Es funktioniert immer. Garantiert. Immer, wenn ich einen Vortrag halte an einem Ort, wo ich vorher noch nicht war. Ich beginne mit dem Satz:
„Vielen Dank, dass Sie mich eingeladen haben. Mein Name ist Vicco von Bülow.“
Und dann:
„Und um die erste Frage zu beantworten…“
Pause. Verblüffte Gesichter: Welche Frage denn? Weiter im Text:
„Ja, aber nur entfernt.“
Gelächter im Publikum.
Es funktioniert immer. Auch 10 Jahre nach Loriots Tod am 22. August 2011. Aber auch heute ist er noch im Bewusstsein vieler Menschen präsent. Erst jüngst hat die Literaturfachzeitschrift „text und kritik“ ihm ein Sonderheft[1] gewidmet. Und die Süddeutsche Zeitung hat gleich ein SZ-extra[2] daraus gemacht. Denn Loriot sei „unvergesslich“. Und tatsächlich: Noch 2018 kannten 92 Prozent der deutschen Bevölkerung Loriot, und zwar sowohl in West wie in Ost.[3]
„Sind Sie mit Loriot verwandt?“[4] Diese Frage kenne nicht nur ich, sondern jede(r), der den Nachnamen von Bülow trägt. Bei mir kommt noch der gleiche Vorname hinzu: „Vicco“ kommt vom skandinavischen „Viggo“ (der Krieger), nicht vom lateinischen Viktor (der Sieger). Aber ich bin nicht nach ihm benannt worden, der Name ist seit dem 15. Jahrhundert in unserer Familie heimisch. Die erste Erwähnung der Bülowschen Familie datiert auf das Jahr 1229,[5] die letzten gemeinsamen Vorfahren von Loriot und mir haben um 1400 gelebt – kirchengeschichtlich gesehen also vorreformatorisch, was eine eher weitläufige Verwandtschaft ergibt. Aber wir haben uns, wie alle Mitglieder unserer weitläufigen Familie, miteinander verwandt gefühlt. Und auf einigen der alle zwei Jahre stattfindenden Familientage haben wir uns persönlich getroffen. Unter den bis zu 200 Bülows war dann auch er, ein netter, freundlicher älterer Herr, offen und gesprächsbereit, völlig unprätentiös und überhaupt nicht eitel.
Auf einem dieser Familientage hat er mir er als Theologen ein besonderes Geschenk gemacht: ein Knollennasenmännchen mit Beffchen und Heiligenschein. Ein Unikat. Ein ganz besonderes Andenken, das ich aber aus Urheberrechtsgründen nicht öffentlich zeigen kann. Seine Knollennasenmännchen waren und sind unverwechselbar. Seine TV-Sketche sind Klassiker schon zu Lebzeiten gewesen, die beiden Herren in der Badewanne, Weihnachten mit Hoppenstedts oder der Lottogewinner Erwin Lindemann (dessen Tochter mit dem Papst eine Herrenboutique in Wuppertal eröffnen wollte). Seine Filme „Ödipussi“ und „Pappa ante portas“ haben gezeigt, dass er auch das große Format „konnte“. Er beherrschte diese verschiedenen Formate meisterlich. Aber seine eigentliche Stärke war die Beobachtung. Sein scharfer Blick für menschliche Charakterzüge verband sich mit einem milden Tadel für diese Schwächen. Zumindest war die Milde sein Mittel, damit seine kritischen Anmerkungen zu der Gesellschaft seiner Zeit von möglichst vielen Mitgliedern dieser Gesellschaft auch wahrgenommen wurde.[6]
Wie so viele in Deutschland und auch in der evangelischen Kirche habe ich seine Sketche, Zeichnungen, Filme, Inszenierungen mit großem Vergnügen gesehen; viele Formulierungen haben sich auch bei mir in den alltäglichen Sprachgebrauch eingeschlichen, zum Beispiel das schlichte „Ach, was?!“. Sein feiner Sinn für die menschlichen Stärken und Schwächen hat vermutlich nicht nur mich dabei immer wieder wie in einen Spiegel schauen lassen.[7] Dass er – anders als so manche(r) andere Comedian – schlechte Witze über Gott und die Kirche unterlassen hat, verstärkt aus meiner Sicht nur das Niveau seines Humors, der nicht nur seiner familiären Herkunft wegen vornehm genannt werden kann. Andere haben seine Grundhaltung auch zutreffend als „gelassen, heiter, verzweifelt“[8] bezeichnet. Von seinen Kollegen wurde er als „Komikklassiker“ (Robert Gernhardt)[9] oder als „beliebtester deutscher Komiker“ (Otto Waalkes)[10] bezeichnet.
Mit 87 Jahren ist er 2011 in einem biblischen Alter gestorben. In Psalm 90,10 heißt es „Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre.“ In seinen letzten Lebensjahren hatte er sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und trat nicht mehr aktiv als Humorist in Erscheinung. Zwei Jahre nach seinem Tod wurden über 400 unveröffentlichte Zeichnungen von Loriot in einer großen „Spätlese“ veröffentlicht. Die als „Nachtschattengewächse“ im Schlussteil des Werks bezeichneten Bilder entstanden in schlaflosen Nächten und sind anders als der Rest, nämlich kubistisch, dadaistisch, verquer und weniger offensichtlich komisch.
Fünf Jahre vor seinem Tod wurde er in einem Streiflicht der „Süddeutschen Zeitung“ dahingehend zitiert, dass er ab und an mit Frau und Freunden über Friedhöfe marschiere und nach einer geeigneten letzten Ruhestätte Ausschau halte. Solches abschiedliche Leben war keineswegs makaber, sondern zeigte die fröhliche Gelassenheit, mit der er dem Tod ins Auge blickte. „Ich glaube“, hat Loriot damals gesagt, „dass der liebe Gott lachen kann“.[11] Auch wenn wir darüber trauern, dass wir nicht mehr mit dem lebenden Loriot lachen können, so können wir uns doch darüber freuen, dass er mit dem lebendigen Gott lachen kann.
[1] Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur IV/21, Nr. 230: Loriot.
[2] SZ-extra „Kultur und Zeitvertreib“ vom 12. Mai 2021.
[3] Vgl. Max Wellinghaus, Loriot. Kleine Anekdoten aus dem Leben eines großen Humoristen, München 2. Aufl. 2018, S. 7.
[4] „‘Sind Sie mit Loriot verwandt?‘ – diesen Satz kennt jede(r) Bülow hierzulande. Die Frage kann immer mit gutem Gewissen bejaht werden.“ Angelika v. Bülow, „Alle Diemirs sind verwandt“, in: Daniel Keel (Hg.), Loriot und die Künste. Eine Chronik unerhörter Begebenheiten aus dem Leben des Vicco von Bülow zu seinem 80. Geburtstag, Zürich 2003, S. 28-30, Zitat S. 28.
[5] Vgl. Daniel Faustmann, unter Mitarbeit von Henning und Detlev Werner von Bülow, Vierzehn Kugeln auf blauem Schild. Die Bülows in der Geschichte, hg. durch den von Bülow’schen Familienverband. Schwerin 2014.
[6] „Das geladene Publikum lacht. Die Ehrengäste aus Politik, Wirtschaft und Kultur lachen. Jeder einzelne glaubt von sich, nicht gemeint zu sein. Wenn sie sich da mal nicht irren.“ Eckhardt Pabst, „Das Bild hängt schief!“ Loriots TV-Sketche als Modernisierungskritik, in: text und kritik (Anm. 1), S. 34-52, Zitat S. 50.
[7] „Er hält unserem Gesprächsverhalten auf komische, überzogene, ja groteske, niemals pädagogisierende Weise den Spiegel vor und zeigt uns das Absurde daran.“ Ulla Fix, Was ist das „Loriot’sche“ an Loriot? Eine Betrachtung seiner „Ehe-Szenen“ aus der Perspektive der kommunikativen Ethik, in: text und kritik (Anm. 1), S. 86-95, Zitat S. 95.
[8] Reinhard Baumgart, Gelassen, heiter, verzweifelt, in: text und kritik (Anm. 1), S. 59-69.
[9] Robert Gernhardt, Klassiker!, in: Daniel Keel (Anm. 4), S. 52-54, Zitat S. 53.
[10] Otto Waalkes, Zum Quietschen schön. Interview mit Susanne Hermannski, in: SZ-extra (Anm. 2).
[11] Vgl. Loriots Antwort im Interview mit Franziska Sperr / Jan Weiler, „Altern ist eine Zumutung“. Ein Gespräch, in: Daniel Keel (Anm. 4), S. 154-177, Zitat S. 172: „Was kommt nach dem Tod? Der Himmel, hoffe ich. Ich habe mir meinen Kinderglauben an den lieben Gott bewahrt. – Wissen Sie, was auf Ihrem Grabstein stehen soll? Zweckmäßig wäre es, wenn der Name darauf stünde.“