Als X noch Twitter hieß und die Tweets auf 180 Zeichen beschränkt waren, hat die Internet-Seite evangelisch.de die Bibel in Kurznachrichten zusammengefasst („Und Gott chillte“). Die Erzählung 1. Samuel 24 ging dann so:
(1-7) Zufälle gibt’s! Saul ruht sich in einer Höhle aus, in der David sich grade versteckt hält. David schneidet einen Zipfel von Sauls Mantel ab. (8-15) David sagt zu Saul: Höre nicht auf die Leute. Ich hätte dich töten können, tat’s aber nicht. Gott will das nicht und ich bin nicht böse. (16-23) David sprach zu Saul: Der Herr sei der Richter und David soll Recht haben. Saul: Du hättest mich töten können und hast es nicht getan!
Wie jede Zusammenfassung lässt auch diese notwendigerweise wichtige Teile der Erzählung aus. Also muss man den Text selber vollständig lesen, gut eignet sich dafür die Übersetzung der Basis-Bibel. Zum Verstehen bietet es sich an, diesen (langen) Text in Abschnitte zu unterteilen.
Verkehrte Machtverhältnisse
Im ersten Abschnitt spielt die Handlung: Der mächtige König Saul verfolgt den Rebellen David. Als er sich einmal dringend erleichtern muss (die Lutherbibel übersetzt wortwörtlich und etwas verschämt „sich die Füße bedecken“), zieht er sich in eine Höhle zurück. Dort hat sich David mit seiner Truppe versteckt und könnte die Gelegenheit nutzen, als der König die Hosen heruntergelassen hat. Aber David tötet Saul nicht, obwohl ihn seine Leute dazu anstiften. Er schneidet ihm nur ein Stück Kleidung ab.
David lässt Saul jedoch nicht einfach so ziehen, sondern konfrontiert ihn im zweiten Abschnitt mit der Situation. Er hält die längste Rede, die in der Bibel von ihm überliefert wurde und spricht Saul als „mein Herr und König“ an. So präsentiert er sich großmütig als jemand, der Böses tun könnte, es aber nicht tun will. Er schwingt sich nicht zum Richter über den König auf, sondern er überlässt das Urteil Gott. Das verändert alles.
Bei aller Großmütigkeit ist es allerdings schwer vorstellbar, dass Saul das nicht auch als eine Demütigung verstehen musste. David bringt ihn zum Weinen. Und zur Erkenntnis, dass David nicht nur ihm gegenüber im Recht ist, sondern ihm auch als König nachfolgen wird. Saul bleibt im dritten Abschnitt nur noch übrig, ihn vor Gott für seine Familienmitglieder um Gnade zu bitten. So haben sich die Machtverhältnisse umgekehrt. Und alles ohne Blutvergießen.
Großes Kino, diese Geschichte! Weil sie so spannend ist, wurde sie in der Bibel schon zwei Kapitel später (1. Samuel 26) mit leichten Abweichungen erneut erzählt. Weltliteratur, diese Geschichte! Stephan Heym hat sie in seinem Buch „Der König David-Bericht“ aufgenommen.
Aber es geht in ihr nicht nur um Menschlich-Allzumenschliches („Zufälle gibt’s!“). Sondern auch um Gott. Jeder weiß hier, was Gott eigentlich will: Davids Leute behaupten: „Es ist soweit! Das ist der Tag, von dem der HERR zu dir gesagt hat.“ David weiß, wie Gott richten wird: „Der HERR soll Schiedsrichter sein. Er soll mir dir gegenüber zum Recht verhelfen.“ David ist überzeugt, dass Gott sich auf seine Seite stellen wird. Aber er überlässt Gott das Urteil und durchbricht so die Logik der Vergeltung. Und Saul schließlich ist sich sicher, dass Gott ihn in die Hand Davids gegeben hat und dass Gott David dafür mit dem Königtum belohnen wird.
Und Gott? Tut und sagt in dieser Geschichte erst einmal nichts. Kommt als Akteur nicht vor. Hier kommen mir Fragen: Wo lege ich meine (bösen) Gedanken Gott in den Mund? Wann instrumentalisiere ich Gott, indem ich davon ausgehe, dass er mir und nicht dem Anderen Recht geben wird? Wie kann ich zu Gott beten – nicht für mich, sondern für andere?
Wenn ich beim Lesen dieser Geschichte auf mich und meine Mitmenschen schaue, kommen mir ebenfalls Fragen: Sehe ich, dass auch mein Gegner ein von Gott geliebter Mensch ist? Verzichte ich darauf, das zu tun, was ich tun könnte? Schaffe ich es, mich nicht vom Bösen überwinden zu lassen, sondern das Böse mit Gutem zu überwinden (Römer 12,21)? In unserer aktuellen gesellschaftlichen Situation würde es gut tun, wenn mehr Menschen so handeln würden.
Fragen, auf die die Erzählung von Saul und David keine eindeutigen Antworten gibt. Denn sie ist ja in sich selbst nicht eindeutig und verteilt Gut und Böse eben nicht einfach so auf David und Saul. Beide sind – wie alle Menschen – gerecht und sündig, gut und böse zugleich. Ich kann nur hoffen, dass mir das im entscheidenden Moment in meiner Höhle (oder modern gesprochen: „bubble“) auch einfällt. Dass mir Gott einfällt und seine Menschenfreundlichkeit. Und dass der Hass nicht das letzte Wort haben darf.
Andacht zu 1. Samuel 24,1-23 für Unsere Kirche zum 4. Sonntag nach Trinitatis (23. Juni 2024)