Die Jahreslosung für 2020 steht im Markus-Evangelium, im 9. Kapitel, in Vers 24: „Ich glaube; hilf meinem Unglauben.“
Wie passt das zusammen? Glauben und Unglauben in einem Satz? In einer Person? Kann man zugleich glauben und nicht-glauben? Ich nähere mich diesem Paradox, indem ich den Zusammenhang der Jahreslosung ansehe, nämlich die Verse 17 bis 27:
„Einer aber aus der Menge antwortete: Meister, ich habe meinen Sohn hergebracht zu dir, der hat einen sprachlosen Geist.
Und wo er ihn erwischt, reißt er ihn zu Boden; und er hat Schaum vor dem Mund und knirscht mit den Zähnen und wird starr. Und ich habe mit deinen Jüngern geredet, dass sie ihn austreiben sollen, und sie konnten’s nicht.
Er antwortete ihnen aber und sprach: O du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch ertragen? Bringt ihn her zu mir!
Und sie brachten ihn zu ihm. Und sogleich, als ihn der Geist sah, riss er ihn hin und her. Und er fiel auf die Erde, wälzte sich und hatte Schaum vor dem Mund.
Und Jesus fragte seinen Vater: Wie lange ist’s, dass ihm das widerfährt? Er sprach: Von Kind auf.
Und oft hat er ihn ins Feuer und ins Wasser geworfen, dass er ihn umbrächte. Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns!
Jesus aber sprach zu ihm: Du sagst: Wenn du kannst! Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.
Sogleich schrie der Vater des Kindes: Ich glaube; hilf meinem Unglauben!
Als nun Jesus sah, dass die Menge zusammenlief, bedrohte er den unreinen Geist und sprach zu ihm: Du sprachloser und tauber Geist, ich gebiete dir: Fahre von ihm aus und fahre nicht mehr in ihn hinein!
Da schrie er und riss ihn heftig hin und her und fuhr aus. Und er lag da wie tot, sodass alle sagten: Er ist tot.
Jesus aber ergriff seine Hand und richtete ihn auf, und er stand auf.
In meiner theologischen Ausbildung und meiner kirchlichen Praxis habe ich viel erfahren, viel gelernt. Und doch fühle ich mich oft wie die Jünger, von denen am Anfang der Geschichte berichtet wird: „aber sie konnten‘s nicht.“ Da ist es zumindest ein kleiner Trost für mich, wenn ich sehe, dass es den Jüngern, also den Menschen, die täglich mit Jesus zusammen waren, dass es diesen Jüngern ganz ähnlich ging: „sie konnten‘s nicht.“ –
Was konnten sie nicht? Ein Vater bringt seinen Sohn zu ihnen, damit sie den bösen Geist austreiben, der den Sohn befallen hatte. Die Jünger waren nicht unerfahren darin, wie es einige Kapitel vorher im Markus-Evangelium erzählt wird: „Und sie zogen aus und predigten, man solle Buße tun, und trieben viele böse Geister aus und salbten viele Kranke mit Öl und machten sie gesund.“ Sie hatten es also schon gemacht, sie konnten es – grundsätzlich ja. Aber hier: „sie konnten‘s nicht.“ Der Geist, der den Jungen befallen hat, bleibt in ihm.
Nach allem, was man von dem Krankheitsbild erkennen kann, hat der Junge unter dem gelitten, was wir heute Epilepsie nennen würden. – Haben Sie schon einmal einen epileptischen Anfall mitbekommen? Manche dieser Anfälle sind klein, kaum merkbar. Andere zeigen Symptome wie die des Jungen in der biblischen Geschichte: Krampfanfälle, Zuckungen, Schaum vor dem Mund. In der medizinischen Fachsprache heißen solche großen Anfälle „Grand mal.“ Ich habe zu Beginn meines Theologiestudiums einige Monate in einer Wohngruppe für Menschen mit Handicaps gearbeitet. In „meiner“ Wohngruppe lebte auch Sabine, ein Mädchen, das häufig unter Grand mal-Anfällen litt. Alles, was ich als Betreuer in einer solchen Situation tun konnte, war, aufzupassen, dass Sabine ihren Kopf nicht auf den Boden oder gegen Möbel schlug und sich so verletzte. Ansonsten konnte ich nur abwarten, bis der Anfall vorbei war. Mehr nicht.
Als ich mich während der Vorbereitung auf diese Andacht an Sabine erinnert habe, konnte ich den Vater verstehen, wie er seinen Sohn zu den Jüngern bringt, von ihnen auch keine Hilfe erfährt und schließlich vor Jesus steht. Sicherlich enttäuscht: „Andere haben sie heilen können, meinen Sohn nicht!“ Und das macht ihn auch skeptisch gegenüber Jesus. Wenn seine Jünger da nichts tun können, kann Jesus selbst wahrscheinlich auch nichts tun. Es klingt sehr misstrauisch, was der Vater laut dem Bericht im Markus-Evangelium sagt: „Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns!“ Wenn. Jesus nimmt das auf. Der Ausdruck, mit dem er das tut, lautet in der Lutherbibel: „Du sagst: Wenn du kannst…“ Ich verstehe das so: „Was heißt hier: Wenn du kannst…?“
Und dann folgt ein steiler Ausspruch, einer von denen, die in der Lutherbibel immer fettgedruckt sind: „Alle Dinge sind möglich, dem, der da glaubt.“ Puh. Und schon wieder komme ich mir vor, wie jemand, der überhaupt nichts kann. „Aber sie konnten‘s nicht.“
Wenn wirklich alle Dinge möglich sind für den, der glaubt, dann kann es ja mit meinem Glauben nicht so weit her sein. Wenn ich nicht einmal viele der einfachen Sachen kann, geschweige denn die wirklich komplizierten, was ist dann mit meinem Glauben?
Der Vater des epileptischen Sohnes wird ähnlich gedacht haben. Ihm war die Heilung seines Sohnes unendlich wichtig, für den Sohn, aber auch für sich selbst. So sagt er ja auch: „Erbarme dich unser und hilf uns!“
Weil mit der Krankheit ein ungeheurer sozialer Druck verbunden war, ein Druck auf die ganze Familie, auch deshalb war es ihm so drängend, dass sein Sohn geheilt würde. Und in dieser Situation sagt Jesus ihm: „Was heißt hier: Wenn du kannst? Alle Dinge sind möglich, dem, der da glaubt.“ Und was der Vater antwortet, das ist in der Lutherbibel zum Glück auch fettgedruckt: „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ Das kann ich gut verstehen, was der Vater hier sagt. Denn so einfach ist es ja nicht: Entweder Glaube – oder Unglaube.
Das kann ich nachvollziehen, dass es da ein Ineinander von Glaube und Unglaube gibt. „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ Ganz und gar ungläubig ist er nicht, der Vater. Sonst hätte er ja seinen Sohn nicht hergebracht, sonst hätte er seinen Fall ja nicht trotz des Versagens der Jünger noch Jesus vorgelegt. Andererseits: Ganz und gar gläubig ist der Vater auch nicht. Sonst hätte er seinen Sohn ja auch selbst heilen können: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ Diesen Zwiespalt spürt der Vater. Und er bringt ihn zum Ausdruck, ja, er schreit ihn heraus. Schreit: „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ Und Jesus hilft. Er treibt den bösen Geist aus. Der Junge wird noch ein letztes Mal hin und her gezerrt, dann liegt er still am Boden. Wie tot. Doch Jesus ergreift ihn bei der Hand und er steht auf. Er steht auf – aufstehen – auferstehen. Ein kleines Osterfest, was hier geschieht: Leiden an der Krankheit – wie tot – Auferstehung. Eine Ostererfahrung. Eine Ermutigung auch für uns: Ostererfahrungen gibt es nicht nur an Ostern. Es gab sie vorher und es gibt sie nachher.
Auch wir, die wir vielleicht ähnlich wie der Vater zwischen Glauben und Unglauben hin und her pendeln, zwischen Vertrauen und Misstrauen, zwischen Furcht und Zuversicht, auch wir können solche Erfahrungen machen. Natürlich gilt auch für uns, dass wir dafür Hilfe benötigen. In einem der „Ich-bin-Worte“ im Johannesevangelium sagt Jesus von sich selbst: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.“ – Ohne ihn können wir nichts tun. Im Zusammenhang mit der Frage von Glauben oder Unglauben finde ich das entlastend. Es kommt eben doch nicht auf meinen kleinen Glauben, auf meinen Kleinglauben an. Weder kann ich mir – im positiven Sinne – Dinge selbst anrechnen. Noch muss ich – im negativen Sinne – mich selbst belasten, muss mich wegen meines fehlenden Glaubens anklagen, wenn etwas nicht geklappt hat, wenn mir nicht „alle Dinge möglich“ waren.
Wenn Martin Luther sich mit aller Energie gegen die Auffassung gewandt hat, gute Werke führten zum Heil, dann war damit auch gemeint, dass der Glaube nicht zum Heil führt, wenn er als Werk verstanden wird, als etwas, was wir „machen“ können. Glauben ist nichts, was wir „machen“ können, nichts automatisch Vorhandenes, was wir nur noch sozusagen aktivieren müssten, kein Zauberstab, den wir quasi nur noch aus der Schublade holen müssten. Glauben ist und bleibt ein Geschenk. Das ist ein Trost für mich, gerade in den Phasen, in denen ich mich meinem Unglauben näher fühle als meinem Glauben.
Eine Jahreslosung als Trost. Als Zuspruch. Das ist schon mal ein guter Anfang für 2020.