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50 Jahre Leuenberger Konkordie

Im März 2023 gibt es ein 50jähriges Jubiläum!

Vom 12. bis 16. März 1973 wurde auf dem Leuenberg bei Basel die endgültige Textfassung der Leuenberger Konkordie reformatorischer Kirche in Europa erarbeitet und den beteiligten Kirchen übergeben. Die Evangelische Kirche von Westfalen unterzeichnete alsbald als siebte Signatarkirche. Damit war sie Teil der Kirchengemeinschaft zwischen den lutherischen, reformierten und den aus ihnen herausgegangene unierten Kirchen sowie den ihnen verwandten vorreformatorischen Kirchen der Waldenser und der Böhmischen Brüder. Die methodistischen Kirchen traten 1997 bei. Heute sind 95 Kirchen Mitglieder der „Gemeinschaft Evangelischer Kirche in Europa“ (GEKE), wie die Leuenberger Kirchengemeinschaft seit 2003 heißt. In der westfälischen Kirchenordnung ist festgehalten: Die EKvW „pflegt besondere Beziehungen zu den Kirchen, mit denen sie in Kirchengemeinschaft im Sinne der Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie) […] steht.“ (Art. 3 (2) KO EKvW). Auf der Landessynode der EKvW vom 21.-24. Mai 2023 wird das 50jährige Jubiläum deshalb auch eine wichtige Rolle spielen.

Zum 40jährigen Jubiläum der Leuenberger Konkordie habe ich in der Dortmunder St. Petri-Kirche eine Predigt gehalten, die vielleicht auch noch nach 10 Jahren noch interessant ist:

Liebe Gemeinde,

erinnern Sie sich noch an Bruce Low? Ein holländischer Schlager- und Countrysänger, der vor gut 30 Jahren ein paar Mal in der deutschen Hitparade vertreten war. Unter anderem mit einem Lied, das ich in meiner Jugend gerne gehört habe und das Sie vielleicht auch kennen. Mit seiner unnachahmlich tiefen Stimme (ja, deshalb sein Künstlername Bruce Low) sang er auf die Melodie von „By the rivers of Babylon“:
Die Legende von Babylon / und was geschah /
ist ein Lied aus längst vergangnen Tagen. /
Die Legende von Babylon / und was geschah /
hat uns auch heut’ noch allerhand zu sagen.“

Ich habe es lange nicht mehr gehört, dieses Lied, aber als ich mich daran erinnert habe, war es sofort wieder in meinem Kopf da. Ein Lied aus längst vergangenen Tagen, nun gut, aus dem Jahr 1978. Aber es bezieht sich auf ein Lied, eine Geschichte aus viel älterer Zeit, aus der sogenannten Urgeschichte. Also den Anfangsgeschichten der Bibel, die erklären oder noch besser: erzählen wollen, warum die Menschheit so ist wie sie ist.

Ich lese aus der Lutherübersetzung von 1. Mose 11:
„Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache.
Als sie nun nach Osten zogen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst.
Und sie sprachen untereinander: Wohlan, lasst uns Ziegel streichen und brennen! – und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel
und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis in den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder.
Da fuhr der HERR hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten.
Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun.
Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprche verwirren, dass keiner des anderen Sprache verstehe!
So zerstreute sie der HERR von dort in alle Länder, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen.
Daher heißt ihr Name Babylon, weil der HERR daselbst verwirrt hat aller Länder Sprache und sie von dort zerstreut hat in alle Länder.“

Soweit das 1. Buch Mose. – Zurück zu Bruce Low, der meint:
„Die Legende von Babylon, / und was geschah /
hat uns auch heut noch allerhand zu sagen.“

Was uns die Geschichte vom Turmbau zu Babel zu sagen hat, das singt Bruce Low in Form einer Frage:
„Die Legende von Babylon / und was geschah /
das ist nun ein paar Tausend Jahre her /
und heute, versteht heute der eine Mensch den anderen?“

Das sieht nicht nur Bruce Low so, das sehen auch die übliche theologische Deutung: Das zentrale Motiv der Turmbaugeschichte ist die Sprachverwirrung. So wird die Geschichte dann traditionellerweise ausgelegt:
Die Menschheit hat einst in ungestörter Kommunikation und Gemeinsamkeit gelebt. Alle haben eine Sprache gesprochen. Dann haben die Menschen die – an sich positive – Technik des Ziegelbaus und der Verfugung zu einem hybriden Werk missbraucht, zu einem Turm, der an oder sogar bis in den Himmel ragen sollte. Meinten sie zumindest. In Wirklichkeit erzählt die Geschichte zweimal davon, dass Gott tief herabfahren musste, um den Turm überhaupt in Augenschein nehmen zu können. Was er sieht, entsetzt ihn. Die Menschen wollten sich einen Namen machen, auf Hebräisch Schem. Das zielte gegen Gott selbst, der im Hebräisch oft auch mit HaSchem – der Name bezeichnet wurde. Wer sich selbst einen Namen machen will, indem er den Himmel erstürmt, der lästert den Namen dessen, der im Himmel wohnt. Prompt folgt die Strafe auf dem Fuß: Gott verwirrt ihre Sprache, die Menschen verstehen einander nicht mehr, müssen den Bau abbrechen und werden in alle Winde, in alle Länder zerstreut.

Diese biblische Geschichte kommt in der Ordnung unserer Predigttexte zu Pfingsten vor. Und das Pfingstwunder ist dann die Gegengeschichte zum Turmbau zu Babel. Dank der Gabe des Heiligen Geistes können die Menschen aus aller Welt ihre unterschiedlichen Sprachen wieder verstehen: die Parther und Meder und Elamiter und wie sie in der Apostelgeschichte alle heißen.

Und in diesem Blickwinkel ist „die Legende von Babylon“ auch die Gegengeschichte zu dem, was wir heute feiern, zum 40. Geburtstag der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa. Die Situation vor 1973 ist geprägt gewesen von den vielen evangelischen Sprachen, von der Vielzahl reformatorischer Theologien und Kirchen. Das ist – quasi pfingstlich-wunderhaft – anders geworden durch den Text, der in unserem Gesangbuch unter die wichtigsten Bekenntnisse und Lehrzeugnisse der Kirche aufgeführt wird: durch die Leuenberger Konkordie. Darin haben inzwischen 106 evangelische Kirchen aus Europa ein gemeinsames Verständnis des Evangeliums festgestellt. Es ist nicht mehr so, dass einer des anderen Sprache nicht versteht. Wir haben einander zugehört, haben uns einander verständlich gemacht. Wir haben die Gegensätze in der Lehre vom Abendmahl, im Verständnis der Heilsbedeutung Jesu Christi und in der Theologie der Prädestination soweit überwunden, dass unsere unterschiedlichen Akzente nicht mehr kirchentrennend sind.
Wir können Kirchengemeinschaft erklären zwischen Reformierten und Lutheranern, zwischen Methodisten und Unierten und Waldensern und und und.
Das hört sich tatsächlich pfingstlich an: die Parther und die Meder und die Elamiter – sie alle kommen unter dem gemeinsamen Verständnis des Evangeliums zusammen.
Das ist die „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“, wie die Leuenberger Theologie treffend zusammengefasst worden ist. Und insofern eine Überwindung der babylonischen Sprachverwirrung, unter der wir alle gelitten haben.

Als Pfarrerin Stephanie Lüders und ich im letzten September [2012] an der 7. Vollversammlung der Gemeinschaft Evangelischer Kirche in Florenz teilgenommen haben, haben wir diese Gemeinschaft erfahren können. Haben mit Menschen aus anderen evangelischen Traditionen Abendmahl gefeiert, haben die Gemeinschaft zwischen unseren Kirchen im Gottesdienst bestätigt, haben gemeinsam Worte gefunden für unser Verständnis der frohen Botschaft, für unser Verstehen von Schrift und Bekenntnis. Haben uns als zusammengehörig erlebt trotz kultureller und historischer Unterschiede zwischen Schweden, Norwegern, Ungarn, Tschechen und Österreichern, ja sogar zwischen Westfalen und Rheinländern. Unglaublich, dass das erst seit vierzig Jahren so möglich ist. So selbstverständlich kam es uns vor. Die in Leuenberg 1973 erklärte Kirchengemeinschaft ist verwirklicht.

Doch das ist nur die eine Seite der Jubiläumsmedaille.
Die andere wird sowohl beim Blick auf die Leuenberger Kirchengemeinschaft deutlich als auch, wenn wir uns die Geschichte vom Turmbau zu Babel in einer anderen Perspektive anschauen. Denn: Ist die Vielfalt der Sprachen wirklich falsch? Ist die Ausbreitung der Menschen über die ganze Erde wirklich göttliche Strafe? Hat nicht Gott die Menschen dazu erschaffen, fruchtbar zu sein und sich zu mehren und die Erde zu füllen? (Gen 1,28) Und wird nicht in den Kapiteln vor dem heutigen Predigttext darauf hingewiesen, dass die Menschen eben das taten – sich über die Erde auszubreiten? (z.B. Gen 10,18) Folgen wir der biblischen Erzählung, dann bestand die Menschheit bereits aus vielen Völkern und vielen Sprachen, bevor sie von Osten her in Ebene Schinar kam und dort zu dem einen Volk mit der einen Sprache und dem eindeutigen Wortschatz wurde.
Wenn aus einer bunten Vielfalt von Sprachen, Dialekten und Kulturen Uniformität wird, dann riecht das, dann stinkt das nach Gewalt, Unterdrückung und zwangsweiser Assimilation. Wir kennen das aus der Geschichte immer wieder: Stammesgruppen, Ethnien, Völker werden in ihrer Identität gebrochen und zerbrochen, es wird ihnen verboten, ihre Muttersprache zu sprechen, ihnen werden fremde Namen gegeben.
Dann wäre die eigentliche Sünde von Babel, dass sich die Menschen der gottgewollten Vielfalt widersetzt haben und sich eigenmächtig, vielleicht sogar gewalttätig zusammenschließen. Und dann ist die Zerstreuung, von der die Geschichte am Ende berichtet, zumindest nicht nur Strafe, sondern auch Wiederherstellung des göttlichen Schöpfungsplans.

In dieser Perspektive ist auch das Pfingstwunder der Apostelgeschichte zu lesen. Denn dort wird ja nicht behauptet, die Parther und Meder und Elamiter hätten alle eine einzige Sprache gesprochen. Nein, ihre Sprachen blieben unterschiedlich. Neu und wunderbar ist nur, dass sie alle ihre unterschiedlichen Sprachen nun gegenseitig verstanden. Und diese Gemeinschaft im Hören ist das Wunder von Pfingsten.

Diese Linie kann man auch zur Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa weiterdenken. Die „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ kann eben nicht nur vorne betont werden, sondern auch hinten, als „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“. Methodisten müssen keine Reformierten werden, Unierte keine Lutheraner. Wichtig ist, dass sie sich als gemeinsam Hörende begreifen, dass sie auf Gottes Wort hören. Und aufeinander. Das ist nicht einfach: Eine lutherische Staatskirche wie in Dänemark kann sich nicht in gleicher Weise sozialpolitisch zur wirtschaftlichen Situation der EU äußern wie die Waldenser als Minderheitenkirche im katholischen Italien. Und die reichen und großen Landeskirchen in Deutschland haben ganz andere kirchliche Herausforderungen als die armen und wenigen Evangelischen in Osteuropa. Diese Verschiedenheit können wir nicht nur als Problem oder gar als göttliche Strafe begreifen. Sie bereichert uns auch, sie zeigt, wie evangelisches Christsein auch anders gelebt werden kann.

Und sie öffnet die Augen dafür, dass im Leben des 40jährigen Jubilars eben nicht nur alles Licht und Glanz ist. Sondern dass die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen auch nicht ganz von dem verschont geblieben ist, was bei menschlichen Jubilaren um die 40 manchmal die midlife-crisis genannt wird. Die in Leuenberg 1973 erklärte Kirchengemeinschaft ist eben nicht nur verwirklicht, sie muss auch immer wieder verwirklicht werden. Und zwar nicht nur auf der Ebene von Konsensdokumenten. Sondern vor allem im Leben der Kirchen und Gemeinden.
Wir verwirklichen Kirchengemeinschaft, indem wir gemeinsam Abendmahl feiern. Dazu heißt es in (Artikel 16) der Konkordie: „Wenn wir das Abendmahl feiern, verkündigen wir den Tod Christi, durch den Gott die Welt mit sich selbst versöhnt hat. Wir bekennen die Gegenwart des auferstandenen Herrn unter uns. In der Freude darüber, dass der Herr zu uns gekommen ist, waren wir auf seine Zukunft in Herrlichkeit.“
Und wir verwirklichen Kirchengemeinschaft, indem wir gemeinsam singen. Im Vorwort zum Gesangbuch „Colours of grace“ heißt es: „Einstimmend in das gemeinsame Lied erfährt die Gemeinde, dass sie zusammengehört, allem Trennenden zum Trotz.“

„Die Legende von Babylon / und was geschah /
das ist nun ein paar Tausend Jahre her /
und heute, versteht heute der eine Mensch den anderen?“

Nun, immerhin die evangelischen Kirchen in Europa verstehen einander. Allem Trennenden zum Trotz. Zumindest besser als sie das vor einem halben Jahrhundert getan haben. Sie haben Gemeinschaft erfahren. Diese Erfahrung wünsche ich auch mir und wünsche ich uns. Jetzt im Gottesdienst und darüber hinaus, in der ganzen Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa.


Amen.

Quelle: Kirchengemeinschaft erklärt und verwirklicht. Predigt über Gen. 11,1-9 anlässlich des 40jährigen Jubiläums der Leuenberger Konkordie am 17. März 2013 in St. Petri Dortmund, in: 40 Jahre Leuenberger Konkordie. Kirchengemeinschaft als zukunftsweisendes Modell kirchlicher Einheit? (epd-Dokumentation Nr. 43 v. 22.10.2013), S. 27-29