Denjenigen, die aus (vermeintlich) christlichen Gründen zu den prinzipiellen Impfgegnern gehören, kann man mit Martin Luthers Schrift „Ob man vor dem Sterben fliehen möge“ von 1527 antworten. Luther plädiert dort durchgängig für den Gebrauch der von Gott geschenkten Vernunft im Kampf gegen die Pest, um unvernünftiges Verhalten zu verhindern. Zu diesem unvernünftigen Verhalten gehört für ihn auch, unter der Berufung auf das Gottvertrauen unverantwortlich zu handeln.
Einen Abschnitt aus Luther Schrift könnte man heute mit „Wider die Impfgegner“ überschreiben:
„Sie verachten es, Arznei zu nehmen und meiden die Stätten und Personen nicht, die die Pest gehabt haben und von ihr genesen sind. sondern zechen und spielen mit ihnen, wollen damit ihre Kühnheit beweisen. […]
Solches heißt nicht Gott vertrauen, sondern Gott versuchen. Denn Gott hat die Arznei geschaffen und die Vernunft gegeben, dem Leib vorzustehen und ihn zu pflegen, daß er gesund sei und lebe. [….]
Nicht so, meine lieben Freunde, das ist nicht fein getan. Sondern gebrauche die Arznei, nimm zu dir, was dir helfen kann, räuchere Haus, Hof und Gasse, meide auch Personen und Stätten, wo dein Nächster dich nicht braucht.“
(Martin Luther, Ob man vor dem Sterben fliegen möge (1527), in: Martin Luther. Ausgewählte Schriften, hg. v. Karin Bornkamm u. Gerhard Ebeling, Bd. 2: Erneuerung von Frömmigkeit und Theologie, Insel-Verlag Frankfurt 1982, S.225-250, Zitate: S. 241.)
„Herr von Bülow, was gehört für Sie zu einem guten Gottesdienst?“ – um diese Frage ging es im Podcast „Lebenszeichen“, in dem ich am 6. Dezember 2020 zu Gast war (Lebenszeichen #19, 06.12.2020)
„Lebenszeichen“ ist der Titel des Podcasts der evangelischen Marienkirchengemeinde Stiftberg Herford. Aike Schäfer und Simon Hillebrecht besprechen mit wechselnden Gästen buchstäblich Gott und die Welt – samt allem dazwischen. Musikalisch untermalt wird jede Folge von den (großartigen!) Künstlerinnen und Künstlern der Marienkirchengemeinde.
In der 19. Folge fahren wir nach Bielefeld und besuchen im Landeskirchenamt den Landeskirchenrat Dr. Vicco von Bülow – Dezernent für Kirchliches Leben, Gottesdienst, Theologie und Kirchenmusik. Mit ihm sprechen wir über Gottesdienstzeiten, Trauungen und die Ehe für Alle – und gehen der Frage nach, was zu einem wirklich guten Gottesdienst gehört.
Moderation: Simon Hillebrecht und Aike Schäfer Intro/Outro: Dariia Lytvishko
„Fünf Jahre habe sich der Ausschuss damit beschäftigt, so Beintker in seiner Einbringungsrede und gleich zu Anfang betonte er: „Die Frage nach dem Handeln Gottes hat für den Glauben allergrößtes Gewicht, sie berührt gleichsam seine Schlagader.“
Auf der anderen Seite skizzierte Beintker die Alternative: „Was wäre von einem Gott zu halten, zu dessen höchster Vollkommenheit es gehört, selbstversunken ausschließlich um sich selbst zu kreisen oder irgendwo ein weltentzogenes Dasein am menschlichen Ideenhimmel zu fristen?“
Dass dies für ihn, Beintker, keine Alternative sei, wurde in der folgenden Viertelstunde deutlich, etwas für theologische Feinschmecker, ja, aber, und das ist die große Stärker Beintkers, etwas für theologische Feinschmeckerinnen und Feinschmecker aller Fachbereiche, denn Beintker verfügt über die Gabe, umfassende Dinge komprimiert, aber dabei eben nicht zu komplex zu formulieren, sondern in wunderbarer Weise elementar zu bleiben. Zum Beispiel, wenn er fragt: „Was ist eigentlich Handeln? Um dann fortzufahren: „Schon im Blick auf das menschliche Handeln ist diese Frage nicht leicht zu beantworten. Ist jedes Wirken ein Handeln? Ist jedes Verhalten ein Handeln? Was unterscheidet das Verhalten vom Handeln? Und lässt sich unter Umständen auch das Nicht-Handeln als Handeln auffassen? Was schon im Blick auf das menschliche Handeln nur scheinbar leicht zu beantworten ist, wird im Blick auf Gottes Handeln zu einer hochkomplexen Herausforderung für das Nachdenken.“
Dann kommt das Thema Corona. Für Beintker ist klar: „Die Corona-Krise ist nicht die erste Zumutung für die Rede vom Handeln Gottes und sie wird auch nicht die letzte Zumutung dieser Art bleiben.“ Er erinnert daran, dass es kürzlich eine öffentliche Kontroverse gegeben habe, „ob zwischen der Corona-Pandemie und dem Gericht Gottes ein Zusammenhang bestehe“. Beintkers Antwort: „Man müsste ein Prophet sein, um bei der Antwort auf diese Frage in der einen oder anderen Richtung das Richtige zu treffen.“ Aber es würde seiner Ansicht nach doch sehr weiterhelfen, wenn man sich klarmachte, dass zwischen der „Allmacht Gottes“ und der Vorstellung von „einer alles und jedes unmittelbar bewirkenden Allwirksamkeit erhebliche Unterschiede bestehen.“
Deshalb dürften „Allmacht und Allwirksamkeit … auf keinen Fall gleichgesetzt werden“. Gott könne eben nicht auf das „moderne ,Aktitivitätsparadigma‘“ festgelegt werden, „demzufolge nur als wirklich gilt, was wirksam ist und Wirkung entfaltet“. Beintker: „Der allmächtige Gott hat ein Recht auf Passivität“. Der Respekt davor, so der Theologe weiter, lindere zwar nicht „unsere Anfechtung“, aber könne vor dem „Missverständnis“ bewahren, die Corona-Pandemie sei ein „der Wirklichkeit Gottes entzogenes Aktionsfeld.“
Als stellvertretender Vorsitzender des theologischen Ausschusses habe ich gerne an der Erstellung dieses Votums mitgewirkt. Das Zusammenspiel von Theologie und Kirche liegt mir am Herzen; wenn es glückt, bin ich froh darüber.
Reformationsandacht des Landeskirchenamtes der Evangelischen Kirche von Westfalen am 3. November 2020 in der Alstädter Nicolaikirche Bielefeld
„trotzdem tröstlich“ – so hatte der Evangelische Kirchenkreis Hagen im Herbst 2020 auf Bannern die protestantische Botschaft in Zeiten von Corona plakatiert. #keinebange – mit dieser Message ging die Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste der EKD zur gleichen Zeit ins Netz. Und unter diesem Motto las ich die ausgezeichnete Predigt von Doris Gräb zum Reformationstag 2017. Und konnte vieles davon mir mit Dank leicht überabeitet, gekürzt und aktualisiert zu eigen machen. Aber es hat sich gezeigt: Auch in der aktuellen Krise kann die ganz alte Botschaft der Reformation sehr tröstlich sein.
Liebe LKA-Gemeinde!
„Ein feste Burg ist unser Gott“. – Dieses Lied gehört schon immer zum Reformationstag. Es gehört zum Reformationstag – und, noch mehr sogar, es gehört zu unserer evangelischen Identität. Wahrscheinlich mehr noch als die 95 Thesen, die Luther vor 502 Jahren an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg angebracht hat.
Ich bin evangelisch. Wir sind evangelisch. Und so das ist unser Lied, seit damals – bis heute.
Damals, Luther hat dieses Lied 1527 geschrieben, – da war nach dem Thesenanschlag im Jahr 1517 ein ganzes Jahrzehnt ins Land gegangen. Viel war geschehen, was Martin Luther so nicht vorausgesehen hatte: Der Kampf gegen Rom; die Standhaftigkeit vor dem Kaiser und den Fürsten. Die Flucht auf die Wartburg. Der Streit ums Abendmahl. Schon wieder der Streit um die rechte Lehre, jetzt unter seinen Schülern.
Und dann wütet zu all dem auch noch die Pest in Wittenberg. Familie Luther öffnet ihr Haus für Freunde und Schüler, pflegt Kranke, muss Frauen und Kinder zu Grabe tragen.
In seiner Schrift „Ob man vorm Sterben fliegen möge“ begründet Luther, warum er das tut. Hören Sie genau zu, das klingt erstaunlich modern: „Wenn Gott tödliche Seuchen schickt, will ich Gott bitten, gnädig zu sein und der Seuche zu wehren. Dann will ich das Haus räuchern und lüften, Arznei geben und nehmen, Ort meiden, wo man mich nicht braucht damit ich nicht andere vergifte und anstecke und ihnen durch meine Nachlässigkeit eine Ursache zum Tode werden. Wenn mein Nächster mich aber braucht, so will ich weder Ort noch Person meiden, sondern frei zu ihm gehen und helfen. Siehe, das ist ein gottesfürchtiger Glaube, der nicht tollkühn und dumm und dreist ist und Gott nicht versucht.“
Da ist alles drin, woran wir heute denken, wenn der Corona-Virus unsere Gegenwart bestimmt: Viel Lüften. Vernünftiges Verhalten. Abstand halten. Homeoffice. Intensivstationen. Seelsorge in Altenheimen. Erstaunlich modern, dieser Reformator.
Aber Luther ist eben nicht nur der Glaubensheld, von dem wir heute einfach nur zu lernen brauchen. In einem Brief an seinen Freund Nikolaus von Amsdorf schreibt er am 1. November 1527, dass ihm ganz und gar nicht heldenhaft zumute ist: „Draußen sind Kämpfe, inwendig Schrecken, und zwar herbe; auswendig Streit – inwendig Furcht.“
Auch das kennen wir heute: Den Streit zwischen den „Covidioten“, also den Coronaleugnern, und den „Schlafschafen“, also denen, die Corona ernst nehmen.
Und da sehe ich Luther in seiner Studierstube sitzen, von all dem unmittelbar erlebten Leid, von grundlegenden Zweifeln und Depressionen durchgeschüttelt und angefochten. Und er fragt sich: was kann mir jetzt noch helfen? Wo finde ich Hoffnung und Zuversicht? Wo ist ein Ort, zu dem ich fliehen kann?
Er liest in den Psalmen, liest den 46. Psalm, wo es heißt: „Gott ist unsere Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken“.
Und er erinnert sich an die Wartburg. Dort, hinter den trutzigen Mauern, hatte er 1521 Schutz gefunden, vor dem Zugriff des Kaisers. Große Hilfe in äußerster Gefahr.
Dem 46. Psalm gibt er diese Überschrift „Ein feste Burg ist unser Gott“ – Und dann schreibt er das Lied, sein Lied, sein Bekenntnis.
„Er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat betroffen“. Und dazu auch die Melodie, die gar nicht depressiv und schwer, sondern eher leicht und bewegt daher kommt, wenn auch keinesfalls jubelnd oder gar triumphal. Schade, dass wir sie nicht singen können.
Ein feste Burg ist unser Gott – ja, aber eben doch ganz anders als die trutzigen, meterdicken Mauern der Wartburg mit ihren Zinnen und Türmen.
Nein, da schreibt doch einer, der von Ängsten gequält, von Zweifeln übermannt ist, von Depressionen geschüttelt. Eher leise, und nicht triumphierend dringt es an unser Ohr:
Dennoch, trotz allem, trotzdem tröstlich, keine Bange: „Und wenn die Welt voll Teufel wär und wollt uns gar verschlingen, so fürchten wir uns nicht so sehr…..“ Auch dann noch: Gott wie eine Burg. Wie eine letzte Zuflucht, wenn alles ins Wanken gerät. Dennoch brauchst du dich nicht zu fürchten!
Ein Trostlied, auch für uns heute, im zweiten Corona-Lockdown, auch wenn es „nur“ ein Lockdown light ist. In all den ambivalenten, widersprüchlichen Erfahrungen des Lebens, auch noch in abgrundtiefer Angst und bitterer Not kann ich dessen gewiss sein: da ist einer, der mich hält, der mich nicht ins Bodenlose sinken lässt, der mich mit seinem Schutz umgibt: Ein feste Burg ist mein, ist unser Gott. Darauf kann ich vertrauen, im Leben und im Sterben.
Aus Gottes Gnade und durch seine Liebe bin ich, Martin Luther, bin ich, Vicco von Bülow, ein freier Mensch – befreit zu einem Leben, das sich, was auch immer geschehen mag, in Gott, der festen Burg, gegründet und geborgen weiß.
Ich, Martin Luther, ich, Vicco von Bülow, ich armer, elender, sündiger Mensch, ich verdanke mein Leben der Gnade und Liebe Gottes. Getragen von dieser Liebe bin ich in die herrliche Freiheit der Kinder Gottes entlassen – und darf mein Leben in dieser Freiheit selbstbestimmt und selbstbewusst führen.
Natürlich: Martin Luther selbst ist das beste Beispiel dafür, dass ein Leben in Freiheit nicht nur immer leicht und gradlinig verläuft. Freiheit führt in Konflikte und auch in Streit, weil sie doch die Vielfalt der Meinungen und Positionen zur Folge hat. Und auch heute sehen wir die Vielfalt der Meinungen, wie wir uns als Kirche und als Gesellschaft richtig in dieser Krise verhalten sollen. Manchmal erschrecke ich richtig, wenn ich sehe, wie hart da die Gegensätze sind.
„Draußen sind Kämpfe, inwendig Schrecken und zwar herbe, auswendig Streit – inwendig Furcht“ – ja, immer noch, gerade in einem zur Freiheit befreiten Gotteskind.
Das Leben mit all seinen unterschiedlichsten Erfahrungen bleibt ambivalent; die im Glauben an Gott gegründete Existenz angefochten und alles andere als siegesgewiss. Dass Gott allein in unserem widersprüchlichen Leben unsere feste Burg ist, dessen müssen wir uns immer wieder neu vergewissern.
Das müssen wir immer neu glauben lernen. Aber das können wir auch glauben. Glauben heißt eben nicht „nicht wissen“. Sondern Glauben heißt vertrauen. Gerade in dieser Zeit können wir auf Gott vertrauen. Und das ist trotzdem tröstlich. Keine Bange.
Amen.
Ein feste Burg ist unser Gott (Text: Martin Luther)
Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen. Er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat betroffen. Der alt böse Feind mit Ernst er’s jetzt meint, groß Macht und viel List sein grausam Rüstung ist, auf Erd ist nicht seinsgleichen.
Mit unsrer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren; es streit’ für uns der rechte Mann, den Gott hat selbst erkoren. Fragst du, wer der ist? Er heißt Jesus Christ, der Herr Zebaoth, und ist kein andrer Gott, das Feld muss er behalten.
Und wenn die Welt voll Teufel wär und wollt uns gar verschlingen, so fürchten wir uns nicht so sehr, es soll uns doch gelingen. Der Fürst dieser Welt, wie sau’r er sich stellt, tut er uns doch nicht; das macht, er ist gericht’: ein Wörtlein kann ihn fällen.
Das Wort sie sollen lassen stahn und kein’ Dank dazu haben; er ist bei uns wohl auf dem Plan mit seinem Geist und Gaben. Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib: lass fahren dahin, sie haben’s kein’ Gewinn, das Reich muss uns doch bleiben.
Am Anfang war … Blitz und Donner. Als Martin Luther im Jahr 1505 auf dem Weg nach Erfurt den Ort Stotternheim passierte, brach ein gewaltiges Gewitter los. Die Geschichte erzählt, dass ein Blitz dicht neben Luther einschlug. In Todesangst soll er gerufen haben: „Hilf heilige Anna, ich will ein Mönch werden.“ Die Reformation ist eine Geschichte der Befreiung aus der Angst. Ein Schritt auf dem Weg in die Freiheit. Luther selbst hat von sich als „Madensack“ gesprochen. Aber: Wenn man die Wirkung betrachtet, steht Martin Luther im Mittelpunkt der Reformation. Deshalb ist eine Martin Luther-Suite mehr als angebracht. Lucas Schmid hat sie komponiert, seinerzeit noch Musiker bei der NDR-Bigband. .
Martin Luther hat einmal gesagt: „Die Musica ist eine schöne und herrliche Gabe Gottes.“ Jazz kannte er nicht. Aber wir werden heute hören, wie a jazz reformation klingt und ich werde ein paar Gedanken zur Verbindung von Musik, von Jazz und von Reformation mit Ihnen teilen. Auch der Komponist des heutigen Abends hat sich Gedanken zu dieser Verbindung gemacht. Lucas Schmid sagt: Eine Brücke zu schlagen und die reformatorische Musik in das schöpferische, junge Idiom des Jazz zu transportieren, empfand ich als aufregendes Unterfangen. Wie viele Musikgattungen, so ist auch der Jazz aus einem „Schmelztiegelprozeß“ entstanden. Eine der Schmelztiegelbestandteile ist der Gospel, ein Kirchenlied. Eine andere die Improvisation, in der Kirchenmusik von Organisten über mehrere Jahrhunderte praktiziert. Wohl in höchster Vollendung beherrschte Johann Sebastian Bach die Improvisation, seine Bearbeitungen der Luther Choräle für Orgel sind allgemeines Kulturgut. Den raumfüllenden Klangeindruck einer Orgel auf eine Bigband zu übertragen, lag auf der Hand. Dieses große Ensemble verfügt ebenfalls über eine Fülle von Klangfarben, zudem ist es mit wunderbaren Improvisatoren besetzt. Die Musik von Luther läßt bei der Bearbeitung viel Ausdrucksfreiheit zu. Diese findet man im Jazz wieder, erweitert durch die Soloimprovisation. Als Musiker der NDR Bigband war mir die Möglichkeit gegeben, die auf Partitur geschriebene – stumme – Musik in Klang umzusetzen. Das aufregende Unterfangen kulminiert mit der aufregenden Erfahrung der Aufführung.
1. STOTTERNHEIM 1505 Komp./Arr. : Lucas M. Schmid
„Hilf heilige Anna, ich will ein Mönch werden.“ Dieser Satz bestimmt das erste Motiv. Die Zielnote, also die höchste Note, erklingt bei „Mönch“. Luther hielt Wort, er wurde Mönch und nicht Rechtsgelehrter, trotz der Empörung seines Vaters und der Familie. Am Ende von „Stotternheim 1505“ hört man einen langen tiefen Ton, der das Einstimmen der Mönche beim Chorsingen und damit den Eintritt ins Augustinerkloster andeutet.
Dass Luther in einen Orden in der Tradition des spätantiken Kirchenvaters Augustinus eintrat, hat die weitere theologische Entwicklung mitbestimmt. Martin Luther hat sein Leben als Teil einer religiösen Leistungsgesellschaft gedeutet. Durch eine besondere Intensität religiöser Leistung sollte das Anrecht auf ein gnädiges göttliches Urteil im Endgericht verstärkt werden. Wir wissen, dass Luther als Mönch in Erfurt so viele Sunden bei sich aufzuspüren suchte und beichtete, dass es seinem Beichtvater Johann von Staupitz zur Last wurde. Ja, er zweifelte, ob es sich wirklich um Sünden handele. Solche Erfahrungen machen heute nur noch Menschen in bestimmten religiösen Milieus, sie sind kein für heutige Mehrheitsfrömmigkeit charakteristisches Verhalten. Uns ist auch das übersteigerte spätmittelalterliche und frühreformatorische Bild von Gott als einem Gerichtsherrn, der wie ein absolutistischer Monarch unumschränkt herrscht, tief problematisch geworden. Es entspricht in seiner Einseitigkeit weder dem, was Jesus von Nazareth über seinen Vater lehrt, noch dem, was viele Passagen des Alten Testaments über den Gott Israels verkünden. Bedeutsam bis heute ist aber, dass Martin Luther sehr selbstkritisch im Blick auf seinen eigenen Lebensweg formuliert hat, dass sein Ringen um das Heil letzten Endes von purem Egoismus geprägt war. Er erkannte nämlich, dass es ihm insbesondere beim Beichten nicht um Gott, sondern um ihn selbst und seine persönliche Rettung ging. Mit seiner Vorstellung, eine vor Gottes Richterstuhl akzeptable religiöse Leistung erbringen zu können, stellte er sich selbst Gott als eine gleichwertige Größe gegenüber. Gerade eben so, als ob vor einem imaginären Dritten zwei auf derselben Stufe stehende Parteien über ihre Anspruche gegeneinander verhandeln wurden. Als Mönch in der Tradition Augustins wusste Luther aber, dass der Mensch lieber selbst Gott sein will, als zu erkennen, wie wenig perfekt er durch sein Leben stolpert. Das Bemühen um die Vergebung der Sünden nennt die christliche Tradition „Buße“. Am 31.10.1517 (also vor fast 497 Jahren) veröffentliche Martin Luther seine berühmt gewordenen 95 Thesen gegen den Ablass. In der ersten beschreibt er sein Verständnis von Buße: Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht „Tut Buße“ u.s.w. (Matth. 4,17), hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll. Ein weiterer zentraler Punkt in der Frühgeschichte der Reformation war Luthers Auftritt vor Kaiser und Reich beim Reichstag in Worms am 18. April 1521. Lange war die Erinnerung daran durch die Überlieferung geprägt, dass der Reformator seine Rede mit den Worten schloss: „Ich kan nicht anderst, hie stehe ich, Gott helff mir. Amen.“ Damit gab der Reformator vor allem in den nationalen Erinnerungskulturen ein Beispiel für protestantische Standhaftigkeit gegen autoritäre Zumutung. Inzwischen hat sich durchaus die Einsicht im kulturellen Gedächtnis verbreitet, dass Luther seine Wormser Rede höchstwahrscheinlich anders geschlossen hat. Die Erinnerung an diesen authentischen Schluss im Zusammenhang des Jubiläums 2017 ist keine bloße historische Besserwisserei. Sie zeigt vielmehr, dass Luther 1521 erstmals an prominenter Stelle das für die europäische Neuzeit so überaus bedeutsame Thema der Gewissensfreiheit eines Einzelnen gegenüber institutionellen Zwängen prominent zur Geltung brachte. Luther sagte damals: „derhalben ich nicht mag noch will widerrufen, weil wider das gewissen zu handeln, beschwerlich, unheilsam und (ge)ferlich ist. Gott helf mir! Amen.“ Luthers Rede von 1521 war keine feierliche Erklärung der Gewissensfreiheit im modernen Sinne eines allgemeinen Menschenrechts. Er wusste sein Gewissen, wie er selbst kurz vor dem zitierten Schluss seiner Rede sagte, „durch die Worte Gottes gefangen“. Aber er drückte mit seinen Worten seine feste Überzeugung aus, dass weltliche Macht ihre Grenzen an eben diesem Gewissen findet, durch das er selbst sich unmittelbar vor Gott gestellt sah.
2. NU FREUD‘ EUCH LIEBE CHRISTEN GMEIN Komp.: Martin Luther Arr.: Lucas M. Schmid
Luthers erstes Gemeindelied aus dem Jahre 1523.
Wurde im ersten evangelischen Liederbuch, dem Achtliederbuch veröffenlticht. Steht heute noch im Evangelischen Gesangbuch.
Nun freut euch, lieben Christen g’mein, und lasst uns fröhlich springen, dass wir getrost und all in ein mit Lust und Liebe singen, was Gott an uns gewendet hat und seine süße Wundertat; gar teu’r hat er’s erworben. (EG 341,1)
Der Einstimmton erklingt wieder. Die Solotrompete spielt den Choral an und das Orchester – die Gemeinde – antwortet. Der Charakter dieses Stückes tendiert zum „Latin feel“ oder besser gesagt „Salsa“; im übertragenen Sinn einer Form, in der die verschiedensten (Musik-) Strömungen frei von Vorurteilen angenommen und verarbeitet werden.
3. LOBGESANG: NU BITTEN WIR DEN HEILIGEN GEIST Komp.: Alte deutsche Weise Arr.: Lucas M. Schmid
1. Nun bitten wir den heiligen Geist Um den rechten glauben allermeist, Daß er uns behüte an unserm ende, Wenn wir heimfahren aus diesem elende. Kyrieleis!
Der Heilige Geist, für uns oft nur schwer greifbar, wurde von Luther in diesem Lied mit verschiedensten Worten angeredet: 2. Du werthes licht! 3. Du süße lieb‘! 4. Du höchster tröster in aller noth! (EG 124)
Der Heilige Geist ist in biblischer Perspektive schon bei der Entstehung des Lebens wirksam – er schwebte über den Wassern -, er bewirkt neue Lebensaufbrüche und überschreitet das Vorgegebene in seiner Regelhaftigkeit. Gott haucht seinen Geist allem Leben ein, erfüllt es so mit seiner heilsamen Präsenz und bleibt zugleich Subjekt alles Lebendigen. Die dynamische Präsenz des Geistes zeigt sich in der Pfingstgeschichte, wenn vorgegebene Sprache in ihrer verbindenden Gestalt, aber auch ihrer Begrenztheit gegenüber anderem überschritten wird und im Hören, aber auch im Sprechen neue, ungeahnte Verständigung ermöglicht wird.
Als Luther die Kirche in Rom angriff, rief er: „Nun helfe uns Gott und gebe uns der Posaunen eine, mit der die Mauern Jerichos wurden umgeblasen, damit auch wir diese strohernen und papiernen Mauern (Widerstand der Römischen Kirche) umblasen…“ Diesem Ausruf folgend, steht die Posaune im Mittelpunkt des Arrangements. Das von der Gospelmusik inspirierte Stück steht im 5/4 Takt.
4. PATREM Komp.: Nikolaus von Kosel Arr.: Lucas M. Schmid
Die Melodie stammt aus dem 15. Jahrhundert. Sie steht zuerst über einem Credo in einer Handschrift von 1417 in Breslau und weist als Autor Nikolaus von Kosel aus. Nikolaus von Kosel (1390-1423) war ein schlesischer Franziskaner-Minorit. Er gilt als der früheste deutsche Schriftsteller Oberschlesiens und war geprägt durcheine Marien- und Heiligenfrömmigkeit. Luther übernahm seine Melodie und versah sie mit einem neuen, christuszentrierten Text. So wandt er sich gegen das Anbeten der Heiligen.
Vgl Art. 21 der Confessio Augustana von 1530: „Vom Dienst der Heiligen“: „Vom Heiligendienst wird von den Unseren so gelehrt, daß man der Heiligen gedenken soll, damit wir unseren Glauben stärken, wenn wir sehen, wie ihnen Gnade widerfahren und auch wie ihnen durch den Glauben geholfen worden ist; außerdem soll man sich an ihren guten Werken ein Beispiel nehmen, ein jeder in seinem Beruf.* Aus der Hl. Schrift kann man aber nicht beweisen, daß man die Heiligen anrufen oder Hilfe bei ihnen suchen soll. […]“
Das Altsaxophon übernimmt in diesem Stück den Solopart. Das Orchester setzt in den Fermaten ein und verleiht dem Credo verschiedene Stimmungen als Synonym für Zustand, Entwicklungen, Phasen. Die Soloimprovisation des Altsaxophons zerrt diese Stimmungen in die Extreme.
5. VOM HIMMEL HOCH – EIN KINDERLIED Komp.: vermutlich aus dem Niederdeutschen Arr.: Lucas M. Schmid
Vom Himmel hoch, da komm ich her. Ich bring’ euch gute neue Mär, Der guten Mär bring ich so viel, Davon ich singn und sagen will. (EG 24,1)
Hier heißt es von der gute Mär, also von der frohen Botschaft, vom Evangelium „Davon ich singen und sagen will…“ Davon ich singen und sagen will – in der Reihenfolge: Musik als erstes Medium der Verkündigung! Davon ich singen und sagen will: Also, erst das Singen, dann das Sagen – erst die Performance, dann das kognitive Verstehen – oder wenn Sie es auf den Glauben übertragen wollen: Glaube ist zuallererst Vertrauen, kindliches Zutrauen, und dann erst Wissen und Verstehen. Dieser Vorgang ist für den christlichen Glauben grundlegend. Der Ausruf des Orchesters „Susanine!“ spielt auf die 14. Strophe von Luthers Text an und bezeichnet ein veraltetes Wort für ein Wiegenlied, das heute nur noch hier vorkommt.: Davon ich allzeit fröhlich sei, Zu springen, singen immer frei Das rechte Susaninne schon, Mit Herzenslust den süßen Ton. (EG 24,14)
6. KATHARINA VON BORA / AMOUR FOU Komp./Arr.: Lucas M. Schmid
Am 13. Juni 1525 heiratete Luther Katharina von Bora. Diese Jazz-Ballade spielt darauf an, dass beide es sich zu Beginn nicht leicht gemacht haben. Zunächst hielt Luther die Tochter aus verarmtem Rittergeschlecht für hochnäsig. Dennoch nahm er sie aus Vernunftgründen zur Frau: Sie war eine ehemalige Nonne, die aus ihrem Kloster entflohen war. Die Hochzeit eines ehemaligen Mönchs mit einer ehemaligen Nonne war ein kräftiges Symbol gegen die von Luther abgelehnte Verpflichtung zum Zölibat. Dass aber dann auch die Emotionen erwachten, ist eine wunderbare Weiterentwicklung der Geschichte. Ja, sie lernten sich nicht nur kennen, sondern auch lieben. Und das offene Haus, das sie führten und das unter Katharinas Leitung stand, wurde zum Modell für das evangelische Pfarrhaus der letzten fünf Jahrhunderte. Katharina von Bora wurde zu der „Lutherin“ (Eva Zeller). Und sie erinnert uns heute stellvertretend an die Frauen, die im 16. Jahrhundert die Reformation vorangetrieben haben. Und in deren Erbe die Frauen stehen, die seit 40 Jahren in unserer Landeskirche als Pfarrerinnen ordiniert wurden. Frauen, die dann auch als Superintendentin oder als Präses Leitungsverantwortung in unserer Kirche übernommen haben. Martin Luther hat in seiner großen Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ formuliert: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Es geht nicht darum, über Freiheit nur zu reden, sondern darum, die Freiheit zu leben.
Musikalisch baut sich anfangs eine Spannung auf , die sich dann in einen liegenden Ton, nämlich D, auflöst. Dieser Vorgang findet mehrmals im Stück statt und deutet auf die Spannung, die sich in einer anfänglichen Liebesbeziehung aufbaut, ein Stau der Gefühle, sozusagen ein Kribbeln im Bauch, und dann kommt der erlösende , entspannende Moment , der diese positive Spannung wohltuend auflöst. Die Entspannung kann das Erwidern der Gefühle sein , ein verzückter Blick, oder ein Lächeln, ein Erwidern der Gefühle.
7. GOTT DER VATER WON UNS BEY Komp.: deutsche Litanei aus dem 15. Jhr. von Luther bearbeitet Arr.: Lucas M. Schmid
1. Gott der Vater wohn uns bei und lass uns nicht verderben, Mach uns aller Sünden frei und hilf uns selig sterben, für dem Teufel uns bewahr, halt uns bei festem Glauben […] Amen, Amen, das sei war, so singen wir Halleluia. 2. Jesus Christus wohn uns bei etc. 3. Heilig Geist der wohn uns bei etc.
Der trinitarische Aufbau des Liedes (das als eines der wenigen Luther-Lieder nicht im EG abgedruckt wurde) inspiriert zu einer trinitarischen Deutung der Musik, Gott der Vater wohn uns bei:Musik ist eine Gabe des Schöpfers, die von seiner Weisheit und Phantasie kündet. Sie ist eine freie Kunst, die uns Menschen zur Gestaltung anvertraut ist. Musik stiftet Beziehung. Sie kann Ausführende und Zuhörer mit Freude erfüllen, ja sogar den Schöpfer verherrlichen. Jesus Christus wohn uns bei: Das Evangelium ist kein papiernes Lesewort, die frohe Botschaft von Jesus Christus ist ein sinnliches Klangereignis. Deshalb nimmt die christliche Kirche die Musik als Gabe Gottes an und lässt sich durch sie bewegen und anreden. Als klingendes Wort Christi lädt die Kirchenmusik Menschen zum Glauben ein, tröstet und vergewissert. Klagend und lobend, flehend und dankend gibt sie dem dreieinigen Gott die Ehre, Heilig Geist der wohn uns bei: Gottes Geist ist „Poet und Kantor.“ Er macht die natürliche Gabe der Musik zu einem Instrument, das Gott die Ehre gibt und Glauben schafft, Gemeinschaft stiftet und tröstet, aber auch provoziert und anregt. Kirchenmusik bietet einen vielfältigen Beitrag zur Gegenwartskultur, sie schafft auch ein Stück „Gegenkultur zum Zeitgeist“. Sie geht aber auch nicht gänzlich an den Hörgewohnheiten und Erwartungen der Menschen vorbei.
Lucas Schmid hat die Anmerkung „…von Luther bearbeitet…“ zum Anlass genommen, die Bearbeitung dieses Stückes fortzusetzen. Um dem vorgegebenen alla breve gerecht zu werden, finden Wechsel zwischen einem schnellen 3/4 Takt und einem medium Swing 4/4 Takt statt. Wer den Text zur Melodie kennt, wird bemerken, das der Textabschnitt „Gott der Vater won uns bey…“ in einer strahlenden Dur Farbe erscheint und dass einige Takte später im Abschnitt „…für dem Teufel uns bewar…“ die Melodie in Moll ertönt.
8. HYMNUS / NU KOMM DER HEIDEN HEILAND Komp.: Altlateinisches Lied, Text Luther nach nach dem Hymnus veni redemptor gentium des Ambrosius von Mailand um 386 Arr.: Lucas M. Schmid
Luther durchlebte auch die Einsamkeit, den quälenden Selbstzweifel, die fast selbstzerstörerische Askese und äußerst labile Gemütszustände.
Seinen Trost fand er im Blick auf Jesus Christus. Er war Luther das Licht im Dunkel der Seelennacht. Von der Geburt Jesu, also von der Menschwerdung Gottes, erzählt dieses Lied: Nun komm, der Heiden Heiland, der Jungfrauen Kind erkannt, dass sich wunder alle Welt, Gott solch Geburt ihm bestellt. (EG 4,1)
In reformatorischer Perspektive ist das ganz zentral: In Jesus Christus hat Gott sich so auf die Menschen eingelassen, dass er alles, was die Menschen von ihm trennte, hinweggenommen hat. In Christus hat Gott zum Heil der Menschen gehandelt, er hat die Sünde und den Tod als von Gott Trennendes ein für alle Mal weggenommen. Weil in Jesus Christus Gott umfassend und für alle Menschen gehandelt hat, betont Luther: Jesus Christus allein ist das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt. Mit der Formel „Christus allein“ – lateinisch solus Christus – erinnern die Reformatoren an diese besondere Bedeutung und Exklusivität Jesu Christi.
Das Arrangement ist gefärbt vom expressiven Tango Nuevo.
9. JOANNES HUSSEN LIED / JESUS CHRISTUS UNSER HEILAND Komp.: Johann Hus, Luther Arr.: Lucas M. Schmid
Jesus Christus, unser Heiland, Der von uns den Gotteszorn wandt, Durch das bitter Leiden sein – Half er uns aus der Höllen Pein. (nicht im EG)
Sola gratia etc. – aber nicht Solo Luthero. Luther befand sich in guter Gesellschaft: Philipp Melanchthon hat für die Entwicklung der Bildungsinstitutionen nicht nur im deutschen Raum eine entscheidende Bedeutung. Ulrich Zwingli hat die Verbindung von Reformation und Freiheit in der Züricher Bürgerschaft Gestalt werden lassen. Johannes Calvin begründete die Internationalität der Reformation durch seine Einbindung von französischen und anderen europäischen Traditionen. Die reformatorische Bewegung aber hätte sich nicht so rasant entwickelt, wenn nicht Landesfürsten wie Friedrich der Weise von Sachsen oder Philipp von Hessen sie gefördert hätten und die Bürgerschaften von Städten wie Zürich, Hamburg und Genf. Es waren aber nicht nur diese Herrscher und Theologen, sondern ganze Netzwerke verbundener Männer und Frauen, die das reformatorische Zeitalter möglich machten und prägten. Im größten Reformationsdenkmal der Welt, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Worms erbaut wurde, kommt das dadurch bildlich zum Ausdruck, dass dort neben den klassischen Reformatoren und den genannten Landesfürsten auch sogenannte Vorreformatoren wie Johannes Hus (1369-1415) abgebildet sind. Von ihm stammt das nächste Lied.
Die Melodie dieses Liedes ist in der Urform klar strukturiert. Obwohl auf dem Notensystem keine Taktstriche eingezeichnet sind, läßt sich die Melodie in eine gerade Taktart, in diesem Falle in einen 6/4 Takt und in zwei Dreiergruppen, einteilen. Grundlage für das einfache Muster des Rhythmus war die klare Aussage von Luthers Text. Gegensätze wie „hell“ und „dunkel“ im Text werden musikalisch mit forte und piano sowie durch die verschiedenen Soloimprovisationen umgesetzt.
10. L. DER REBELL Komp./Arr.: Lucas M. Schmid
Dieses Musikstück hat Lucas Schmid Martin Luther gewidmet, einem Menschen, der Stärke und Schwäche extrem auslebte, und es verstand Visionen zu verwirklichen.
Aber wie ist das nun mit Luther und Jazz, ja mit Gott und Jazz. „Gott kann kein Jazz“ – so hieß eine Rezension der Platte „Wynton Marsalis and Eric Clapton play the blues“, die 2011 erschien. Ich meine: Das stimmt so nicht. Von der Jazz-Sängerin Sarah Kaiser habe ich den Satz gehört: „Jesus ist Pop“. Pop, die Kurzform von Populär, kommt vom lateinischen Wort „populus“. Und das heißt: „das Volk, die Leute, die Menschen“. Zu Weihnachten feiern wir Jesu Geburt. Gott wurde Mensch. Wurde populus, wurde populär. Alles begann ja mit der Schöpfung. Gott schuf den Menschen und sah ihn an und „siehe, alles war sehr gut“. Doch dann kam mit dem Sündenfall alles ganz anders als geplant. Gott musste reagieren. Musste improvisieren. Und tat das, indem er Mensch wurde. Wenn es in einer Musikart um das Improvisieren, wenn es in einer der vielen Formen der Gottesgabe Musik um die Improvisation geht, dann im Jazz. Was ist denn Improvisation? Wenn ich es recht verstehe, ist Improvisation der kreative, spontane und subjektbestimmte Umgang mit dem, was vorgegeben ist. Ist Gott nicht kreativ, ist der Schöpfer nicht schöpferisch? Und ist nicht Gott der Inbegriff der Einheit von Form und Freiheit, Komposition und Inspiration? Ist Gott nicht Grund allen Lebens, und Leben nicht immer auch Improvisation? Gott kann kein Jazz? Er kann es wohl! Die kreative, spontane und individuelle Verarbeitung der Tradition lässt sich auch bei Martin Luther finden. Die Reformation kann man ja unter vielen verschiedenen Blickwinkeln sehen. Ich deute sie als ein religiöses Ereignis. Denn in ihrem Zentrum steht die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zu Gott. Luther war wie die anderen Reformatoren davon überzeugt, dass Gott selbst den rechten Glauben wecken und so das Verhältnis zu Gott erneuern werde. Im Mittelpunkt seines Denkens steht der Begriff der Rechtfertigung. Ein Wort, das sich heutzutage nicht von selbst versteht. Was es bedeutet, können wir vielleicht noch anhand der Redewendung „Gnade vor Recht“ verstehen. Ein Mensch, der nach Recht und Gesetz zu verurteilen ist, darf doch auf Gnade oder auch Begnadigung hoffen. Solche Formen der Vergebung „allein aus Gnaden ohne des Gesetzes Werke“ (Röm 3,28) kennen wir auch heute, selbst wenn sie in unserem Rechtssystem anachronistisch wirken. Der Mensch wird nicht bemessen nach dem, was er nach außen darstellt oder auch wie er persönlich dasteht, sondern er wird von Gott geliebt, anerkannt, gewürdigt, ganz unabhängig von seinem Bildungsstand, Einkommen, sozialen Hintergrund und gesellschaftlichen Ansehen. Diese Anerkennung oder Würdigung macht den Menschen wahrhaft frei. Schuld belastet ihn nicht mehr, ist aber auch nicht einfach vergessen, sondern ist als bekannte Schuld vergeben und dadurch überwunden. Genug der Predigt. Wir merken, wie unsere Worte nur um das kreisen können, was Gott für uns ist. Wir können ihn nicht festlegen mit unseren Gedanken, können ihn nicht definieren mit dem, was wir sagen. Das letzte Wort hat deshalb die Musik.
Liebe Gemeinde! „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.“
Diese Sätze Jesu aus dem Matthäusevangelium bringen inhaltlich etwas in mir zum Klingen. Sprechen tiefe menschliche Sehnsüchte an. Nehmen Motive auf, die aus dem Alten Testament stammen. Jesus von Nazareth hat seinen Namensvetter Jesus Sirach bestimmt gelesen. Dieser alttestamentliche Weisheitslehrer schreibt als Fazit seines Buches (Sirach 51,23-27): „Kommt her zu mir, ihr Ungebildeten, und wohnt im Haus der Bildung! Warum wollt ihr noch warten und eure Seelen dürsten lassen? Ich habe meinen Mund aufgetan und gesprochen: Kauft euch Weisheit – ganz ohne Geld! Beugt euren Nacken unter ihr Joch und nehmt ihre Erziehung an. Sie ist nahe und leicht zu finden. Seht mich an: Ich habe eine kleine Zeit Mühe und Arbeit gehabt und habe großen Trost gefunden.“
Sie haben die Parallelen bestimmt wiedererkannt. Aber das, was bei Jesus Sirach die Weisheit ist, die Bildung, die Erziehung, das ist bei Matthäus die Person Jesus selbst. Zu ihm sollen die Mühseligen und Beladenen kommen, er will sie erquicken, er will ihnen Ruhe geben. „Erquicken“ und „Ruhe“ kommen übrigens im griechischen Urtext des Matthäusevangeliums vom gleichen Wortstamm: „pauo“ und „pausis“. Da kommt unser deutsches Wort „Pause“ her. Jesus will uns eine Pause geben.
Und ehrlich gesagt: Die könnte ich brauchen, so eine Pause. Gerade nach den letzten Wochen. Zu Beginn der Corona-Krise hat der Soziologe Hartmut Rosa gesagt, jetzt, wo man zuhause bleiben müsse, käme die Entschleunigung, die man nutzen könne, um in Resonanz zu sich und seiner Umwelt zu kommen. Ehrlich gesagt, den Herrn Rosa würde ich gerne noch mal sprechen. In den letzten Wochen ist bei mir beruflich und privat ganz viel passiert, aber sicher keine Entschleunigung. Ich hätte eine Pause durchaus brauchen können, etwas Ruhe für meine Seele. Und da bin ich ja nicht allein.
Auch die Kassiererin im Supermarkt hätte eine Pause brauchen können, wenn sie zum wiederholten Mal den Streit zwischen Kunden schlichten musste, wer denn nun die letzte Klopapierpackung bekommt. Sie erinnern sich, das war das große Thema vor ein paar Wochen. Im Rückblick klingt das vielleicht lustig, aber damals war es das gar nicht. Die alleinerziehende Mutter hätte eine Pause gebraucht, wenn sie nach der täglichen Arbeit müde nach Hause kam zum Homeschooling mit ihren Kindern, die den ganzen Tag zuhause gesessen haben. In der Corona-Krise waren es ja vor allem die Frauen, die die Doppelbelastung von Beruf und Familie noch stärker als zuvor tragen mussten. Aber auch diejenigen, die nicht wie bisher gearbeitet haben, hatten zwar vielleicht Zeit, aber keine Ruhe für ihre Seelen. Der Fabrikarbeiter, der in die Kurzarbeit geschickt wurde, und der nicht wusste, ob das Kurzarbeitergeld für die Miete und die Grundkosten seiner Familie reichen würde. Und der sich vor dem Moment fürchtet, wenn die Kurzarbeit in die Arbeitslosigkeit übergeht. Keine Ruhe für seine Seele. Der selbstständige Künstler, der nicht mehr vor Publikum auftreten konnte und weder Applaus noch Geld bekam, der hatte keine Ruhe für seine Seele. Und der Realschüler, die Abiturientin kurz vor ihrem Schulabschluss? Der Gastwirt, in dessen Restaurant sich auch nach der Öffnung kaum Gäste verirren? Die wohl auch nicht.
Vielleicht kann die Hoffnung auf die Sommerferien helfen? Urlaub ist ja immer eine Pause, in der man die Seele baumeln lassen kann. Aber auch die Sommerferien sind in diesem Jahr anders. Nicht in jedes Land kann gefahren werden. Kurz vorher noch Corona-Fälle in verschiedenen Grundschulen. Und dann der Corona-Ausbruch, der gerade in der Nachbarschaft in Rheda-Wiedenbrück passiert ist. Ein Skandal, was in der fleischverarbeitenden Industrie geschieht! Und wie damit umgegangen wird! Das darf nicht ohne Folgen bleiben. Wir müssen uns politisch kümmern um die Unterbringungssituation und die Hygienestandards in den Sammelunterkünften. Und wir brauchen eine neue gesellschaftliche Debatte über unser Konsumverhalten, das auf Dumpingpreisen und Dumpinglöhnen in der Fleischindustrie beruht. Dass jetzt im Kreis Gütersloh ausgerechnet die Schulen und die Kindergärten geschlossen werden, verstärkt aus meiner Sicht den Skandal. Immer auf die Kleinsten. Wenn dann noch eine Quarantäne hinzukommen sollte, die nicht nur die Schlachtfabrikmitarbeiter betrifft, sondern weitere Bevölkerungskreise, dann: Prost Mahlzeit! Dann ist nichts mit Ruhepause in den Sommerferien.
Was müsste eigentlich geschehen, damit wir aufatmen und Ruhe finden können? Das ist nicht nur eine rhetorische Frage für mich. Ich habe keine wirklich abschließende Antwort darauf gefunden. Vielleicht hilft es, zwei Spuren zu verfolgen, die Matthäus gelegt hat.
Eine Spur: Das Joch. Jesus sagt: „Mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.„ Das Joch ist ein altertümliches Gerät. Tiere tragen es, um eine Last zu schultern oder zu ziehen. An manchen Orten der Welt tragen Menschen bis heute ein Joch, um Wasser zu holen oder Waren zum nächsten Markt zu bringen. Wie gut, wenn es auf dem schweren Weg eine Wasserstelle gibt, an der die Lasten abgelegt werden können. Mensch und Tier haben hier die Möglichkeit, sich an dem frischen Nass zu erquicken. Wer von den Lasten seines Jochs nicht erdrückt werden soll, muss es absetzen. Erquickt werden können nur die, die bereit sind, ihre Lasten abzugeben und sich zu erfrischen. Als Mühselige und Beladene kommen Menschen mit ihrem Joch zu Jesus Christus. Der sagt ihnen nicht, dass sie gar nicht mühselig und beladen sind. Sondern der ruft sie gerade als Mühselige und Beladene zu sich. Der verspricht ihnen nicht, dass es überhaupt kein Joch mehr geben wird. „Ruhe finden für unsere Seelen“ heißt offensichtlich nicht, den ganzen Tag nur auf der faulen Haut zu liegen. Jesus übergibt ein ganz anderes, ein neues Joch. Dessen Last kann leicht sein und es muss nichts Drückendes haben. Mit dem Joch der Freiheit auf den Schultern müssen wir nicht mehr um Leben und Tod kämpfen. Das ist unsere Hoffnung: Wir können loslassen, weil wir von Jesus befreit worden sind. Unsere Sorgen um das, was mit uns wird, mit unseren Familien, mit unserer Gesellschaft können wir freigeben und sie Jesus Christus anvertrauen. Und dann können wir frei werden zum Dienst an Gott und unserem Nächsten in Familie und Gesellschaft. Einen Versuch wäre es wert, oder?
Die zweite Spur: Das Gotteslob. Damit beginnt der Predigttext ja. „Zu der Zeit fing Jesus an und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde“. Jesus preist seinen Vater im Himmel. Das ist erst einmal nicht ungewöhnlich. Aber wenn man genauer hinschaut, dann schon. Denn was ist „zu dieser Zeit“ passiert? Jesus und seine Jünger sind unterwegs in Galiläa und verkündigen das Wort Gottes. Aber sie bleiben wirkungslos. Und so klagt Jesus die Städte an, in denen sein Wort nicht auf Gehör gestoßen ist. „Weh dir, Kapernaum – Sodom wird es am Tag des Gerichts noch erträglich gehen im Vergleich zu dir.“ Und gerade in dieser Situation der Wirkungslosigkeit, des Misserfolgs ist Jesus nicht frustriert, sondern lobt Gott: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde“. Vielleicht eine gute Idee auch für uns. Das Lob Gottes bewirkt keine Weltflucht, ganz im Gegenteil. Wir können Gott loben mit Taten des Glaubens und der Liebe. Wer Kranke besucht, wer anderen Menschen zuhört und sie tröstet, wer sich für bessere Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie einsetzt, der lobt Gott auf eine ganz besondere Weise. Gesellschaftliches Handeln von Christen kann Gotteslob sein, ihm zur Ehre dienen. Gotteslob nimmt die Wirklichkeit dieser Welt zur Kenntnis. Auch wenn diese Wirklichkeit ihre Schattenseiten hat. Und trotzdem! Elie Wiesel hat einmal gesagt: „Um Gott zu loben, muss man leben, und um zu leben, muss man das Leben lieben – trotz allem.“ Trotz allem das Leben zu lieben, trotz allem zu leben, trotz allem Gott zu loben. Und dann kann uns das neue Leben erreichen. Dann müssen wir nicht alles selbst tragen, sondern dann können wir uns tragen lassen. Dabei gemeinsam Gott loben. Mit dem sanften Joch erneuerter Freiheit. Ruhe finden in Gott. Danach sehne ich mich.
Anders als Weihnachten und Ostern ist Pfingsten nicht so volkstümlich. Da gibt es nicht so viele Bräuche – und nicht so viele Geschenke.
Für die Kirche aber ist Pfingsten ganz zentral. Wir feiern das Wunder der gelungenen Kommunikation.
Die Bibel berichtet in der Apostelgeschichte, dass Jesu Jünger 50 Tage nach Tod und Auferstehung Jesu in Jerusalem beieinander saßen. Dann kam der Geist Gottes kam über sie. Er ließt die Jünger verstehen und erzählen. Erzählen vom Grund ihres Lebens. Vom menschgewordenen, gestorbenen und auferstandenen Gott. Vom neuen Herr ihres Lebens. Von Jesus Christus. Von der Gemeinschaft derer, die sich nach Christus nannten. Der Christinnen und Christen. Aus dieser Gemeinschaft entwickelte sich die Kirche. Deshalb ist Pfingsten das Geburtsfest aller Kirchen.
Pfingsten als Fest der Kirche und des Heiligen Geistes. Verstehen und erzählen. Das Fest der gelungenen Kommunikation ist um so wichtiger in einer Zeit wie heute, die oft von missglückter Kommunikation geprägt ist. Da hilft es, den Heiligen Geist immer wieder neu um das Wunder der geglückten Kommunikation zu bitten. Damit wir verstehen, wovon wir erzählen. Von Gott und den Menschen.
(okay, das Video ist schon ein paar Jahre her. Aber das macht nichts.)
Die 11 Punkte seines „Corona-Panoramas“ auf zeitzeichen.net sind die beste kirchlich-theologische Deutung der Gegenwart, die ich bisher wahrgenommen habe. Ich ertappe mich beim Lesen ständig dabei, „Ja, ja!“ zu sagen. Sowohl bei den Punkten, wo er klug Position zu bekannten Fragen einnimmt. Als auch bei den Punkten, wo er aufmerksam auf vergessene oder verdrängte Fragen hinweist. Und nicht zuletzt bei den Punkten, wo er unaufgeregt auf allzu schnelle Antworten verzichtet. In dieser Richtung will ich auch weiter nachdenken!
Gott und die Welt? Flachwitz oder Heiliger Ernst? Klare Kante oder Kirchendiplomatie? Bernd Tiggemann oder Vicco von Bülow?
Na, irgendwas dazwischen! So heißt der Podcast, an dem Bernd und ich uns versuchen. Wir plaudern über alles, was uns so durch den Kopf geht. Über Gott und die Welt und – eben! – irgendwas dazwischen. Und hoffen, dass jemand zuhört.
Geistliches Wort zum 23. März 2020 auf www.evangelisch-in-westfalen.de:
„Darum tröstet euch untereinander und einer erbaue den andern, wie ihr auch tut.“ (1. Thessalonicher 5,11)
Nehmen wir uns Zeit für einander, für persönliche Gespräche und für konkrete Hilfe. Es ist gut, wenn ich merke, dass ich nicht allein bin, sondern jemand für mich da ist. Und es ist gut, wenn ich für andere da sein kann. So trösten wir uns gegenseitig in unsicheren Zeiten.