Taufe den Zugang zum Tisch des Herrn eröffnet. Dennoch sollte der Wunsch nicht einfach zurückgewiesen werden. In besonderen Fällen und Situationen ist eine Entscheidung in pastoraler Verantwortung zu treffen.“

Das ist ja die klassische evangelische Variante: Wir haben eine Regel. Aber keine Regel ohne Ausnahme. Und welche Ausnahmen es gibt, legen wir nicht fest, sondern überlassen es der pastoralen Kompetenz der Pfarrer:in vor Ort.

Wie auch immer: Das Thema stellt sich in den letzten Jahren in erhöhter Dringlichkeit. Mehr und mehr evangelische Eltern lassen ihre Kinder nicht taufen, sondern sagen „die sollen das später mal selbst entscheiden“. Und so nehmen mehr und mehr ungetaufte Kinder an unseren Kindergottesdiensten und am Konfirmandenunterricht teil. Gleichzeitig gibt es immer wieder getaufte Menschen, die sich nach ihrem Kirchenaustritt wieder der Kirche annähern und ohne wieder eingetreten zu sein, am Abendmahl teilnehmen wollen.

Und es gibt Menschen wie Agim Ibishi. Der ist Muslim und seine Familie stammt aus Bosnien. Er selbst ist in Bünde bei Herford geboren und aufgewachsen. Hier hat er in der Berufsschule am Religionsunterricht teilgenommen, den der evangelische Berufsschul- und Diakoniepfarrer gehalten hat. Nach einem Studium an der Fachhochschule für Diakonie in Bethel tauchte er bei diesem Pfarrer als fertiger Sozialarbeiter wieder auf. Und arbeitet nun als Suchtberater für die Diakonie im Kirchenkreis Herford. Er ist höchst interessiert an religiösen Fragen, auch über seine eigene Religion hinaus. Eine Großmutter in Bosnien war katholisch, eine weitere enge Verwandte orthodox. Und so näherte er sich auch der evangelischen Kirche, ohne ihr zwingend auf formale Weise angehören zu wollen. War bei kirchlich-diakonischen Veranstaltungen dabei, auch bei Gottesdiensten. Zum Beispiel als der Kirchenkreis Herford 2019 Vorbereitungen für das abschließende Abendmahl beim Kirchentag in Dortmund traf. Agim Ibishi fuhr mit nach Dortmund. Und als es dann zum Abendmahl kam, stellte sich die Frage: „Was hindert’s, dass ich am Abendmahl teilnehme? Ich gehöre doch dazu.“

Kundige Menschen sehen hinter diesem Beispiel (das es wirklich gibt!) die ganze Debatte um believing before belonging oder belonging before believing.

Wir in Westfalen haben uns so entschieden:
Das Abendmahl ist und bleibt das Mahl der christlichen Gemeinde, für alle, die durch ihre Taufe in den Leib Christi, in die Gemeinschaft der Christenheit, aufgenommen sind. Eine Teilnahme von Ungetauften kann dennoch möglich sein, wenn sie als nicht ausgesprochenes Taufbegehren und Teilhabenwollen gedeutet wird. Dieses Zeichen soll durch die Pfarrerin/den Pfarrer wahrgenommen und – am besten außerhalb des gottesdienstlichen Rahmens – in eine klärende wie einladende Begleitung überführt werden. So wird in Westfalen auch (noch) ungetauften Menschen die Möglichkeit geschaffen, am Abendmahl teilzunehmen. In unseren Abendmahlsrichtlinien heißt es: „Im Heiligen Abendmahl wird die Gemeinschaft mit Jesus Christus und untereinander gefeiert, die in der Taufe ihre Bestätigung findet. Alle Getauften sind zum Abendmahl eingeladen. Taufe und Abendmahl stehen in einer engen Verbindung. Diese Verbindung ist nicht exklusiv. Wer sich durch Jesus Christus eingeladen weiß und auf dem Weg zur Taufe ist, kann am Abendmahl teilnehmen.“

Dabei steht der folgende Gedankengang im Hintergrund: Die Verkündigung als Ruf zum Glauben schließt die Einladung zur Taufe ein, weshalb Ungetaufte, indem sie die Einladung zum Abendmahl für sich annehmen und daran im Einzelfall teilnehmen, zugleich ihren Willen bekunden, sich taufen zu lassen.

Was die ausnahmsweise Möglichkeit von Ausgetretenen am Abendmahl angeht, so kann auf Überlegungen der EKD verwiesen werden, deren Kammer für Theologie 2003 festgestellt hatte: „Das Ziel der Taufe ist nach kirchlicher Lehre ein Dreifaches: Die Verherrlichung des dreieinigen Gottes, Leben und Seligkeit der Getauften und der Aufbau der Kirche. […] Aller Dienst der Kirche an den aus ihr Ausgetretenen muss dieses Ziel vor Augen haben. Dabei kann dieser Dienst daran anknüpfen, dass, trotz der Distanzierung von der Kirche oder des mit dem Kirchenaustritt gegebenen Bruchs, durch die Taufe dennoch eine Verbindung der Kirche mit dem Getauften bestehen bleibt.

An diese Verbindung kann bei der Abendmahlsteilnahme eines aus der Kirche ausgetretenen Getauften – auch missionarisch – angeknüpft werden. Eine kirchliche Kontrolle, wer sich wie weit auf dem Weg zur Taufe befindet, kann offensichtlich nicht erfolgen.

Wir sind in Westfalen dabei nicht allein. In den Bestimmungen der Nordkirche zum Abendmahl heißt es: „Nach dem Verständnis der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland ist die Taufe Voraussetzung für die Teilnahme am Abendmahl. Weil aber auch beim Abendmahl das Handeln des dreieinigen Gottes an erster Stelle steht, wird niemand, die bzw. der den ernsthaften Wunsch nach Teilnahme am Abendmahl äußert, abgewiesen.“ Und in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau heißt es in der Lebensordnung: „Die Einladung zum Abendmahl im Gottesdienst soll deutlich machen, dass alle, die sich von Christus eingeladen wissen und die Einladung in die christliche Gemeinde annehmen wollen, am Tisch des Herrn willkommen sind.“ Sie erinnern sich, zu welchen ökumenischen Kontroversen dies mit Rom im Vorfeld des Ökumenischen Kirchentags in Frankfurt 2021 geführt hat.

In der EKD-Orientierungshilfe zu Theologie und Praxis des Abendmahls von 2003 hieß es: „Eine grundsätzliche Öffnung des Abendmahls für Ungetaufte und eine undifferenzierte Einladung an alle entspricht jedenfalls nicht dem evangelischen Abendmahlsverständnis.“ Wir sind mittendrin in der Debatte, was denn eine „differenzierte“ Öffnung des Abendmahls für Ungetaufte heißen kann. Der systematische Theologe Philipp Stoellger hat im Theologischen Ausschuss der UEK in einer Diskussion zu diesem Thema davon gesprochen, dass die Zulassung Ungetaufter zum Abendmahl eine Irrlehre sei. Aber eine „kirchenerbauende Irrlehre“.

3.
Was oder welche Elemente werden beim Abendmahl ausgeteilt und zu sich genommen?

Auch diese Frage hat uns in Westfalen lange beschäftigt, in der Landessynode nachweisbar seit 1973.

Dabei ging es weniger um die Frage, welche Art von Brot für die Präsenz des Leibes Christi steht. Ob – wie in der Badischen Unionsurkunde von 1821 – zehn Zentimeter langes, geschnittenes Weißbrot, ob die klassischen Oblaten, Vollkorn- oder Weißbrot, glutenfrei oder nicht – der Möglichkeiten sind ja viele. Aber sie lassen sich alle unter dem Oberbegriff „Brot“ subsumieren.

Wir haben darüber diskutiert, welche Art vom „Gewächs des Weinstocks“ für die Präsenz des Blutes Christi steht. Nur Wein? Oder auch Traubensaft? Und wenn auch Traubensaft, dann nur als Ausnahme oder auch als Regelfall? Und man glaubt ja kaum, wieviel Energie die Debatte pro und contra Alkohol beim Abendmahl erzeugen kann.

Dabei wurde uns deutlich: Das heute gottesdienstlich gefeierte Abendmahl bezieht sich in einer relativ freien Form auf die neutestamentlichen Quellen. In der Kirchengeschichte wurden manche neutestamentlichen Elemente stark in den Vordergrund gerückt, andere zurückgedrängt oder sogar verdrängt: Der Zeitpunkt hat sich vom Abend auf den Morgen verschoben; der Mahlumfang und der Sättigungsaspekt sind zurückgetreten; der Gemeinschaftsaspekt wurde zum Teil reduziert; als Ort hat die Kirche das Haus ersetzt. Verstärkt hat die kirchliche Tradition die Bedeutung der Deuteworte und der Gebete. Äußere Umstände und neue Herausforderungen haben massiv auf die Entwicklung der Abendmahlsformen eingewirkt. Die Kirchen haben sich schon sehr früh eine gewisse Freiheit zur Weiter-, Um- und Rück-Gestaltung genommen.

Zu den heutigen Entwicklungen, auf die die Feier des Abendmahls reagieren muss, gehört nicht nur eine veränderte Bedeutung des Alkoholkonsums, sondern auch eine veränderte Sicht auf das Kind und die Familie in unserer Gesellschaft. Die westfälische Landessynode hat deshalb 2019 beschlossen, den Art. 184 der Kirchenordnung zu ändern: „Das Heilige Abendmahl wird nach der Einsetzung Jesu Christi gefeiert. Dabei werden die Einsetzungsworte gesprochen und Brot und Kelch gereicht.“ (vorher hieß es: Brot und Wein ausgeteilt). Durch die Änderung in beim Abendmahl nunmehr sowohl Wein als auch Saft gleichwertig zugelassen. Gemeinden können entweder nur mit Wein, mit Wein und Traubensaft, oder nur mit Traubensaft das Abendmahl feiern. Diese Vielfalt entspricht auch der Praxis in vielen westfälischen Kirchengemeinden. Die Landessynode der EKvW feiert das Abendmahl in der Zionskirche der von Bodelschwingschen Stiftungen Bethel regelmäßig nur mit Traubensaft. Für den Saft sprechen die größere Inklusivität — im Blick auf Kinder, im Blick auf Menschen mit Alkoholismus, in diakonischen Einrichtungen oder im Krankenhaus, wo oft aus medizinischen Gründen kein Alkohol beim Abendmahl gereicht wird. Für den Wein sprechen dessen traditionelle Bedeutung „als festliches Zeichen in Christus gewährter Lebens-Freude, Lebens-Fülle und Lebens-Hoffnung“ (Karl-Heinz Bieritz) sowie seine größere ökumenische Anschlussfähigkeit gerade im Hinblick auf die römisch-katholische Kirche, die den Gebrauch von Wein als Regelfall vorschreibt. In den meisten Freikirchen in Deutschland wird dagegen seit vielen Jahren fast nur noch Traubensaft beim Abendmahl verwendet.

Die oft behauptete „Stiftungsgemäßheit“ des Weins wurde intensiv bedacht. Wein wird in den Abendmahlstexten des Neuen Testaments als Inhalt des Kelchs bei Jesu‘ letztem Abendmahl nicht genannt, auch wenn Jesu und seine Jünger dabei Wein getrunken haben werden. Explizit spricht Jesus vom „trinken vom Gewächs des Weinstocks“ (Lk 22,18). Eine Konservierung des Safts „vom Gewächs des Weinstocks“ als Traubensaft ist vor 2000 Jahren nicht möglich gewesen. Insofern kann heute — wo die technischen Möglichkeiten zur Konservierung als Traubensaft gegeben sind — eine andere Praxis des „trinken vom Gewächs des Weinstocks“ auch als möglich anerkannt werden. Dass dies im Laufe der Geschichte in der weltweiten Kirche immer wieder praktiziert wurde (um von ganz anderen Getränken beim Abendmahl noch zu schweigen), hat der Anselm Schubert in seiner „kulinarischen Geschichte des Abendmahls“ mit dem prägnanten Titel „Gott essen“ deutlich gemacht.

4.
Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf den Gemeinschaftskelch?

Die westfälischen Abendmahlsrichtlinien wurden im Juni 2020 veröffentlicht. Ihr Text war aber schon Anfang des Jahres 2020 erstellt worden. In ihm hieß es: „Die Regelform der Austeilung von Wein oder Traubensaft ist der Gemeinschaftskelch. In ihm kommt die gemeinschaftsschenkende Kraft des Abendmahls sinnfällig zum Ausdruck. Andere Formen der Darreichung, z. B. die Intinctio oder Einzelkelche, sind möglich.

Traditionell wurde beim Abendmahl der Gemeinschaftskelch bevorzugt, weil dadurch die Gemeinschaft im Abendmahl am sinnenfälligsten zum Ausdruck kam. Durch die Corona-Pandemie seit März 2020 hat sich die Situation massiv geändert. Ich nehme derzeit flächendeckend große Zurückhaltung beim gemeinsamen Trinken aus dem Gemeinschaftskelch wahr. Und ich sehe nicht, dass sich das mittelfristig ändern wird.

In hygienisch sensiblen Zeiten wie derzeit kann die Gemeinschaft auch dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass der Wein oder Traubensaft aus einem gemeinschaftlichen Gießkelch in Einzelkelche gegossen wird, aus denen dann getrunken wird. Ein westfälischer Pfarrer entdeckte im Sommerurlaub in Dänemark solche Gießkelche, bei denen einem alten silbernen Kelch offensichtlich schon vor längerer Zeit eine Gießtülle hinzugefügt wurde. Auf seine Frage, warum und wann man denn das gemacht habe, bekam er zu Antwort: Das ist bei uns seit 100 Jahren so, seit der großen Spanischen Grippe.

Zur zeitweise beliebten Intinctio (also dem Eintauchen von Brot oder Oblate in den Kelch) haben die Liturgischen Ausschüsse von UEK und VELKD zu Recht angemerkt, „dass von der gängigen Praxis der Intinctio dringend abzuraten ist. Auch wenn viele Menschen hier ein besseres Gefühl haben, ist das Eintauchen der Hostien durch mehrere Personen während der Feier eine hygienisch fragwürdige Praxis: Das Halten der Oblate in der Hand kann Krankheitserreger auf die Oblate übertragen, die von dort auf die Oberfläche der Flüssigkeit im Kelch gelangen und von hier aus den Weg zum nächsten Kommunikanten finden.“

Insofern sehe ich derzeit den Einzelkelch als Regelform der Abendmahlsfeier (in manchen Fällen auch in Verbindung mit einem Gießkelch). In manchen Kirchengemeinden heißt das Arbeit für die örtliche Töpferei oder den Silberschmied in der Nachbarschaft.

Beim Brot ist es etwas einfacher, hygienische Standards zu wahren, aber auch hier ist oft liturgische Fantasie erforderlich.

5.
Gibt es ein digitales Abendmahl?

Die Corona-Pandemie hat noch eine weitere Auswirkung auf das Abendmahl gehabt. Kurz vor Ostern 2020 wurde ein deutschlandweiter Lockdown ausgesprochen, in einigen Bundesländern wurden Gottesdienste explizit verboten, in anderen Bundesländern – zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen – verzichteten die Kirchen auf Bitten des Staates darauf, Präsenzgottesdienste durchzuführen. Das digitale Streamen von Gottesdiensten blieb aber möglich. Manche Gemeinden waren gut darauf vorbereitet, andere gingen die Aufgabe spontan mit viel Engagement an. Schnell kam die Frage auf: Was ist mit dem Abendmahl? Am Gründonnerstag? Am Ostersonntag? Geht das auch digital?

In einigen Landeskirchen wurde explizit von der online-Feier des Abendmahls abgeraten, andere ermunterten explizit dazu. In Westfalen gab es keine kirchenleitende Vorgabe. Ich selbst habe damals gedacht, dass ein zweiwöchiges Abendmahlsfasten zumutbar wäre. [Schließlich ist nach evangelischem Verständnis ein Wortgottesdienst theologisch genauso viel wert wie ein Abendmahlsgottesdienst. Und vielleicht wäre nach einer Fastenzeit das Abendmahl den Christinnen und Christen um so wertvoller geworden.] Nun dauert die Fastenzeit nicht nur zwei Wochen, sondern zwei Jahre. Es geht nicht mehr um die Frage, was in der Notsituation erlaubt, möglich oder sinnvoll ist bzw. was nicht erlaubt, möglich oder sinnvoll ist, sondern um die grundsätzliche Frage: Wenn digitale Gottesdienste zum regulären Gottesdienstangebot gehören, gilt das auch für das digitale Abendmahl?

[Im Frühjahr 2020 gab es schnell eine intensive Debatte, ob das überhaupt möglich ist, so ein digitales Abendmahl. Interessanterweise wurde die Auseinandersetzung oft so geführt, als seien die theologischen Fragen völlig neu.
Dabei gab es schon vorher Überlegungen, auf die man hätte zurückgreifen können. Der alte Streit zwischen den griechischen Philosophen Platon und Aristoteles, in welchem Verhältnis Bilder und Wirklichkeit zueinander stehen. Die Auseinandersetzung der Reformatoren Luther und Zwingli darüber, wie denn nun die Präsenz von Leib und Blut Christi in den Elementen Brot und Wein beim Abendmahl zu denken sei. Aber auch jüngere Überlegungen zu der Frage, was die Digitalisierung mit der Gesellschaft macht. Auch in der Kirche gab es Menschen, die seit den 1990er Jahren dazu vorgedacht hatten. Aber die Debatten darüber blieben zumeist im Raum der Spezialisten. Das ist nun anders: Die Frage berührt weite Kreise der Kirche. Und es gibt noch keinen Konsens, wie die Antwort darauf lautet.]

Ich gehöre zu denen, die ein digitales Abendmahl für möglich halten. Und zwar nicht nur, weil es praktiziert wurde, sondern auch, weil es theologisch denkbar ist. [Dazu sind m.E. folgende Fragen zu klären: – Gibt es im digitalen Raum Gemeinschaft? Ich meine ja. – Müssen Elemente physisch vorhanden sein oder ist ein vollständiges Avatar-Abendmahl im Internet möglich? Ich meine ersteres. – Muss eine physische Ko-Präsenz der Feiernden mit den Elementen gegeben sein? Ich meine nein. – Muss eine Gleichzeitigkeit der Feiernden gegeben sein oder lässt sich ein online-Abendmahl auch zeitlich nachfeiern? Darüber sollten wir uns unterhalten, gerne auch kontrovers. – Und wer die Geschichte der evangelischen Theologie und Kirche anschaut, merkt, dass der Streit über das digitale Abendmahl gut evangelisch ist: Vielleicht ist über kein Thema in der evangelischen Kirche so viel theologisch gestritten worden wie über das Abendmahl – von der Trennung zwischen Luther und Zwingli 1529 in Marburg bis zur heutigen Sitzung unserer Arbeitsgruppe.]

6.
Das Wichtigste zum Schluss: Was tun gegen die „eucharistische Appetitlosigkeit“?

Seit dem Beginn der Pandemie scheint das Abendmahl generell an Bedeutung verloren zu haben. In den Zeiten ohne Präsenzgottesdienste und in denen mit einschränkenden Regeln (Maske, Abstand, Testung, Impfung) gab es viele Fragen an den westfälischen Coronastab nach dem Singen und wie es trotzdem möglich sein könnte. Viele Fragen nach Kirchencafé, nach Jugendarbeit, nach dem Wasserübergießen bei der Taufe. Aber nur wenige Fragen nach dem Abendmahl und wie es trotzdem möglich sein könnte. Beobachter haben eine „eucharistische Appetitlosigkeit“ diagnostiziert. Die zentrale Frage scheint mir derzeit nicht zu sein, ob welche Formen des Abendmahls sinnvoll oder erlaubt sein können. Sondern wie die Christ:innen in unseren Gemeinden überhaupt wieder Appetit auf das Abendmahl bekommen. Und dadurch entdecken, was an Gemeinschaft, was an Segen, was an Heil im Abendmahl liegen kann. Dazu kann es unterschiedliche Formen geben.

Was mir wichtig ist: Dass wir wissen, was wir tun. Und dass wir das, was wir tun, würdig tun. Was würdige Formen des Abendmahls in der Gegenwart sind, das lohnt sich immer wieder zu erproben.

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Kirchliches

Grußwort im Dilemma

Grußwort als theologischer Ortsdezernent
zur Kreissynode des Ev. Kirchenkreises Herford
am 19.03.2022 (hier als Video online)

Hohe Synode, liebe Schwestern und Brüder in und um Herford,

gleich zu Beginne einmal tue ich das, was so ein Grußwort der Wortbedeutung nach tut: Ich grüße Sie herzlich von Präses Kurschus und dem juristischen Ortsdezernenten Thomas Heinrich.

Normalerweise würde ich in meinem Grußwort fortfahren und sagen, wie sehr ich mich freue, heute zu Ihnen sprechen zu können.

Ich gestehe: Heute am 19. März 2022 ist mir gar nicht so sehr danach zumute. Vor genau einem Jahr lag die Corona-Inzidenz bei 96. Heute bei 1735. Also 20mal so viel. Und ab morgen gilt ein Infektionsschutzgesetz, mit dem der Bund so gut wie alle Vorsichtsmaßnahmen komplett aufhebt. Wie wird das werden?

Und vor allem: Seit drei Wochen ist Krieg. Heute morgen hat die EU-Kommission angesichts der anhaltenden Kämpfe in der Ukraine vor einer Hungersnot gewarnt und von „apokalyptischen Zuständen“ gesprochen. Wie wird das werden?

Alles kein Grund zur Freude. Wir haben das ja gerade auch in der Morgenandacht gehört. Mir geht es da ähnlich:

Meine friedensethischen Überzeugungen sind mir aus der Hand geschlagen bzw. gebombt worden: Wandel durch Handel, Wandel durch Annäherung, Frieden schaffen nur ohne Waffen. Das geht gerade in Mariupol und in Charkiw und in Kiew unter. Der Ukraine helfen keine Pflugscharen. Ich bin aber auch nicht bereit, zu akzeptieren, dass Gewalt und Gegengewalt die einzige Lösung sind. Ich verstehe und unterstütze, dass die Bundeswehr mehr Geld braucht und robuster ausgestattet werden muss. Aber ich könnte auch nicht jubelnd aufspringen und die 100 Milliarden Sondervermögen des Bundes für militärische Aufrüstung beklatschen.

Ich befinde mich in einem Dilemma. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Und ich vermute, das geht manchen von Ihnen ähnlich.

Vielleicht bleibt mir aktuell nur noch ein Sprachmodus. Das Gebet. Unsere Gebete machen –mehr als alle klugen theologische Abhandlungen – deutlich, welche Hoffnung wir auf Gott setzen, was wir von ihm erwarten und ihm zutrauen. In unseren Klagen wie in unseren Bitten und Fürbitten trauen wir Gott etwas zu, deshalb wird nicht nur geklagt, sondern auch um ein Ende der Not gebetet. Ich lasse Gott da nicht raus!

Mit der Klage wagen wir mit Gott zu ringen. Indem das Elend Gott geklagt wird, gibt es einen Adressaten angesichts des Leides, das nicht stoisch, gelassen oder stumm hingenommen werden muss. Ich will das Leid in der Ukraine nicht hinnehmen, sondern beklagen. Genauso wenig wie die Tode durch Corona. Wir wissen: Ein Verstummen in der Not ist problematisch, manchmal verschärft es psychische Krisen oder es bricht als Suche nach Sündenböcken aus uns Menschen heraus. Das kann problematische Folgen haben, in der Pandemie etwa durch Verschwörungsmythen und auch einen neuen Antisemitismus in Teilen der sog. „Querdenker-Szene“. Im Ukraine-Krieg etwa dadurch, dass nun alle Russen als Bösewichter angesehen werden. Das ist natürlich falsch und Unsinn. Wir hören an vielen Stellen derzeit von Streitigkeiten zwischen Ukrainern und Russlanddeutschen, auch hier in Westfalen. Meine Bitte an Sie: zeigen Sie ihren russlanddeutschen Gemeindegliedern, dass sie zu uns gehören – und dass Sie differenzieren können zwischen ihnen und Putins Elite. „Die Russen“ gibt es nicht.

In den biblischen Klagen findet sich fast immer am Ende ein gleichsam vorweggenommenes Lob Gottes. Die Losung für den heutigen Tag ist so ein Fall: In Jona 2,7 steht:

Du hast mein Leben aus dem Verderben geführt, HERR, mein Gott!

Das ist das Gebet, das Jona zu Gott spricht, als er mitten im Bauch des großen Fisches steckt. Und das mit den Worten beginnt „Ich rief zu dem Herrn in meiner Angst.“

Wenn wir während des Krieges und der Corona-Zeit Gott anrufen in unserer Angst, dann können wir trotz und gerade in dieser Zeit Gott danken, etwa dafür, wie Menschen durch den Gebrauch der Vernunft Gegenmittel (also Impfstoffe) gegen die Pandemie entwickelt haben. Wir dürfen Gott loben für die Hilfsbereitschaft von Menschen in Deutschland und anderswo, die ukrainische Flüchtlinge aufnehmen, Geld spenden, für den Frieden demonstrieren. Vielen Dank an Sie im Kirchenkreis Herford, dass Sie das bereits tun. Gestern habe ich mit Landrat Müller telefoniert, der mir berichtet hat, dass er dazu in gutem Kontakt mit dem Kirchenkreis steht.

Hohe Synode, liebe Schwestern und Brüder in und um Herford,

Sie haben wie immer ein volles und hochinteressantes Programm auf der Kreissynode. Gestern war ich bei der Kreissynode im benachbarten Kirchenkreis Vlotho, deshalb konnte ich den Vortrag von Frau Pohl-Patalong nicht live miterleben. Ich bin aber froh, dass ich das online nachschauen kann, denn das Thema ist ja so wichtig: Wie können wir die Kirche heute so gestalten, dass wir in 20 Jahren immer noch Gestaltungsmöglichkeiten haben?

Die entsprechenden Themen stehen bei Ihnen auf der Tagesordnung:

Personalplanungsräume für den Pfarrdienst / Interprofessionelle Pastoral-Teams / Verantwortlicher Umgang mit Finanzen / Ein gutes Verhältnis von Kirche und Diakonie / Ein hilfreich arbeitende Verwaltung / Ein funktionierendes IT-System / Strukturen für eine Kirchenmusik zum Lobe Gottes

Kirchenmusik. Ich muss und will zum Schluss auf diesen Punkt noch besonders zu sprechen kommen. Superintendent Reinmuth hat gestern abend im Zusammenhang mit dem Bericht zur Einrichtung des Kreiskantorats darauf hingewiesen, dass die Kirchenleitung am Donnerstag eine Entscheidung in der Standortfrage der Hochschule für Kirchenmusik getroffen hat. Die beiden Standorte der Hochschule sollen an einem Standort auf dem Campus der Evangelischen Hochschule in Bochum zusammengeführt werden. Zeitliches Ziel ist 2025.

Die Kirchenleitung hat es sich nicht leicht gemacht mit dem Entschluss, weil viele Faktoren eine Rolle gespielt haben. Keine der zur Wahl stehenden Varianten ist ohne Nachteile zu haben. Ich bin froh, dass die Variante mit dem größten Nachteil nicht beschlossen wurde: Die komplette und ersatzlose Schließung beider Standorte stand bis zuletzt ernsthaft zur Diskussion. Und deshalb bin ich froh darüber, dass die Kirchenleitung so beschlossen hat, wie sie es getan hat. Denn ich kann mir Kirche ohne Kirchenmusik und die Ausbildung von Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusikern nicht vorstellen.

Aber jede Medaille hat zwei Seiten: Auf der anderen Seite dieser Standortentscheidung stehen die Kosten, die sie mit sie bringt – die aber auch bei der Fortführung der beiden bisherigen Standorte entstanden wären. Und auf der anderen Seite steht auch der Verlust für den Kirchenkreis Herford und die Region Ostwestfalen. Das sehe ich deutlich und das hat die Kirchenleitung gesehen – das war ja einer der Gründe, warum es mit der Entscheidung so lange gedauert hat. Superintendent Reinmuth hat gestern davon gesprochen, dass er das bitter findet. Und ich vermute, dass das vielen von Ihnen ähnlich geht. Wir haben für den heutigen Vormittag vereinbart, dass eine Aussprache zu dem Thema im Zusammenhang mit seinem Superintendentenbericht erfolgen soll. Ich werde auch dabei sein.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche gute Beratungen und über allem Gottes Segen.

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Kirchliches

Mütend

Predigt am 26. Dezember 2021 (2. Weihnachtsfeiertag) in der Ev.-Luth. Kirchengemeinde Martini-Gadderbaum in Bielefeld
(hier nachzuhören)

Liebe Gemeinde,

seit 1977 legt die Gesellschaft für Deutsche Sprache das „Wort des Jahres“ vor. Und wenn man sich diese Worte so im Rückblick anschaut, dann sind sie oft ein Spiegel der Geschichte dieser Jahre. Ein paar Beispiele aus den letzten 20 Jahren:
1999: Millenium – das neue Jahrtausend weckt Hoffnungen und Befürchtungen.
2005: Bundeskanzlerin – zum ersten Mal steht eine Frau der Bundesregierung vor.
2006: Fanmeile – bei der Fußballweltmeisterschaft ist die Welt zu Gast bei Freunden.
2008: Finanzkrise – der Zusammenbruch einer Immobilienbank stürzt die Finanzwirtschaft der ganzen Welt ins Chaos.
2015: Flüchtlinge – die Bundeskanzlerin sagt „Wir schaffen das!“
2020: Coronapandemie – das Virus ist da.

Und dann in diesem Jahr? Erinnern Sie sich, welches Wort Anfang Dezember gekürt wurde?
2021 war es –  Wellenbrecher
Die Begründung: „Das Wort steht für alle Maßnahmen, die getroffen wurden und werden, um die vierte Corona-Welle zu brechen.“

Tja, das war wohl nix. Entweder haben wir die vierte Welle gar nicht gebrochen. Oder die vierte Welle war gar nichts gegenüber der fünften, die mit der Omikron-Variante bevorsteht. Inzwischen wird ja schon ganz offen darüber gemunkelt, dass im Januar wieder ein ernsthafter Lockdown über unsere Gesellschaft verhängt wird. Mit Schulschließungen und allem, was dazu gehört.

Wissen Sie, was mein Wort des Jahres ist? „Mütend“. Das bin ich nämlich: „müde“ und „wütend“ zugleich – eben „mütend“. Müde bin ich von dem ganzen Hin und Her, dem Auf und Ab, den Hoffnungen und Enttäuschungen. Das strengt an. Und wütend bin ich. Auf dieses blöde Virus, das unsere Welt überzogen hat und einfach nicht gehen will. Und wütend auf die, die meinen, dass man dem Virus ohne medizinische Vernunft begegnen kann. Die das Impfen verweigern und damit nicht nur sich, sondern auch andere gefährden. All das macht mich „mütend“. Dieses Mütendsein ist schon eine eigentümliche Erfahrung. Aber ich glaube, ich bin nicht der einzige, der sie gemacht hat.

Nicht der einzige hier im Raum, nicht der einzige in unserer Gesellschaft, aber auch nicht in der Geschichte. Und auch nicht in der Bibel. Im heutigen Predigttext sind auch Menschen mütend. 

Jesaja 7,10-14
10Und der Herr redete abermals zu Ahas und sprach: 
11Fordere dir ein Zeichen vom Herrn, deinem Gott, es sei drunten in der Tiefe oder droben in der Höhe! 
12Aber Ahas sprach: Ich will’s nicht fordern, damit ich den Herrn nicht versuche.
13Da sprach Jesaja: Wohlan, so hört, ihr vom Hause David: Ist’s euch zu wenig, dass ihr Menschen müde macht? Müsst ihr auch meinen Gott müde machen? 
14Darum wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel.

Ahas war König von Juda einige Jahre vor dem Jahr 700 v. Chr. Der Dialog zwischen ihm und dem Propheten Jesaja findet statt in einer Situation, in der er festsaß in seiner Stadt Jerusalem. Belagert wird seine Stadt von zwei feindlichen Heeren. Es ist nur noch eine Frage der Zeit und er würde alles verlieren, seine Macht, sein Reich, sein Leben. Wer sollte ihm jetzt noch helfen? Vielleicht die mächtigen Assyrer. Die sind stark, die könnte er um Hilfe bitten, die würden kommen und ihn retten. Gut, er müsste den assyrischen Göttern opfern, seinen Tribut zahlen. Aber der Entschluss stand für ihn fest. Wenn es keinen anderen Weg gibt, gibt es keinen anderen Weg.

Nervig, dass da dieser Jesaja kommt. Der meint, die beiden Feinde vor der Stadt wären nur rauchende Scheite, die bald von verglühen würden. Keine Ahnung vom Militär, dieser Prophet. Und jetzt steht er schon wieder vor ihm und hat angeblich eine Botschaft von Gott für ihn: „Es wird dieses Mal gut ausgehen. Es wird Euch nichts passieren. Und damit Du das auch glauben kannst, König Ahas, darum gebe ich Dir ein Zeichen. Du darfst Dir eins wünschen. Aus der Tiefe oder aus der Höhe, ich hole Dir auch die Sterne vom Himmel.“

Aber Ahas will nicht. Er sagt, er will Gott nicht auf die Probe stellen. Aber eigentlich ist er auch einfach nur müde. Müde vom Regierungsgeschäft. Müde von den Feinden vor der Stadt. Wütend auf sie und auf das Gemecker der Leute auf den Straßen seiner Stadt. Er wimmelt Jesaja ab.

Und da lässt der Prophet Ahas seinen ganzen Frust spüren: „Ist’s euch zu wenig, dass ihr Menschen müde macht? Müsst ihr auch meinen Gott müde machen?“ Jesaja ist mütend. Unverbesserlich ist er, dieser Ahas. Wie sehr man auch auf ihn einredet. Selbst wenn man freundlich zu ihm ist, wenn man ihm alles möglich machen will, ihm die tollsten Zeichen anbietet, bleibt er verschlossen und verbohrt. Wut steigt in ihm auf und gleichzeitig diese Müdigkeit. Und nicht nur bei ihm. Das ganze Volk hat dieser König mütend gemacht. Jesaja wirft ihm das vor. Und noch mehr: „Willst Du auch Gott mütend machen?“ fragt er ihn. Willst Du, dass Gott so genervt ist von Deinem Unglauben, dass Gott selbst müde von Deinen Ausreden wird? Und dass er dann richtig wütend auf Dich wird? Dich bestraft und uns, das Volk Israel, gleich mit?

Das ist für mich ein neuer Gedanke beim Nachdenken über den Text geworden. Gott selbst kann auch müde werden, vielleicht sogar mütend. So wie ich. Haben Sie das schonmal gedacht?

Siehe, der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht“, heißt es ja eigentlich in Psalm 121,3.

Aber Gott hat doch viel mehr um die Ohren als unsereins. Eine ganze Welt, einen ganzen Kosmos. Pflanzen und Tiere, Erde und Meer, und obendrauf noch uns Menschen alle. Die Guten. Und die Bösen. Die seinen Rat überhören, kein Zeichen von ihm wollen. Und manchmal macht ihn das vielleicht müde. Das alles Viele. Und das alles Böse macht ihn wütend dazu. Wenn Gott Mensch geworden ist, dann kennt er vielleicht auch so ganz menschliche Gefühle wie das Mütend-Sein.

Aber Jesaja gibt mir Hoffnung, dass es nicht dabei bleibt.
Wenn wir nicht mehr rauskommen aus unserem Mütend-Sein – Gott rappelt sich auf. Wenn wir nicht mehr wollen – Gott will. Und nimmt uns mit. Ahas wollte kein Zeichen von Gott. Aber Gott hat ihm von sich aus ein Zeichen gegeben, erzählt Jesaja: „Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel.

Eine schwangere Jungfrau mit einem Sohn, dessen Name „Immanuel“ heißt, dass Gott bei uns ist. Den Satz kennen Sie, nicht wahr?

Der steht in der Evangeliums-Lesung für den heutigen Tag (Matthäus 1,18-25). Der Evangelist Matthäus ist offensichtlich als gläubiger Jude aufgewachsen. Und deshalb kannte er natürlich den Propheten Jesaja. Und wusste, dass dieses Prophetenorakel ganz bekannt war. Obwohl, oder vielleicht auch weil niemand so genau wusste, wer denn dieser Sohn sein sollte, von dem Jesaja da orakelt hatte. Vielleicht der Junge, der als zufälligerweise nächstes in Jerusalem geboren werden würde? Oder das Kind der Frau von Jesaja selbst? Dazu würde ja der sprechende Name Immanuel passen, denn Jesaja hatte seinen anderen Kindern auch sprechende Namen gegeben. Oder sollte die Frau des Königs Ahab einen Sohn bekommen, ihn Immanuel nennen und so ihren Mann davon überzeugen, dass Gott weiterhin auf seiner Seite steht? Die meisten Bibelausleger heutzutage denken, dass das die historisch wahrscheinlichste Variante ist.

Matthäus denkt: Jesus von Nazareth ist der Immanuel. Dass Gott seinen Sohn auf die Erde schickt, ist das deutlichste Zeichen, dass er weiterhin auf unserer Seite stehen will. Und weil Matthäus davon überzeugt war, dass der Gott des Jesaja und das Ahas auch sein Gott war, dass dieser Gott auch der Vater Jesu war, erschien ihm das ganz einleuchtend.

Und wahrscheinlich hat Matthäus auch kein Problem damit gehabt, dass in seiner griechischen Bibelübersetzung (der Septuaginta) die Mutter des Immanuel eine Jungfrau war. Das war eben nur ein besonderes Zeichen für die wirklich wunderbare, also ganz göttliche Herkunft des Kindes – und deshalb war Maria, die Mutter Jesu, auch eine Jungfrau.

Uns heute kommt das nicht mehr so leicht über die Lippen: „Eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären.“ Das halten wir biologisch für ziemlich unmöglich. Und deshalb freuen wir uns, wenn wir entdecken, dass im hebräischen Urtext gar nicht „Jungfrau“, sondern „junge Frau“ steht. Das kommt unserem naturwissenschaftlichen Weltbild entgegen. Eine junge Frau wird schwanger, und ihr Kind wird zum Zeichen dafür, dass Gott mit uns ist.

Ein Kind als Zeichen dafür, dass Gott mit uns ist. Das steht im Zentrum des Wunders von Weihnachten.

Weihnachten ist ja ein Fest der Zeichen, das unsere Augen auf das Wunder der Geburt Gottes im Menschen lenken sollen. Geschenke, liebevoll ausgewählt und verpackt, Zeichen der Liebe. Wunderbare gedeckte Festtafeln, bereit für gute Gespräche und Begegnungen. Engel am Weihnachtsbaum, die die Botschaft vom Frieden auf Erden in unsere Wohnzimmer bringen. Aber bevor das jetzt zu kitschig wird – es gibt neben diesen Zeichen natürlich auch andere. Geschenke, die offenbaren, dass der andere gerade nichts mit uns anzufangen weißt. Tante Milla, die sich lauthals am Tisch darüber aufreget, dass die geklöppelte Weihnachtsdecke ihrer Mutter nicht aufliegt, das Besteck falsch angeordnet ist und die Kinder offensichtlich nicht gelernt haben, dass man Kartoffeln nicht mit einem Messer schneidet. Und auch wenn Sie keine Tante Milla zu Besuch hatten, dann wissen Sie, dass man sich auch innerhalb der Familie mit immer den gleichen Streitereien, Schubladen und Witzigkeiten mütend machen kann.

Auch 2021 brauchen wir das Weihnachtswunder, um uns aus unserem Mütendsein zu befreien. Wir brauchen den Glauben, der Mut macht, mit dem Wunder zu rechnen. Wir brauchen die Gabe, uns vorstellen zu können, dass etwas Außergewöhnliches geschehen kann, etwas, das außerhalb unserer jetzt machbaren Möglichkeiten seht.

Das Immanuel-Zeichen macht uns inmitten der vielen anderen Zeichen deutlich: Gott ist mit uns. Auch 2021. Vielleicht gerade jetzt.

Wo Gott in einem Menschenkind geboren wird, da wird etwas heil.
Heil werden, nicht müde werden, das Wunder zu erwarten. Auch wenn das Kind nicht mehr göttlich aussieht, wenn es anfängt zu quengeln, Blödsinn macht und beginnt, die falschen Spiele der Erwachsenen mitzuspielen. Auch wenn das Mütendsein in der Gesellschaft sich immer weiter ausbreitet, so dass es manchmal wirklich um Verzweifeln ist.

Heil werden, nicht müde werden, das Wunder zu erwarten, dass Gott sich im Menschen in diese allzu menschliche Welt begibt. Dass es heilsame Begegnungen gibt mit anderen Menschen, auch mit den Tante Millas dieser Welt. Und dass uns in dem einen oder anderen Menschen Gott begegnet.

Am besten wäre es, „Immanuel“ wäre das Wort des Jahres 2021.
Immanuel. Gott ist mit uns. Hier in Martini-Gadderbaum. Und heute am 2. Weihnachtsfeiertag.

So sei es.
Amen.

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Humoriges Kirchliches

Die spinnen, die Römer!

„Die spinnen, die Römer!“

Den Satz wollte ich immer schon mal in einer Andacht unterbringen. Gut, dass ich kein Ökumene-Dezernent bin.

Und der Satz ist ja auch gar nicht anti-ökumenisch, weil er gar nicht auf die römisch-katholische Kirche bezogen ist. Sondern – Sie werden es alle erkannt haben – „Die spinnen, die Römer“ ist natürlich ein Zitat aus den Asterix-Comics. Meistens sagt ihn Asterix‘ dicker Freund Obelix (nein, der ist natürlich gar nicht dick!), aber er ist auch darüber hinaus irgendwie zum geflügelten Wort geworden.

Ich bin seit meiner Jugend ein großer Fan der Gallier, die von den Franzosen Goscinny und Uderzo erfunden wurden – und seit meinem ersten Heft „Die Trabantenstadt“ freue ich auf jedes neue Heft. Nach einem kleinen Hänger zwischendurch gilt das besonders, seitdem Jean-Yves Ferri und Didier Conrad das Ruder übernommen bzw. die Feder in die Hand genommen haben.

So auch Ende Oktober dieses Jahres. Da erschien Band 39: „Asterix und der Greif“. Asterix, Obelix, Miraculix und Idefix machen sich auf nach Asien ins Barbaricum zum Volk der Sarmaten, um den sagenumwobenen Greifen zu finden. Sie haben sich aber nicht alleine auf den Weg gemacht. Mit auf dem Weg nach Osten sind auch die Römer, die ja bekanntlich spinnen. Während die Gallier auf ihrem dreispännigen Schlitten nur leichtes Gepäck dabei haben, sind die römischen Legionäre unter ihrem Zenturio Brudercus so wohl organisiert, wie es international bekannte Institutionen wie die Armee Roms nun einmal sind. Angekommen im Barbaricum, schlagen sie erst einmal ihr Lager auf – auch um den Barbaren zu zeigen, was römische Architektur ist. Und dann schreit Brudercus: „An die Arbeit! Ich will ein Provisorium, das Bestand hat!

Ja, habe ich mir da gedacht: Das kenne ich. Ein Provisorium, das Bestand hat. Das gibt’s auch heute noch. Ist das nicht auch die Kirche, der ich angehöre, für die ich arbeite, für die wir arbeiten? Ist das nicht ein Thema der Bibel von ihren Anfängen an? Abraham verlässt sein Vaterhaus und zieht ins Unbekannte. Das Volk Gottes wohnt in provisorischen Zelten. Gott selbst wohnt mit seinen Geboten in einem Zelt, das mit dem Volk zieht. Der spätere Tempelbau ist sehr umstritten. Die Propheten kritisieren, wenn das Volk sich darauf ausruht, sesshaft zu werden. Dennoch: Sie bauen ihre Häuser, ihre Straßen, ihre Brunnen, ihre Märkte. Sie bauen ihre Stadt und suchen dieser Stadt Bestes. Sie richten sich ein.

Jesus macht sich ebenfalls auf ins Provisorium. Er verlässt die Zimmerwerkstatt seines Vaters und wird Wanderprediger. Die Füchse wissen, wo sie sich abends schlafen legen, er weiß es nicht. Seine wandernde Existenz ist Ausdruck seiner Haltung. Sein Leben ist Bewegung, Aufbruch. Nach seinem Tod brechen die Jünger auf und erzählen in Jerusalem, in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde von ihm. Paulus und andere Apostel gründen christliche Gemeinden in Galatien, in Korinth, in Rom. Am Anfang wurden diese frühen Christen „Anhänger des Wegs“ genannt.

Aber der Mensch braucht Wurzeln. Er braucht Heimat. Er will wissen, wohin er gehört. Je weitläufiger die Welt wird, desto mehr sehnt er sich nach Heimat. Sehnsucht nach Ankommen, Bleiben. Auch die urchristlichen Gemeinden treffen sich in Häusern, bauen bald besondere Häuser für ihre Gottesdienste. Basiliken und Kathedralen entstehen – wunderschöne Architektur zum Lobe Gottes.

Nur, feste Häuser schaffen ein Problem. Sie lehren das Festhalten. Hecken, Zäune, geschlossene Fensterläden. Geschützte Räume verlangen nach Recht. „Wenn wir irgendwelche Besitztümer hätten“, sagt der heilige Franziskus, „wären uns Waffen nötig“. Feste Häuser werden zu Lagern. Man will unter sich sein. Milieugebundene Stadtteile entstehen. Im Lager entsteht eine Lagermentalität. Die Schriftgelehrten und Hohepriester bilden ein Lager. Man definiert sich über Zugehörigkeit zum Lager. Wir erleben das in diesen Tagen auf andere Weise. Filterbubbles entstehen nicht nur im Internet. In der Kohlenstoffwelt gibt es ebenso nicht nur Lagerdenken, sondern ganz reale Lager. Auch in der Kirche. Die Politischen stehen gegen die Frommen, die Pop-Freunde gegen die Klassik-Liebhaber, die ländlichen Regionen gegen die städtischen Gebiete, die Lutheraner gegen die Unierten. Und alles natürlich auch wieder andersrum.

Jesu Existenz ist das Heraustreten, wie das lateinische Wort „Existenz“ zu übersetzen ist. Ex-sistere. Herausstellen, sich herausbewegen. Jesus brach den Lagergedanken auf. Er ist die ganze Zeit seines Wirkens aus den Gewohnheiten herausgetreten. Er gab auf, sein Recht zu behaupten. Er verzichtete auf Besitz. Er setzte die Beziehung zu Gott höher als zu Mutter und Geschwistern. Er hat Menschen nie festlegt. Er gab dem Zachäus Raum zur Veränderung und der Ehebrecherin einen neuen Anfang. Die ihn verurteilten und draußen vor den Toren der Stadt töteten, wussten gar nicht, dass der Ort außerhalb der Stadtmauer genau seinem Wesen entsprach. Sie wollten ihn behandeln wie ein Tier-Opfer im Tempel, das seinen Dienst getan hat und draußen vor dem Tor durch Verbrennen entsorgt wird.

„Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ (Hebräer 13,12-14)

Hinausgehen ist eine menschliche Lebensaufgabe von Beginn an. Der erste Schock, wenn ich den warmen Mutterleib verlassen und selbst anfangen muss zu atmen, um nicht zu sterben. Der erste Tag im Kindergarten ohne Mutter oder Vater. Das Elternhaus verlassen. Der erlernte Beruf reicht nicht für ein ganzes Leben. Neues lernen. Die Kinder verlassen das Haus und richten sich in der eigenen Existenz ein. Die eigene Lebensplanung wird fragwürdig: Nun bin ich Schritt für Schritt die Karriereleiter hochgestiegen, aber lehnt die Leiter überhaupt an der richtigen Wand? Die Melancholie des alten Menschen: „Wie viele Frühlinge werde ich noch sehen?“ Muss ich meine vertraute Wohnung verlassen, um mich in einem Pflegeheim versorgen zu lassen? Für viele Ältere ist diese Frage in Corona-Zeiten nicht mehr bloß kokett gestellt. Wird es ein Beatmungsgerät für mich geben, wenn das Virus mich erwischt? Wir haben hier keine bleibende Stadt. Alle Sicherungsmaßnahmen taugen nicht.

Aber Häuser sind nicht als solche sinnlos, Städte sind nicht grundsätzlich falsch.

Denn die zukünftige Stadt, die suchen wir. Jeder und jede für das je eigene Leben. Und für unsere Kirche wir alle am besten gemeinsam. Nicht gegeneinander, in Abgrenzung zu den anderen Filterblasen. Sondern miteinander auf dem Weg zu einer Einheit in versöhnter Verschiedenheit.

Als Fromme erkennen wir an, wie aktiv die Politischen Gottes Auftrag zur Weltgestaltung erfüllen; als Politische, wie innig die Frommen aus der Quelle unseres Glaubens leben. Als Pop-Freunde lernen wir die Schönheit der Gregorianik und Barock zu schätzen und als Klassik-Liebhaber die Energie von Jazz, Rock und Pop. Als Landbewohner nehmen wir Ernst, wie in den Städten viele gemeinsame Probleme zuerst bewältigt werden müssen; als Stadtbewohner, wie auf dem Land vieles Gute noch bewahrt ist, was anderswo schon aufgegeben wurde. Als Lutheraner, Reformierte und Unierte, wie in unseren unterschiedlichen Ausformungen die Vielfalt der reformatorischen Bewegung in ihrem ganzen Reichtum lebendig sein kann.

„Ein Provisorium, das Bestand hat“ – diesem Paradox werden wir auch in der Kirche nicht entkommen. Aber wir brauchen auch nicht daran verzweifeln. Wir können es fröhlich gestalten. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe. Um es mit einem Römer, dem Zenturio Brudercus, zu sagen: „An die Arbeit!“

Amen.